»Die Europäische Stadt transzendiert die Gegenwart in beide Richtungen:
durch die Präsenz von Geschichte und durch das Versprechen auf eine offene
Zukunft« (Siebel (2004a) 14).
Wenn Walter Siebel von der Europäischen Stadt schreibt, meint er damit nicht (nur) Paris, Potsdam oder Prag. »Europäische Stadt« ist für ihn ein konzeptioneller Oberbegriff, eine Art Dach, das über den einzelnen europäischen Städten gebaut ist und das diese von den Städten anderer Kontinente unterscheidet. Aber was ist eigentlich die Europäische Stadt?
Ist sie ein bauliches Modell, Utopie, historische Idee? Dieser Text wird sich mit dieser Frage befassen und zunächst eine inhaltliche Füllung des Begriffs »Europäische Stadt« unternehmen.
Hierzu wird in Kapitel II. die Kategorie der »Europäische Stadt« auf theoretischem Wege mithilfe Max Webers methodischem Weg der Idealtypenbildung präzisiert.
Sofern dann die Europäische Stadt dann hinreichend beschrieben ist, lässt sich weiter fragen: Wenn in Europa solche, wie auch immer gearteten Europäischen Städte zu finden sind – was macht Europa dann damit? Weiß Europa überhaupt um die Besonderheit seiner Städte? Fördert Europa die Städte oder stehen europäische politische Vorhaben und Ziele gar in Widerspruch zu deren Bedürfnissen?
Um auf diese Fragen Antwort zu geben, sind zwei weitere, empirisch ausgerichtete Schritte zu gehen. Hierbei wird untersucht, ob – und, falls ja: wie – sich die europäische Politik – das heißt im konkreten: das Agieren der Europäische Union, speziell im Hinblick auf das Handeln der Europäischen Kommission als initiierender Akteur – auf die Europäischen Städte auswirken. Kapitel III. wird sich dabei mit Politikfeldern befassen, auf denen die
dysfunktionale Implikationen der europäischen Politik beobachtbar sind. Kapitel IV. hingegen wird sich den förderlichen Auswirkungen widmen und zeigen, wo die EU ihre Städte unterstützt. In einem abschließenden Fazit in Kapitel V. wird es dann möglich sein, eine Antwort auf die im Titel formulierte, Leitfrage – »Die Europäische Union und ihre Städte – Stiefkinder oder Ecksteine?« – zu geben.
Gliederung
I. Die Europäische Union und ihre Städte – Einführung
II. Die Europäische Stadt – Leitbild, Mythos, Idealtyp?
II.1. Die antike pólis – Archetyp der Europäischen Stadt
II.2. Die Stadt im Mittelalter – Mauer, Markt und Rathaus
II.3. Die moderne Stadt – Expansive Leistungsund Versorgungsstadt
II.4. Die Europäische Stadt der Postmoderne – Anonymität und Nachhaltigkeit
II.5. Fazit: Der Idealtyp »Europäische Stadt
III. Die europäischen Städte – Stiefkinder der EU?
III.1. Die (Stadt-)Bürgerschaft in der Europäischen Union – Vote und Voice
III.2. Kompakte Stadt vs. Europäische Stadtregionen
III.3. Kommunale Daseinsvorsorge vs. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse
III.4. Europäische Städte im dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt
III.5. Europäische Städtepolitik – ein Widerspruch an sich?
IV. Subsidiarität oder Substitution?
IV.1. Ein Städtenetz in Europa?
IV.2. Öffentliche Stadt und Informationsgesellschaft
IV.3. Qualität statt Quantität – Schrumpfung in den europäischen Städten
IV.4. Umweltbewusstsein und Lebensqualität – Stadtökologie in Europa
IV.5. Stadtfunktionen in Europa – Sensibilität und Unterstützung
V. Conclusio
VI. Bibliographie .
I. Die Europäische Union und ihre Städte – Einführung
»Die Europäische Stadt transzendiert die Gegenwart in beide Richtungen: durch die Präsenz von Geschichte und durch das Versprechen auf eine offene Zukunft« (Siebel (2004a) 14).
