In der Geschichte der Gemeinwesenarbeit und Sozialraumorientierung kommt man kaum an diesen beiden Vorreitern vorbei. Beide Settlements werden in dieser Arbeit vorgestellt, verglichen und schließlich ihr Erbe für die moderne Sozialarbeit herausgearbeitet.
Probleme nicht bloß auf der Ebene von einzelnen Individuen zu betrachten und dieses dann im Einzelfall bei der Lösung jener Probleme zu begleiten und zu unterstützen, sondern den Sozialraum und dessen Bewohner*innen und Ressourcen ganzheitlich zu betrachten und zu nutzen, um mögliche Defizite zu minimieren beziehungsweise bestenfalls zu eliminieren, ist handlungsweisend für die Gemeinwesenarbeit. Diese wurde jahrelang fälschlicherweise als die dritte Methode der Sozialen Arbeit klassifiziert, fungiert neben der Individualhilfe und der Sozialen Gruppenarbeit jedoch als drittes Handlungsfeld der Profession Soziale Arbeit. Professionelle im Handlungsfeld Gemeinwesenarbeit wiederum besitzen eine Vielzahl von Methoden, die sie in ihrer täglichen Arbeit anwenden.
Ein Ergebnis aktueller Theoretiker*innen scheinen diese Ansätze und Methoden jedoch nicht zu sein, so lassen sich vermeintlich einige davon bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Teil der von Akademiker*innen ausgehenden Settlement-Bewegung und deren Idealen identifizieren. Die wohl publiksten und bekanntesten Settlements stellen einerseits das erste seiner Art, die Toynbee Hall im Osten Londons, präzisiert im damaligen Armutsviertel Whitechapel, sowie das von Jane Addams in Chicago eröffnete Hull House, dar. Beide gelten als Vorläufer sozialräumlichen Arbeitens, agieren sie doch beide stadtteilbezogen. Dies wirft die Frage auf, wie sich die beiden Settlements unterscheiden und was ihr Erbe für die aktuelle Gemeinwesenarbeit und gar für die Profession Soziale Arbeit ist?
Inhaltsverzeichnis
1.Einleitung
2. Die Toynbee Hall in London
2.1 Der historische Kontext
2.2 Gründungsgeschichte und Motivation
2.3 Konzeption, Ziele und verrichtete Arbeit
3. Das Chicagoer Hull House
3.1 Der historische Kontext
3.2 Gründungsgeschichte und Motivation
3.3 Ziele und verrichtete Arbeit
4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Settlements
4.1 Gemeinsamkeiten der Toynbee Hall und des Hull Houses
4.2 Unterschiede zwischen der Toynbee Hall und dem Hull House
5. Ihr Erbe für die moderne Sozialarbeit
6. Resümee
7. Literaturverzeichnis
Toynbee Hall und Hull House – Zwei Vorreiter der sozialräumlichen Arbeit
1.Einleitung
Probleme nicht bloß auf der Ebene von einzelnen Individuen zu betrachten und dieses dann im Einzelfall bei der Lösung jener Probleme zu begleiten und zu unterstützen, sondern den Sozialraum und dessen Bewohner*innen und Ressourcen ganzheitlich zu betrachten und zu nutzen, um mögliche Defizite zu minimieren beziehungsweise bestenfalls zu eliminieren, ist handlungsweisend für die Gemeinwesenarbeit (vgl. Oelschlägel 2001, S. 653). Diese wurde jahrelang fälschlicherweise als die dritte Methode der Sozialen Arbeit klassifiziert, fungiert neben der Individualhilfe und der Sozialen Gruppenarbeit jedoch als drittes Handlungsfeld der Profession Soziale Arbeit. Professionelle im Handlungsfeld Gemeinwesenarbeit wiederum besitzen eine Vielzahl von Methoden, die sie in ihrer täglichen Arbeit anwenden (vgl. Hinte 2018, S. 206).
Ein Ergebnis aktueller Theoretiker*innen scheinen diese Ansätze und Methoden jedoch nicht zu sein, so lassen sich vermeintlich einige davon bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Teil der von Akademiker*innen ausgehenden Settlement-Bewegung und deren Idealen identifizieren. Die wohl publiksten und bekanntesten Settlements stellen einerseits das erste seiner Art, die Toynbee Hall im Osten Londons, präzisiert im damaligen Armutsviertel Whitechapel, sowie das von Jane Addams in Chicago eröffnete Hull House, dar. Beide gelten als Vorläufer sozialräumlichen Arbeitens, agieren sie doch beide stadtteilbezogen (vgl. Biesel 2007, S. 21 und S.29). Dies wirft die Frage auf, wie sich die beiden Settlements unterscheiden und was ihr Erbe für die aktuelle Gemeinwesenarbeit und gar für die Profession Soziale Arbeit ist?
