Diese Arbeit wird sich der Frage widmen, welche Ersatzlebensmittel im Ersten Weltkrieg Verwendung fanden und welche Bedeutung diesen in der Bevölkerung zukam. Des Weiteren wird der Frage nachgegangen, inwiefern Ersatzlebensmittel als solche - oder bestimmte Prozesse bei deren Herstellung - heute noch von Belang sind. Nahrung aufzunehmen ist zunächst ein zentrales Bedürfnis aller Lebewesen, da es eine unmittelbare Maßnahme zur Erhaltung des eigenen Lebens ist. Doch für die Menschheit kommt dem Essen, neben der Lebenserhaltung, eine weitere Bedeutung zu: Ernährung bedeutet Kultur.
Diese Kulturgüter lassen eine Vielzahl unterschiedlicher Untersuchungen zu: Zum einen können durch bestimmte Gerichte und/oder Sitten Erkenntnisse über verschiedene (Welt-)Regionen gewonnen werden. Zum anderen lassen sich auch Dynamiken im Essverhalten auf bestimmte historische Geschehnisse und sozio-historische Hintergründe zurückführen: Die wohl prominenteste Erkenntnis ist der Rückschluss von herrschenden Schönheitsidealen darauf, ob sich eine Gesellschaft im Mangel oder im Wohlstand befunden hat. Außerdem können sich durch Untersuchungen über das Essverhalten früherer Generationen beispielsweise auch Erkenntnisse über geschlechterspezifische oder vom Lebensraum abhängige Ungleichheiten gewonnen werden.
In der geschichtlichen Forschung stellt die Ernährungsweise von Gesellschaften während eines Krieges ein besonderes Interesse dar – sie bedeutet einen plötzlichen, gravierenden Abfall der Ernährungsstandards, die der Staat oftmals nicht verhindern kann: Lebensmittelfabriken werden zu Munitionsfabriken, Anbaugebiete zu Kriegsschauplätzen, Bauern zu Soldaten.
1 Essen - ein Kulturgut
Nahrung aufzunehmen ist zunächst ein zentrales Bedürfnis aller Lebewesen, da es eine unmittelbare Maßnahme zur Erhaltung des eigenen Lebens ist. Doch für die Menschheit kommt dem Essen, neben der Lebenserhaltung, eine weitere Bedeutung zu: Ernährung bedeutet Kultur.1
Diese Kulturgüter lassen eine Vielzahl unterschiedlicher Untersuchungen zu: Zum einen können durch bestimmte Gerichte und/oder Sitten Erkenntnisse über verschiedene (Welt-)Regionen gewonnen werden. Zum anderen lassen sich auch Dynamiken im Essverhalten auf bestimmte historische Geschehnisse und sozio-historische Hintergründe zurückführen: Die wohl prominenteste Erkenntnis ist der Rückschluss von herrschenden Schönheitsidealen darauf, ob sich eine Gesellschaft im Mangel oder im Wohlstand befunden hat.2 Außerdem können sich durch Untersuchungen über das Essverhalten früherer Generationen beispielsweise auch Erkenntnisse über geschlechterspezifische3 oder vom Lebensraum abhängige4 Ungleichheiten gewonnen werden.
In der geschichtlichen Forschung stellt die Ernährungsweise von Gesellschaften während eines Krieges ein besonderes Interesse dar - sie bedeutet einen plötzlichen, gravierenden Abfall der Ernährungsstandards, die der Staat oftmals nicht verhindern kann: Lebensmittelfabriken werden zu Munitionsfabriken, Anbaugebiete zu Kriegsschauplätzen, Bauern zu Soldaten.
Der Erste Weltkrieg bedeutete für die deutsche Zivilbevölkerung genau jene Tragödie: Nachdem im Verlauf des Krieges ein Zusammenbruch in der Versorgung nicht verhindert werden konnte, nahm die durchschnittliche Kalorienaufnahme pro Kopf um zwei Drittel5 ab; nur noch die Hälfte der Lebensrnittel6 stand im Vergleich zur Vorkriegszeit landesweit zur Verfügung. Darüber hinaus wurden die wenigen Lebensrnittel ungerecht verteilt.
Innerhalb von nicht einmal fünf Jahren fand sich die deutsche Bevölkerung, die sich zuvor auf einem sicheren Weg zur Wohlstandsgesellschaft befand, in einem Kampf ums bloße Überleben wieder, den 800.000 Zivilisten verloren.