Wenn Walter Siebel von der Europäischen Stadt schreibt, meint er damit nicht (nur) Paris, Potsdam oder Prag. »Europäische Stadt« ist für ihn ein konzeptioneller Oberbegriff, eine Art Dach, das über den einzelnen europäischen Städten gebaut ist und das diese von den Städten anderer Kontinente unterscheidet. Aber was ist eigentlich die Europäische Stadt? Ist sie ein bauliches Modell, Utopie, historische Idee? Dieser Text wird sich mit dieser Frage befassen und zunächst eine inhaltliche Füllung des Begriffs »Europäische Stadt« unternehmen. Hierzu wird in Kapitel II. die Kategorie der »Europäische Stadt« auf theoretischem Wege mithilfe Max Webers methodischem Weg der Idealtypenbildung präzisiert.
Sofern dann die Europäische Stadt dann hinreichend beschrieben ist, lässt sich weiter fragen: Wenn in Europa solche, wie auch immer gearteten Europäischen Städte zu finden sind – was macht Europa dann damit? Weiß Europa überhaupt um die Besonderheit seiner Städte? Fördert Europa die Städte oder stehen europäische politische Vorhaben und Ziele gar in Widerspruch zu deren Bedürfnissen?
Um auf diese Fragen Antwort zu geben, sind zwei weitere, empirisch ausgerichtete Schritte zu gehen. Hierbei wird untersucht, ob – und, falls ja: wie – sich die europäische Politik – das heißt im konkreten: das Agieren der Europäische Union, speziell im Hinblick auf das Handeln der Europäischen Kommission als initiierender Akteur – auf die Europäischen Städte auswirken. Kapitel III. wird sich dabei mit Politikfeldern befassen, auf denen die dysfunktionale Implikationen der europäischen Politik beobachtbar sind. Kapitel IV. hingegen wird sich den förderlichen Auswirkungen widmen und zeigen, wo die EU ihre Städte unterstützt. In einem abschließenden Fazit in Kapitel V. wird es dann möglich sein, eine Antwort auf die im Titel formulierte, Leitfrage – »Die Europäische Union und ihre Städte – Stiefkinder oder Ecksteine?« – zu geben.
II. Die Europäische Stadt – Leitbild, Mythos, Idealtyp?
»Das Wort pólis mit all seinen Derivaten hatte ursprünglich die Stadt bezeichnet, die griechische Stadt; aber dann auch alles, was am städtischen Zusammenleben Besonderes zu bemerken war – im Unterschied zum Leben auf dem Lande, aber auch im Unterschied zu den häuslichen Angelegenheiten der Stadt und damit auch im Unterschied zu den Dörfern, die nur aus Häusern gebildet sind [...]. Auf Größenverhältnisse, auf die Zahl der Beherrschten kam es dabei nicht an; vielmehr nur auf die Realisierung der besonderen Eigenarten städtischen Zusammenlebens« (Luhmann (2000) 7).
Der erste Satz aus Niklas Luhmanns »Die Politik der Gesellschaft« ist bemerkenswert – bemerkenswert in erster Linie, aufgrund der engen Verbindung, die Luhmann zwischen der antiken pólis und all den, heute mit dem Wort »Politik« verbundenen, Konnotationen knüpft. Ferner benennt er bereits zahlreiche Aspekte, die für die inhaltliche Füllung des Begriffs »Europäische Stadt« hilfreich sind und die die Analyse der Europäischen Stadt, ihres Ursprungs und ihrer »differentia specifica« orientieren können.
Niklas Luhmann bezieht sich in dem oben stehenden Zitat insbesondere auf das, »was am städtischen Zusammenleben Besonderes zu bemerken war« (Luhmann (2000) 7). Dieser erste Hinweis ist wichtig, denn offensichtlich gibt es besondere, hervorstechende Merkmale der Europäischen Stadt. Und das eröffnet zugleich eine Möglichkeit, den methodischen Weg zu wählen. Die Idee dieses Textes ist nämlich, wie in der Einleitung dargelegt, eine Analyse der europäischen Strukturen und Politiken hinsichtlich ihrer Implikationen für die europäischen Städte. Dafür ist es selbstredend erforderlich, zunächst einmal den hier verwandten Begriff von »Europäischer Stadt« zu bestimmen.