Dieser Frage soll nun im Folgenden nachgegangen werden, basierend auf vorangegangener Literaturrecherche. Dafür werden zunächst einmal beide Settlements separiert voneinander durchleuchtet. Es erfolgt eine Einordnung in den jeweiligen historischen Kontext, danach wird die Gründungsgeschichte der Toynbee Hall beziehungsweise des Hull Houses untersucht, sowie die Motivation und Prägungen der entsprechenden Gründer*innen. Anschließend sollen die Angebote beider Settlements analysiert werden. Nach der Vorstellung beider soll der Vergleich erfolgen. Hierzu werden erstmal die Gemeinsamkeiten herausgearbeitet, anschließend erfolgt die Ausarbeitung der Differenzen. Zum Schluss soll dann reflektiert werden, welche Ansätze der Arbeit in den Settlements und welche Ideen der Bewohner*innen auch im heutigen Diskurs nicht an Bedeutung verloren haben und immer noch angewendet beziehungsweise diskutiert werden.
2. Die Toynbee Hall in London
1884 öffnete der anglikanische Geistliche Samuel Barnett gemeinsam mit seiner Ehefrau Henrietta die Pforten des Gemeindehauses in Whitechapel, einem Elendsviertel im Osten der britischen Hauptstadt. Es zogen Studenten der renommierten Universität Oxford ein, die somit das erste Settlement begründeten, welches „Toynbee Hall“ getauft wurde (vgl. Wendt 2017, S. 341). Im Folgenden wird nun genauer der historische Kontext und das Hilfesystem vor der Gründung der Toynbee Hall, die Gründungsgeschichte, Motivation und Wertvorstellung der Settlementbewohner*innen sowie das (sozialarbeiterische) Schaffen beleuchtet.
2.1 Der historische Kontext
1795 entwarfen englische Friedensrichter ein System der Armenvorsorge beziehungsweise einer Armenkasse, welches den 1601 verabschiedeten elisabethanischen „Act for the Relief of the Poor“ ablöste und somit auch der Klassifizierung von Menschen in arbeitsfähig und arbeitsunfähig die Notwendigkeit nahm (vgl. Wendt 2017 S.101). Das neu entworfene System stellte einen drastischen Wechsel in der Armutsfürsorge des Vereinigten Königreichs dar, da das alte System der Konfrontation mit den aus der Industrialisierung hervorgegangen gesellschaftlichen Umstrukturierungen, dem massiven Wachstum einer von Armut betroffenen Bevölkerungsschicht sowie das Aufkeimen des Pauperismus nicht gewachsen war (vgl. Biesel 2007 S. 21f). Ergebnis der Friedensrichterverhandlung war es, dass ein bestimmter Betrag festgelegt wurde, welcher sich am Brotpreis orientierte und jedem „poor and industrious man“ (Wendt 2017 S.101) zustand. Dieser konnte entweder durch eigenes Einkommen erwirtschaftet werden, oder wurde durch die Armenkasse, welche durch Steuergelder gefüllt wurde, bezuschusst beziehungsweise gänzlich ausgezahlt (vgl. ebd.). Zudem erhielten Bedürftige diesen Zuschuss nur dann, wenn sie an ihrem Wohnort blieben (vgl. Wendt 2017, S.103). Rückblickend war dieser Vorläufer der Sozialhilfe zu Scheitern verurteilt, denn er schuf keine neuen Arbeitsplätze, limitierte die räumliche Migration potenzieller Arbeitskräfte und übte keinerlei Druck auf die Arbeitgeber aus, den Lohn zu erhöhen, bekam doch jede Arbeitskraft zwangsläufig den festgelegten Minimalbetrag (vgl. ebd.).