Die These Heraklits, Krieg sei der Vater aller Dinge, bewahrheitete sich auch im Ersten Weltkrieg. Die vorangegangene Industrialisierung wirke dabei wie ein Katalysator auf die technische Innovation: Neben zahlreichen militärischen Erfindungen - wie dem Maschinengewehr, dem U-Boot oder dem Panzer - kam es auch im zivilen Bereich zu bahnbrechenden Neuerungen. Darunter fiel beispielsweise die Armbanduhr oder der Reißverschluss.7
Auch in der Lebensmittelindustrie galt die Devise: „Not macht erfinderisch“: Für Lebensrnittel, die knapp geworden waren, wurden auf verschiedene Arten so genannte Ersatzlebensmittel kreiert, die der Bevölkerung das Überleben sichern, oder wenigstens die Not vergessen machen sollten. Über 10.000 verschiedene Ersatzlebensmittel wurden während des Krieges aufden Markt gebracht.8
Diese Arbeit wird sich der Frage widmen, welche Ersatzlebensmittel im Ersten Weltkrieg Verwendung fanden und welche Bedeutung diesen in der Bevölkerung zukam. Des Weiteren wird der Frage nachgegangen, inwiefern Ersatzlebensmittel als solche - oder bestimmte Prozesse bei deren Herstellung - heute noch von Belang sind.
2 Der historische Kontext
Das Deutsche Kaiserreich existierte von 1871 bis 1918 und lässt sich in zwei große Abschnitte unterteilen: Die Bismarckzeit (bis 1888) sowie die Zeit der Regierung Wilhelm II (ab 1888). Zwar war das Kaiserreich faktisch ein Bundesstaat, dennoch gab es ein außergewöhnlich hohes Maß an Eigenständigkeit der Einzelstaaten.
Für die Entstehungsgeschichte der Hungerkrise und der daraus resultierenden Ersatzlebensmittelproduktion sind besonders zwei Entwicklungen wesentlich. Zum einen brachte die Entwicklung des Deutschen Reiches zur Industrienation, die ab circa 1871 begonnen hatte, einige wegweisende gesellschaftliche Prozesse in Gang. Zum anderen führte der Krieg gemäß seines Wesens zu einem chronischen Ressourcenmangel.
2.1. Der Übergang zur Moderne im Kaiserreich
Der Motor für den rapiden gesellschaftlichen Wandel war der Entwicklungsprozess des Deutschen Reiches von einer vormodernen, bäuerlich geprägten Nation hin zu einer modernen Industrienation. In kurzer Zeit entstanden zahlreiche Fabriken, in denen bald am Fließband viel effektiver gearbeitet werden konnte. Die produzierten Erzeugnisse wurden im In- und Ausland verkauft und steigerten die wirtschaftliche Macht des Deutschen Reiches.9 10
Landflucht
Die boomende Industrie, die in den Städten angesiedelt war, benötigte immer mehr Arbeiter. Folglich wanderten viele Einwohner ländlicher Gegenden in die Städte ab; es kam zur sogenannten Landflucht.
Die traditionelle, kleinteilig strukturierte Landwirtschaft verlor im Gegensatz immer weiter an Bedeutung; Kunstdünger und Maschinen ermöglichten im Laufe des 19. Jahrhunderts mit weniger Arbeitskräften zunehmend eine Erhöhung der Erträge. Dennoch wuchs gleichzeitig die Abhängigkeit Deutschlands von Nahrungsmittelimporten aus dem Ausland: Rund ein Drittel der gesamten Nahrungsmittel mussten eingeführt werden - die Handelspartner waren neben den Anrainerstaaten vor allem Großbritannien, Russland und die USA.11
Technischer Fortschritt
Der Treibstoff für den oben genannten Motor, die Industrialisierung, war der wissenschaftliche und technische Fortschritt. Bahnbrechende Erfindungen und Erkenntnisse aus dieser Zeitperiode finden sich in jedem wissenschaftlichen Bereich - leicht lässt sich dies an den vierzehn Nobelpreisauszeichnungen für deutsche Forscher in den Naturwissenschaften zwischen 1901 und 1918 erkennen.
Signifikante Fortschritte wurden in der Chemie erzielt, in der große Persönlichkeiten wie Franz Fischer, Fritz Haber, Carl Bosch, Emil Fischer, Herrmann Staudinger und Joseph König wirkten. Deren Arbeiten sind noch heute von höchster Relevanz12 und einige davon maßgebend für den Siegeszug der milliardenschweren deutschen Chemiekonzerne - wie BASF oder Linde. Eng verbunden mit dem Siegeszug der Chemie sind auch die Gründungen noch heute existierender Lebensmittelriesen wie Knorr, Maggi oder Dr. Oetker.