Grundsätzlich kann man die Europäische Stadt als ein Leitbild, als theoretische Konstruktion auffassen, dem – respektive der – manifeste Städte in Europa mehr oder minder nahe kommen. Insofern liegt es nahe, Max Webers Vorstellung sozialwissenschaftlichen Arbeitens zugrunde zu legen und die Europäische Stadt zunächst idealtypisch zu bestimmen. Dabei kommt es, in Anlehnung an Webers Konzeption, auf Konstellation an, in der sich jene [...] ›Faktoren‹, die als wichtige Aspekte der Europäischen Stadt identifiziert werden können zu einer geschichtlich für uns bedeutsamen Kulturerscheinung gruppiert vorfinden (vgl. Weber (1904) 174). Das führt, kurz gesagt, zu Idee der »Europäische[n] Stadt als Stadttypus, [als] [...] Kennzeichnung für eine Stadtgruppe, die nicht nur geographisch als europäische Städte, sondern typologisch als Europäische Stadt bestimmt ist« (Rietdorf (2001) 2).
Interessant ist zunächst, welche bedeutsamen Aspekte konkret als idealtypische Bestandteile gelten können. »Nur diejenigen Ursachen, welchen im Einzelfalle › wesentliche ‹ Bestandteile eines Geschehens zurechenbar sind, greifen wir heraus« (Weber (1904) 178). Dies bildet dann die Grundlage für die Konstruktion »eine[s] Idealtypus. Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandener, Einzel erscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedanken bilde.« (ebd. 191). Aber wie kann diese Konstruktion gelingen?
Grundsätzlich ist zu bedenken, dass die Europäische Stadt kein kurzzeitiges Phänomen ist. Vielmehr »[stehen] hinter der Europäischen Stadt [...] zweitausend [...] Jahre an geschichtlicher Tradition« (Schlögel (2001) 23). Aber auch historische Entwicklungen lassen sich, so Max Weber, bei der Idealtypenkonstruktion nutzen (vgl. Weber (1904) 203). Insofern kann der Idealtyp »Europäische Stadt« wie folgt gebildet werden: Die bedeutsamen Eigenarten werden schrittweise identifiziert. Die europäische Stadtgeschichte wird in vier charakteristische Epochen eingeteilt; dabei werden jeweils die Eigenarten des entsprechenden Erscheinungsbildes destilliert. Diese Einzelaspekte können dann schließlich zu einem Idealtypus »Europäische Stadt« zusammengeführt werden.
Aber auch welche Epochen soll der Blick dabei gerichtet werden? Das obige Zitat Niklas Luhmanns gibt bereits einen ersten Hinweis. Dort nämlich gilt die antike pólis als »ursprünglich«, und demnach wird der Ausgangspunkt der Idealtypenbildung bei den griechischen Städten liegen. Die zweite Epoche wird das Mittelalter sein, denn die » mittel europäische Stadt existiert gerade mal 1000 Jahre [...]; seit dem elften Jahrhundert« (Siebel (2004a) 11). Das »Stadtmodell der funktionalistischen Moderne« (Jessen (2004) 92) wird als dritte Kategorie herangezogen – es ist an dieser Stelle allerdings darauf hinzuweisen, dass die Stadt im Humanismus, in der Reformationszeit, in absolutistischen, aufklärerischen und napoleonischen Zeiten ebenfalls interessante Perspektiven bietet. Der abschließende Blick gilt allerdings jener Zeit, die man gemeinhin als Postmoderne kennzeichnet, und auch hier so]llen die beobachtbaren Eigenarten der Europäischen Stadt herausgearbeitet werden.
II.1. Die antike pólis – Archetyp der Europäischen Stadt
»Wir sehen, dass jede [pólis] eine Gemeinschaft darstellt und jede Gemeinschaft um eines bestimmten Gutes willen besteht [...]« (Pol. 1252a1).
Als Ursprung der Europäischen Stadt wird, wie bereits angedeutet, gemeinhin die antike pólis benannt. Diese jedoch hat eine doppelte Vorbildfunktion zu erfüllen. Sie ist Wurzel der europäischen Stadtentwicklung und zugleich auch Vorbild für politische Gemeinwesen jenseits kommunaler Grenzen – vor allem hinsichtlich deren Organisation und Verfassung.
Da die antiken Städte jedoch ubiquitäre Merkmale einer Stadt, wie sie beispielsweise Max Weber in »Wirtschaft und Gesellschaft« beschrieb[1] aufweisen, können sie zweifellos zur Konstruktion des Idealtypus »Europäische Stadt« herangezogen werden.