Kritik am Speenhamlandsystem wurde vor allem von den Liberalen geübt, da ihrer Meinung nach die Fürsorge gegen ihren Grundsatz der Selbstsorge verstoße. Bestätigt sahen sie sich in ihrer Kritik aufgrund der steigenden Armenpflegekosten in Verbindung mit geringerer Arbeitsproduktivität (vgl. Wendt 2017, S.103). Daher diktierten die Liberalen unter dem Einfluss der Theorien des Sozialphilosophen Malthus 1834 den „Poor Law Amendment Act“. Dieser setzt die öffentliche Armenhilfe faktisch außer Kraft, eine Unterstützung außerhalb der „workhouses“ sollte nicht mehr stattfinden (vgl. Biesel 2007S.22). Ziel dieser Armenhäuser war es, die Bedingungen für Bedürftige möglichst schlecht zu halten, um so Inanspruchnahmen der öffentlichen Hilfen möglichst zu minimieren (vgl. Wendt 2017, S. 276).
Auch die private Fürsorge vertrat ähnliche Auffassung bezüglich der Würdigkeit von Menschen, Armenhilfe zu empfangen. So gab es im viktorianischen Britannien eine Vielzahl von Wohltätigkeitsvereinen (Charities), welche sich 1869 zur „Charity Organisation Society“(COS) zusammenschlossen und fortan Case Work betrieben und vor allem prüften, ob die Armen der monitären Hilfe würdig waren (vgl. Wendt 2017 S. 299, 305, 307).
2.2 Gründungsgeschichte und Motivation
Mitte des 19. Jahrhunderts keimte ebenfalls der Sozialidealismus auf. So appellierte der Schotte Thomas Carlyle im Kampf gegen den immer noch vorherrschenden Pauperismus an die Aristokraten und Wohlhabenden, sich deren Verantwortung gegenüber dem Ergehen der Bevölkerung zu verinnerlichen und zu übernehmen. Des Weitern kritisiert Carlyle vehement das unmoralische Verhalten der Besitzenden, sprich den Materialismus sowie die Maximierung von Kapital und Vermögen, zu Lasten der unteren Bevölkerungsschichten (vgl. Wendt 2017, S. 336). John Ruskin, ein Schüler Carlyles getrieben von romantischen Idealen, betonte immer wieder den deutlichen Vorrang von schöpferischem Leben vor Besitztümern und kritisierte das Bedürfnis der Menschen, ihre Gewinne vor allem Anderen maximieren zu wollen, auf schärfste. Ähnlich wie sein Lektor setzt Ruskin sich somit für eine Änderung beziehungsweise Erneuerung der Lebensführung, geleitet von ethischen Maximen, ein (vgl. Wendt 2017, S.337).
Anhänger Carlyles und Ruskins war auch der Lektor für politische Ökonomie an der Universität Oxford, Arnold Toynbee. Toynbee besuchte öfters das Elendsviertel Whitechapel in London und war ein Vertreter des „University Extension Movements“, einer Bewegung, deren Ziel es war, Bildung breiten Teilen der Bevölkerung zugänglich zu machen (vgl. Wendt 2017, S. 340). Dadurch kannte Toynbee auch den Vikar Samuel Barnett und seine Frau Henrietta, welche beide schon für die COS tätig waren. So waren in Barnetts Pfarrhaus des Öfteren Student*innen anzutreffen, deren Anliegen es, ähnlich wie die von Toynbee, waren, persönliche Beziehungen zu den Bewohners Whitechapels aufzubauen, ihnen Bildung zu vermitteln und ihr Leid zu teilen (vgl. Wendt 2017, S.341).
Diese inspirierten Barnett eine Universitätsniederlassung mitten in Londons Osten zu gründen, die als Universität für die Arbeiterklasse fungieren sollte. In dem die Dozent*innen und Student*innen in einem vertrauten und freundschaftlichen Verhältnis zusammen mit den ärmlichen Bewohnern leben und lernen, sollen sie, ganz im Sinne Carlyles und Ruskin, (soziale) Ungleichheiten ein wenig beseitigen. Die Idee wurde in Oxford diskutiert und ein Verein wurde gegründet, welcher Spenden sammelte um eine geeignete Örtlichkeit in Whitechapel zu finanzieren. So zogen 1884 in Barnetts Gemeindehaus 16 Student*innen ein, welche fortan eine Einrichtung bildeten, die nach ihrem kürzlich verstorbenen Vordenker Arnold Toynbee benannt war, der Toynbee Hall. Es beginnt das Settlement Movement (vgl. Wendt 2017, S. 341).