Wohlstand
Die Industrialisierung brachte Wohlstand für sämtliche soziale Schichten. Ein Indikator dafür ist die positive Bevölkerungsentwicklung dieser Jahre: Die Sterberate sank und die Geburtenrate stieg.13 Doch die Industrialisierung führte auch zur Ausbildung einer Klassengesellschaft: „Bürgertum und Arbeiterschaft lebten [...] in sozial scharf voneinander getrennten Lebenssphären mit höchst unterschiedlichen Wohnverhältnissen, Bildungsinstitutionen und kulturellen Lebensformen, zwischen denen [...] wenig Kontakt und Mobilität bestand.“14
Es kam bereits seit Beginn der Industrialisierung zu Konfrontationen zwischen Arbeiterschicht und Elite15, die trotz des von der SPD zugesicherten „Burgfriedens“ in den folgenden Kriegsjahren bald wieder aufloderten.16
2.2. Der Weg in die Hungerkrise
Am 28. Juni 1914, also wenige Wochen nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gattin Sophie in Serbien bricht ein erbarmungsloser Krieg in Europa aus, der sich bereits jahrelang abgezeichnet hatte. Den Mittelmächten, bestehend aus dem Deutschen Kaiserreich, der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, Bulgarien und dem Osmanischen Reich, stehen zunächst Frankreich, Großbritannien und Russland gegenüber. Mit dem Kriegseintritt der USA im Frühjahr 1917 entsteht eine Übermacht der Triple Entente und somit die militärische Niederlage der Mittelmächte besiegelt. Der Friedensvertrag wurde am 11. November 1918 unterzeichnet.
Die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs sind ein Sinnbild für eine Epoche voller unnötiger Tode. Mit 17 Millionen gefallenen Soldaten gilt er als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Für Deutschland forderte der Krieg neben den rund zwei Millionen Soldaten an einem anderen Schauplatz 800.000 weitere Leben17 : An der so genannten Heimatfront verloren vor allem Kinder, Frauen und Alte ihr Leben in einer knapp fünfJahre andauernden Hungersnot.
Diese Tragödie ist durch ein Geflecht verschiedener Faktoren bedingt, die im Folgenden analysiert werden. Ein Schaubild (Abb. 1) soll hierfür als Übersicht dienen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Ernährungskrise des Kaiserreichs zwischen 1914 und 1918 - Einflussfaktoren, Reaktionen und deren Konsequenzen. Erläuterung: Schwarze Pfeile zeigen Konsequenzen; Blaue Pfeile zeigen die Reaktionsmaßnahmen des Kaiserreichs.
2.2.1. Nationale Faktoren
Obwohl sich die deutsche Führung der enormen Bedeutung einer gesicherten Lebensmittelversorgung im Krieg durchaus bewusst war18, wurden kaum Vorbereitungen für einen langanhaltenden Krieg getätigt.19 Man ging „blind und stur“ davon aus, dass der Krieg schnell gewonnen wird - wie der deutschfranzösische Krieg 1870/1871 - und somit längerfristige Überlegungen gar nicht vonnöten seien. Grund dafür war der vielversprechende Schlieffen-Plan20, der einen Sieg des Deutschen Reichs über Frankreich und Russland binnen weniger Wochen herbeiführen sollte.21 Doch bereits ab Oktober 191422 - nach gerade zwei Kriegsmonaten - waren die illusionären Hoffnungen auf einen schnellen Sieg des Deutschen Reichs über die „Erbfeinde“ zerstört; die Fronten verhärteten sich: Der Erste Weltkrieg entwickelte sich zu einer Industrieschlacht, in der die Soldaten in den Schützengräben oft tagelangem Trommelfeuer ausgesetzt waren und von der Kriegsmaschinerie schlichtweg zermahlen wurden.
Da das Deutsche Reich die Souveränität des Staates Belgien beim Einmarsch nach Frankreich verletzte, trat auch Großbritannien am 04. August, einen Tag nach der deutschen Kriegserklärung gegenüber Frankreich, in den Krieg ein. Nachdem die Vorräte des Deutschen Reichs nach grotesk kurzer Zeit knapp wurden, stiegen die Preise für Lebensrnittel, vor allem für Brot und Butter, rapide an.