Die augenscheinlichste Eigenart der antiken Stadt ist ihr normativer Charakter: Die pólis ist keineswegs bloß schlichte Ansammlung von vielen Gebäuden und Menschen, nicht nur das, was man ganz basal als »Stadt« auffasst. Sie ist jener Ort, an dem der Mensch – von Aristoteles als auf das Leben in Gemeinschaft angewiesen bestimmt[2] – sein höchstes Ziel, das gute, selbstgenügsame Leben (»eu zên«) das auf der Glückseligkeit des Menschen (»eudaimonia«[3] ) aufruht, erreichen kann. Die pólis erlaubt erst ein Leben gemäß der »zweitbesten Lebensform«, eben das politische Leben. Sie setzt sich dabei aus jenen Einrichtungen, die zur Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse dienen, den Häusern (»oikoi«), respektive einer Mehrzahl von zu Dörfern (»kômê«) zusammengesiedelten Häusern, zusammen, [4] befriedigt allerdings jenseits dieser elementaren Bedürfnisse noch mehr: Sie allein ermöglicht das öffentlich-politische Leben und zugleich wird dort erst das selbstgenügsames Leben, »was man Autarkie nennt« (EN 1177a27 ),[5] möglich.
Neben der Autarkie gründet sich die Stadt ferner auf den Grundsatz der Selbstbestimmung (»Autonomie«) – und hier finden sich die entscheidenden Wurzeln der Europäischen Stadt . Die Autonomie verweist nämlich auf zwei Aspekte, die wir – zumindest aus bundesdeutscher Sicht – unmittelbar mit dem Begriff »Stadt« verbinden: Zum einem auf die Selbstverwaltung, das Recht auf »[Regelung] alle[r] Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft« (GG Art. 28 II). Zum zweiten impliziert kommunale Autonomie auch, dass sich die Stadt auf die Selbstund Mitbestimmung ihrer Bewohner gründet: Der Stadtbewohner ist also politischer Bürger, »›homo politicus‹,[6] der […] sich im ›Verein‹ mit anderen aktiv der ›res publica‹ annimmt« (Heinelt (1998) 100).[7] Als dritter politischer Aspekt ist schließlich die Ordnung des Gemeinwesens anzuführen, denn in der antiken Stadt wurde sowohl die Grundlage der konstitutionellen Entwicklung in den europäischen Staaten gelegt – man denke an Aristoteles’ Konzeption von Demokratie oder Monarchie; gleichsam war die pólis als kommunale Körperschaft »verfasst«. Von Aristoteles als »Ordnung des Staates« (Pol. 1278a9) gekennzeichnet, legte die Verfassung die »Spielregeln« des Zusammenlebens in der städtischen Gemeinschaft fest.
Neben diesen politischen Charakteristika ist in der Antike schließlich ein weiteres Phänomen zu beobachten, dass bis heute überdauert hat: die Vernetzung der Städte. Die Europäische Stadt schlechthin ist nie eine isolierte Körperschaft gewesen. Vielmehr standen die Städte Europas stets im Austausch miteinander, waren Konkurrenten, Partner und Vorbilder – was die Idee der Städtepartnerschaft auch heute noch zum Ausdruck bringt.
Wenn also die antike pólis als Ursprung der Europäischen Stadt gelten kann und sich der vorliegende Text insofern bei der Idealtypenbildung auf die bemerkenswerten antiken Eigenarten berufen möchte, so sind an dieser Stelle zusammenfassend folgende Charakteristika zu nennen: Die Europäische Stadt ist – in gewissem Sinne – eine autonome Körperschaft; sie ist ein geordnetes Gebilde und ist nicht von einem willkürlich-gleichgültigen Nebeneinanderherleben, -wirtschaften und -bauen ihrer Bewohner gekennzeichnet. Ferner gründet sie sich auf eine Bürgerschaft, die politisch aktiv ist und sich mit den Angelegenheiten des Gemeinwesens auseinandersetzt. Vierte Eigenart ist die urbane Vernetzung, das heißt, der Austausch zwischen den Städten, der bis heute gepflegt wird und wesentlich dazu beiträgt, dass die europäischen Städte heute so sind, wie sie sind.