2.3 Konzeption, Ziele und verrichtete Arbeit
Die Toynbee Hall formulierte als Zielsetzung, eine Brücke zwischen den Armen und den reicheren und bürgerlichen „Settlers“ schlagen zu wollen und somit eine Erneuerung des Geistes herbeizuführen (vgl. Landhäuser 2009, S. 33). Demnach richtete sich die Arbeit der Bewohner der Toynbee Hall auf den Sozialraum der Bewohner Whitechapels aus. Ganz im Sinne des „University Extension Movements“ fungierten Kultur, Bildung und Erziehung hierbei als Prämissen für die Settlementworker (vgl. Biesel 2007, S.24).
Konträr zum System der COS, sollten die Bedürftigen nicht betteln und sich einer Würdigkeitsprüfung unterziehen, sondern die wohlhabenden Residents fügten sich dem System der Notleidenden und teilten mit ihnen ihre Kultur, Bildung und Zivilität (vgl. Wendt 2017, S. 341). Die Residents und die Barnetts wollten den Armen nicht ihr Selbstwertgefühl nehmen, wie es bei der COS oft der Fall war, ganz im Gegenteil. Unter Hinzunahme eines Empowermentansatzes versuchten sie die ärmeren Teile der Bevölkerung zu befähigen, ihre Selbsthilfekräfte zu aktivieren beziehungsweise zu stärken. Zudem wurden Sozialreformen vorangetrieben, die dafür sorgen sollten, die Ausgrenzung, welche die benachteiligten Bewohner*innen erfahren mussten, abzumildern (vgl. Biesel 2007, S. 25).
Ein wirtschaftlicher Umbruch hin zur Schaffung neuer, gut bezahlter Arbeitsplätze konnte nicht erreicht werden, dennoch machten sich die Residents für alle Belange der Bürger*innen stark, auch auf politischer und ökonomischer Ebene. So unterstützten sie aktiv Lohnkämpfe, sowie Kampagnen gegen Mietwucherei und jene zur Förderung verbesserter sanitärer Anlagen und hygienischeren Bedingungen. Zudem ermunterten sie die Bewohner*innen zu aktivem politischen Handeln, emanzipierten sie und bemühten sich um deren Partizipation (vgl. Biesel 2007, S. 26).
Das Angebot der Toynbee Hall war äußerst vielfältig und zielte stets darauf auf ab, dass das Bürgertum mit den Pauper*innen in Dialog trat. Es gab Bildungs- und Kulturangebote, Kunstausstellungen, sowie Vortragsabende und Schulungen. Zudem wurden diverse Klubs gegründet, die fortan eigenständig agierten. Diese zielten sowohl auf die körperliche Betätigung, wie zum Beispiel der Wander- oder der Fußballklub, als auch auf kulturelle Weiterbildung ab, nennenswert sind hier beispielsweise der Reise- oder der Literaturklub (vgl. Wendt 2017. S. 342).
Im Laufe der Zeit entstanden außerdem noch mehrere Gesellschaften, wie zum Beispiel die Shakespeare-Gesellschaft. Auch sozialräumliche Veränderungen wurden angestrebt und die soziale Infrastruktur wurde verbessert. So konnte unter Zunahme von Spenden eine Kunstgalerie in Whitechapel errichtete werden, es wurden Spielplätze für Kinder erbaut und Jugendtreffs errichtet (vgl. Wendt 2017. S.343).
Methodisch wurde im Settlement recht breit gearbeitet, auch wenn den Settlers dies nicht so bewusst war. So fand neben Gruppenarbeit, Individualhilfe und natürlich gemeinwesensbezogener Sozialarbeit auch Supervisionssitzungen statt, da die Barnetts die Bewohner*innen der Toynbee Hall regelmäßig bezogen auf ihr Handeln mit den Nachbar*innen und sonstigen Problemsituationen berieten (vgl. Biesel 2007, S.26).
Für ihre Unterkunft im Sozialraum der Hilfebedürftigen mussten die Residents selber aufkommen. Ihren Wirkungsgrad richteten die Settlers auf den Stadtteil Whitechapel aus. Obendrein verstanden sie sich als Nachbar*innen, welche unter Zunahme sozialer, kultureller, materieller und persönlicher Ressourcen der Spaltung der Gesellschaft und der sozialen Ungleichheit Einhalt gebieten. Somit verstanden sie sich keinesfalls als professionelle Helfende oder Retter*innen von Hilfebedürftigen (vgl. Biesel 2007, S.27).
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- Quote paper
- Staatlich anerkannter Sozialarbeiter/Sozialpädagoge (B.A.) Tim Winkelmann (Author), 2020, Toynbee Hall und Hull House. Zwei Vorreiter der sozialräumlichen Arbeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1139585
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