II.2. Die Stadt im Mittelalter – Mauer, Markt und Rathaus
»Die Stadt des Okzidents, in speziellem Sinne aber die mittelalterliche [...], war nicht nur ökonomisch Sitz des Handels und Gewerbes, politisch Festung, [...], administrativ ein Gerichtsbezirk, und im übrigen eine schwurgemeinschaftliche Verbrüderung « (Weber (1922) 25).
Will man die Europäische Stadt idealtypisch erfassen, genügt es selbstredend nicht, sich auf die antike Tradition zu berufen. Eine ebenso wichtige Etappe der Stadtentwicklung stellt das Mittelalter dar. Wie Weber in obigem Zitat deutlich macht, ist dabei vor allem die Multifunktionalität der Stadt relevant: »Weber benennt fünf Merkmale, die in ihrer Summe die Einzigartigkeit der Europäischen Stadt begründen: der Markt als ›tauschwirtschaftliches Gegenbild‹ zu den geschlossenen Kreisläufen der Selbstversorgungswirtschaft, die Stadtbürgerschaft als freiwilliger Zusammenschluss Einzelner [...] und darauf aufruhend: eigene Gerichtsbarkeit, Selbstverwaltung und schließlich Befestigung« (Siebel (2004a) 11).
Die dergestalt bestimmte – und von Weber als »okzidental«[8] betitelte – Stadt ist im Vergleich zur antiken pólis teilweise eine Weiterentwicklung und hinsichtlich der okzidentalen Geschichte[9] letztlich die »Keimzelle der Moderne« (Siebel (2004a) 11). Folgende Charakteristika sind hier zu explizieren: Die okzidentale Stadt ist ein ökonomischer Ort, der sich aus Produzenten, Konsumenten und Händlern konstituiert. Wenngleich auch die antike Stadt Marktort war, so trifft der ökonomische Wesenszug doch in weitaus höherem Maße auf die mittelalterliche Stadt zu[10], deren Zentrum das »Ensemble von Rathaus, Markt und Kirche« (ebd. 16) bildete. Der Markt ist dabei in mehrerlei Hinsicht Symbol: Er steht für die erwerbswirtschaftliche Betätigung der Bewohner, welche meist Handwerker, aber auch Kaufleute waren.[11] Ferner symbolisiert der Markt die Stadt als rationales, sich auf Arbeitsteilung gründendes Gebilde.[12] Schließlich zeigt sich anhand der »Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit« (ebd. 14), anhand der Dichotomie von öffentlichem Raum und privater Sphäre, eine weitere Eigenart des urbanen Lebens: Es ist in weiten Teilen öffentlich.
Webers zweites Merkmal, die Stadtbürgerschaft, lässt sich bereits in der Antike verorten; dennoch ist die Idee der mittelalterlichen Stadtbürgerschaft eine andere: In der Antike beobachtet Weber »im Akt des Synoikismos« (Weber (1922) 113) einen »Zusammenschluss von Geschlechtern, die mit der Exklusivität ihrer Kulte die Abgrenzung zu den Nicht-Adligen aufrecht erhalten hätten« (Weber (1922) 113). Weber verweist damit auf eine »elitäre« Bürgerschaft, die von den »Alltagssorgen« entlastet ist.[13] Die »mittelalterliche conniuratio« (ebd. 114) hingegen rekurriert auf eine Bürgerschaft, die sich auch und gerade aus der arbeitenden Bevölkerung – organisiert in Zünften und Gilden – bildet.
Gerichtsbarkeit und Selbstverwaltung sind der mittelalterlichen Stadt ebenso eigen, wie der pólis. Dennoch sieht Weber in der erstgenannten eine, »wenn auch in verschiedenem Maße, autonome und autokephale [14] anstaltsmäßige Vergesellschaftung einer aktiven »Gebietskörperschaft«« (Weber (1922) 25). Die Stadt des Mittelalters ist entsprechend weniger normativ als Ort des guten Lebens zu fassen, sondern wertneutral insbesondere als Verband vergesellschafteter Interessen« (vgl.: ebd. 26).[15]
Die Stadtbefestigung erscheint heute obsolet – verweist sie doch auf den Wehrverbandscharakter der Stadt. Gleichwohl kann sie symbolisch insofern interpretiert werden, als dass sie die Grenze der Stadt manifestiert: »Das von Mauer, Wall und Graben betonte Gegenüber von hochgetürmter Stadt und plattem Land markiert den gesellschaftlichen Gegensatz von Stadt und Land« (Siebel (2004a) 16). Die Mauer lässt sich aber auch als »Umfassung« der Stadt verstehen.[16] Sie begrenzt die Stadt und drängt sie zusammen: »In der alten Stadt waren alle Elemente – Einwohner ebenso wie ihre Baulichkeiten – in äußerster Enge zusammengezwungen und zu gegenseitiger Toleranz ›verdammt‹« (Sieverts (2004) 86). Die Europäische Stadt zeichnet sich folglich durch Dichte in jeglicher Hinsicht aus.[17]
»Die Charakteristika der Europäischen Stadtgestalt umfassen [also] einen historischen, niedrig-gebauten Kern [...], zentrale öffentliche Plätze mit öffentlicher Nutzung, hinsichtlich Nutzung und Einkommen gemischte Wohnquartiere, scharfe Stadtgrenzen [sowie] eine dichte Bebauung und Besiedelung [...]« (Marcuse (2004) 112); die Europäische Stadt ist eine dichte, multifunktionale Stadt. All dies »hat im Laufe der Jahrhunderte zu dem komplexen, kulturell aufgeladenen ›Regelwerk‹ geführt, das wir als [...] Stadtkultur bewundern« (Sieverts (2004) 86).
II.3. Die moderne Stadt – Expansive Leistungsund Versorgungsstadt
»Das Bedeutungsund Wirkungsgebiet einer Stadt [...] endet doch nicht an ihrer geographischen Grenzen, sondern mehr oder weniger bemerkbar erstreckt es sich mit geistigen, ökonomischen, politischen Wellenzügen über das ganze Land [...]« (Simmel (1903b) 135).
Georg Simmel beschreibt in diesem Zitat eine weitere bedeutsame Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Europäischen Stadt : Die Überwindung der engen, vor allem geographischen, Grenzen. Infolge der »Auflösung von Wall und Graben«[18] (Sieverts (2004) 86) wird aus der mittelalterlichen die moderne Stadt.[19] Der vorliegende Text datiert diese Zäsur auf die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, denn zu dieser Zeit prägten etliche »moderne« Phänomene das Gesicht der Europäischen Stadt neu.
Auf dem mehrfach angesprochenen Sektor der Bürgerschaft lässt sich beobachten, dass das – nun – »liberale Bürgertum« (Ribhegge (2002) 50) seine politische Apathie überwindet – war es in der Biedermeierzeit doch mehr »kulturelle Gemeinschaft [als] politische Gesellschaft«[20] (ebd.) gewesen. Ereignisse wie die Badische Revolution von 1848/1849, die Versammlung in der Frankfurter Paulskirche, aber auch die aufstrebenden Medien – insbesondere die Zeitungen in den Städten – und nicht zuletzt die bereits 1808 implementierte Städtereform des Freiherrn vom Stein rücken die »kommunale Selbstverwaltung« (ebd. 51) und infolgedessen auch die politische Stadtbürgerschaft wieder in den Vordergrund.
Neue Elemente im Bild der Europäischen Stadt finden sich vor allem auf ökonomischfunktionalem Gebiet: Einhergehend mit der Industriellen Revolution und der expandierenden Eisenbahn bieten sich der – und nutzt die – Europäische(n) Stadt Entwicklungspotentiale, die den Titel »modern« durchaus rechtfertigen, zeichnet sich die Moderne doch in erster Linie durch ein Prinzip aus: Wachstum. Und ebenso, wie die Wirtschaft, Verkehrsnetze, Bevölkerungszahlen und Arbeitsplätze wachsen, so wachsen auch die Städte: »[In einem Prozess der Urbanisierung] gewann die Stadt die Dominanz gegenüber dem Land« (Ribhegge (2002) 52). Ferner wachsen Städte räumlich – allerdings einem Prinzip folgend, das weniger charakteristisch für die Europäische Stadt ist: Die Stadt »entmischt« sich, Gewerbe- und Produktionsareale entwickeln sich getrennt von Wohn-, Kulturund Verwaltungsgebieten.
Gleichwohl lassen sich anhand der modernen Stadtentwicklung weitere Charakteristika aufzeigen, die im neunzehnten Jahrhundert deutlich zu Tage treten. So war die Stadt in Europa stets »soziale Stadt« dergestalt, dass in ihr Armenversorgung, Krankenpflege und Fürsorge stattfanden.[21] Mit der »Sozialen Frage« erreicht diese Qualität allerdings ein neues Niveau: War die Fürsorge stets in hohem Maße nicht-kommunal organisiert (Stiftungen, kirchliche Armenspeisung, Spenden, Fürsorge der Zünfte) so werden Krankenhäuser, Kinderheime und Altenheime zunehmend in kommunale Verantwortung überführt – ein Spezifikum, das bis heute bspw. die deutschen Städte auszeichnet; Claus Offe spricht gar davon, dass »Städte, in einer Weise, die wir bei keiner anderen sozialen Struktur oder Institution antreffen, [...] soziale [...] Funktionen erfüllen. (Offe (2004) 271).
Doch die Europäische Stadt wird auch zunehmend zur Versorgungs-, zur Leistungsstadt und erbringt Dienste, die heute unter dem Titel »Daseinsvorsorge« gefasst werden: »Versorgungsanlagen für Wasser, Kanalisation, Gas und Strom, [...] Schlachthöfe, [...] die Straßenbahn« (Ribhegge (2002) 56) – all dies wird den Städtern von Seiten der Kommune offeriert. »Im späten neunzehnten Jahrhundert entstanden, als sich die Kommunen angesichts des stürmischen Wachstums der städtischen Bevölkerung veranlasst sahen, eigene Aktivitäten in den Problemfeldern der Wasserversorgung, der Abwasserund Abfallbeseitigung, der Gasund Stromversorgung und des öffentlichen Nahverkehrs [sowie im Finanzbereich mit den Sparkassen (Anm. d. Verf.)] zu entfalten, ist der als ›Daseinsvorsorge‹ bezeichnete Sektor traditionell von der Vorstellung bestimmt, dass sich die Kommunen in diesen Feldern im Interesse des ›Gemeinwohls‹ der ›örtlichen Gemeinschaft‹ betätigen« (Wollmann (2004) 362 f.) – und »das Politikfeld der Daseinsvorsorge« (ebd.) wird von Hellmut Wollmann als »Herzstück des [...] Kommunalmodells« (ebd.) bezeichnet und ist als solches zweifellos zur »differentia specifica« der Europäischen Stadt hinzuzufügen.
Der Idealtyp der Europäischen Stadt lässt sich zusammenfassend also um folgende Aspekte ergänzen: Die Europäische Stadt ist modern in dem Maße, als sie wächst und expandiert. Sie schärft ihr soziales Profil und übernimmt Leistungen der Fürsorge, wird gleichsam aber auch »Leistungsstadt« durch Dienste der Daseinsvorsorge.
[...]
[1] Weber benennt als Gemeinsamkeit aller Stadtdefinitionen eine relativ geschlossene Siedlung, eine große Ortschaft, gewerblicher oder händlerischer Erwerb, Lokalmarkt sowie einen Bürgerstand (vgl. Weber (1922) 1 ff.).
[2] »Von Natur aus gibt es in allen den Trieb nach einer solchen Gemeinschaft« (Pol. 1253a2).
[3] »Die Glückseligkeit (»eudaimonia« [sei] das höchste Gut […]« (EN 1097b21). »Die Glückseligkeit [ist] als eine Art von tugendgemäßer Tätigkeit […] bestimmt […]« (EN 1099b26) – und da auch Freunschaft, das heißt: gemeinschaftliches Leben, Gerechtigkeit und Tapferkeit, also jene Dispositionen, auf die es beim Leben in der pólis ankommt, Tugenden sind, ermöglicht das Leben In der pólis ein glückseliges Leben.
[4] »[...] Aristoteles [hebt] zwei Zwischenstufen zwischen [...] den einzelnen Menschen, und der [...] Polis, heraus: die Hausgemeinschaft [...] und das Dorf [...]« (Höffe (2001) 25). Das Haus bildet hierbei die »biologisch-ökonomische Grundeinheit« (ebd. 26), das Dorf »ist als eine Sippe bzw. als Klan zu verstehen; denn die Mitglieder gelten als ›Milchgenossen‹« (ebd.).
[5] Dieser normative Aspekt ist heute sicherlich etwas anachronistisch, zumal sich der vorliegende Text explizit auf Max Weber bezieht und sich folgerichtig der wertfreien Analyse des Phänomens verbunden fühlt.
[6] Der aristotelische Bürgerbegriff ist sehr eng gefasst: »Aristoteles schließt die Handwerker von der Bürgerschaft aus [...]« (Pellegrin (2001) 43), wie auch Frauen, Kinder und Sklaven, die »vollständig dem Herrn an[gehören]« (ebd. 41).
[7] »Der Bürger schlechthin aber wird durch nichts anderes in einem höheren Grad bestimmt, als durch seine Teilhabe [...] an der Herrschaft« (Pol. 1275a24).
[8] Weber rekurriert hierbei auf die Einzigartigkeit des Vorkommens der europäisch-rationalen Stadt im Okzident.
[9] Denn »gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, [traten] Kulturerscheinungen auf [...], welche doch [...] in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen« (Weber (1920) 1). »Denn es handelt sich um einen spezifisch gearteten ›Rationalismus‹ der okzidentalen Kultur« (ebd. 11).
[10] vgl. Kapitel II in »Vita Activa« von Hannah Arendt, in dem die Autorin dezidiert die ökonomische Tätigkeit in den privaten Bereich des Haushalts (vgl. »oikos« bei Aristoteles) verortet, wohingegen in Zeiten nach der Polis die wirtschaftliche Betätigung in den öffentlichen Raum verlegt werden (vgl. Arendt (1958) 33 ff.).
[11] Der mittelalterliche Bürgerbegriff steht damit in Konflikt mit dem antiken Konzept, welches »die Unverträglichkeit von Tugend und körperlicher Arbeit« (Pellegrin (2001) 43) postuliert.
[12] Die Idee der Autarkie weicht also dem neuen Konzept der Rationalisierung durch Differenzierung und Arbeitsteilung.
[13] »Zugleich sollen sich die Bürger von produktiver Arbeit und gewerblichen Tätigkeiten fernhalten« (Pellegrin (2001) 43).
[14] »Autonomie (gr. ›Selbstgesetzgebung‹)« (Mehling (1995) 74) bezieht sich auf die Selbstbestimmung (gr. ›nómos‹ = Gesetz) einer bestimmten Einheit; Max Weber versteht hierunter: »eigene Gerichtsund Verwaltungsbehörden« (Weber
(1921) 790). »Autokephalie« bedeutet Selbstbestimmung über der Spitze einer Einheit (gr. ›kephalê‹ = Kopf).
[15] »Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes [...]« (Weber (1921) 26).
[16] »Das englische Wort ›town‹ stammt von Zaun bzw. Umzäunung« (Kostof; in: Kühn (2001) 201).
[17] »Erika Spiegel unterscheidet drei Dichte-Begriffe: einmal die physische Dichte, d.h., das Verhältnis von Baumasse zur Stadtfläche; zum zweiten Bevölkerungsdichte […] schließlich soziale Dichte, d.h. Kontaktdichte« (Siebel (2001) 151).
[18] Gut zu erkennen ist dieser Wandel in Wien, wo unter Kaiser Franz Josef ab etwa 1860 »anstelle der einstigen Stadtbefestigung, des Glacis, [...] die Ringstraße angelegt [wurde], ein Boulevard, der die Stadt wie ein Ring umschließt und einer Reihe neuer kultureller und politischer Einrichtungen Raum gab« (Brook (1994) 32).
[19] An dieser Stelle sei auf Kapitel II verwiesen, wo die Nichtberücksichtung der dazwischen liegenden Epochen wie Humanismus, Reformation und Absolutismus erläutert wird.
[20] »Vergesellschaftung soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational [...] motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht« (Weber (1921)
[21] ). Dies ist »besonders deutlich am Beispiel der Eisenbahn zu erkennen [...]: [Sie] ist zugleich ›maker‹ der Stadtentwicklung und ›breaker‹ des zusammenhängenden Gefüges der Europäischen Stadt « (Sieverts (2004) 86).
[21] Hellmut Wollmann schreibt hierzu: »Dem deutschen Kommunalmodell ist eine ›kommunale Sozialstaatlichkeit‹ eigentümlich, deren historische Ursprünge in die Armenpolitik der mittelalterlichen Städte zurückreicht und im 19. Jahrhundert ausgeprägt wurde [...]« (Wollmann (2002) 3).
- Citation du texte
- Dipl.Verw.wiss.; M.A. Philipp Männle (Auteur), 2004, Die Europäische Union und ihre Städte, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113630
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