Die Regierung reagierte bereits ab Oktober 1914 mit der Einführung von Höchstpreisfestsetzungen, später mit Rationierungen von bestimmten Lebensrnitteln. Verschärft wurde die missliche Ernährungslage dadurch, dass zahlreiche Lebensrnittel dem heimischen Markt entzogen wurden: Die neu gegründete „Kriegsrohstoffabteilung“ schlüsselte die Lebensrnittel nach Kriegswichtigkeit auf - primär wurden Soldaten versorgt, sekundär die Arbeiter in der Kriegsindustrie und tertiär - mit weiteren Abstufungen - die restliche Bevölkerung.23
Schwächung der Landwirtschaft
Analog zu den materiellen wurden auch humane Ressourcen nach ihrer jeweiligen Kriegswichtigkeit beurteilt und dementsprechend eingeteilt: Ein Großteil der in der Landwirtschaft arbeitenden Männer wurde eingezogen. In der Anfangsphase des Krieges wurde die Landwirtschaft hauptsächlich von Frauen, Jugendlichen, Kindern und Alten fortgeführt. Doch als sich nach der ersten Ernte im Jahr 1915 zeigte, dass diese die fehlenden Facharbeiter nicht ersetzen konnten , teilte die Regierung ihnen zur Unterstützung Wanderarbeiter und später Kriegsgefangene zu, die aber ebenfalls den voranschreitenden Ernterückgang
nicht mildern konnten.24 Außerdem wurde die Landwirtschaft von weiteren Faktoren beeinträchtigt, die das Erntevolumen stark schmälerten25 : Einerseits folgten den Männern auch Pferde und Maschinen in den Krieg, andererseits wurde die Produktion von Düngemitteln während des Krieges immer weiter eingestellt, da, Salpeter, ihre Grundsubstanz, für die Produktion von Schießpulver unverzichtbar war.26 Darüber hinaus kam auch die Produktion von landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten zum Erliegen. Äußerst ungünstige klimatische Bedingungen im Sommer 1916 verschärften die Lage ungemein: Rund ein Viertel der Kartoffelernte ging durch die sog. Kartoffelfäule verloren, die sich aufgrund des Mangels an Pflanzenschutzmittel so drastisch verbreiten konnte.27
2.2.2. Wirtschaftliche Faktoren
Wie bereits in Kapitel 2.1 erwähnt, importierte das Deutsche Kaiserreich vor dem Krieg rund ein Drittel der Nahrungsmittel.28 Da die wichtigsten Handelspartner29 Russland, Großbritannien und die USA nun zu Kriegsgegnern geworden waren (oder zumindest in Allianz mit diesen standen)30, musste das Deutsche Reich alternative Lieferanten gewinnen. Zunächst versuchte man, Lebensrnittel von und über Verbündete zu beziehen, doch sowohl Österreich als auch Ungarn waren zu langfristigen Lieferungen nicht im Stande, da sie selbst Probleme mit der Versorgung ihrer Bevölkerung hatten31. Der Handel mit den neutralen Staaten Europas - den Niederlanden, der Schweiz, Schweden, Dänemark, Norwegen und Rumänien32 - konnte zu Beginn des Krieges dem Mangel entgegenwirken, diese Quellen wurden aber ab 1915 vollständig durch Großbritannien blockiert.33
Die britische Seeblockade
Die Taktik Großbritanniens sah vor, das Deutsche Reich nicht nur auf dem Schlachtfeld zu bekämpfen, sondern auch einen zermürbenden Wirtschaftskrieg einzuleiten. Dabei war die Hauptmaßnahme die Errichtung einer Seeblockade34, die sämtlichen ausländischen Handelsschiffen den Zugang zur deutschen Küste versagte. Großbritannien bezweckte damit einerseits, die deutsche Rüstungsindustrie von wichtigen Ressourcenimporten abzuschneiden, andererseits aber auch das Bekämpfen ,,jede[s] feindliche[n] Staatsangehörige[n]“35, indem man „den Widerstand der Zivilbevölkerung durch Aushungern brechen“ wollte.36 Großbritannien ignorierte dabei die Konvention der Haager Landkriegsordnung von 1907, keinen Schaden an Zivilisten zu verursachen und nahm den Tod hunderttausender Zivilisten billigend in Kauf. Dennoch ist in der heutigen Geschichtsforschung umstritten, ob es sich bei dieser Maßnahme um ein Kriegsverbrechen gehandelt hat.
Es finden sich sowohl Aussagen - wie beispielsweise von Kramer und Friedrich37, die das Aushungern der Zivilbevölkerung als kalkulierten Genozid klassifizieren, als auch Sichtweisen anderer Historiker, die die Verschärfung der Seeblockade zur Hungerblockade als logische Antwort u.a. auf den deutschen Ersteinsatz von Giftgas 1915 rechtfertigen: „Germany created the hunger blockade against Germans.“38, schreibt John Ferris.
Als die deutsche Führung 1915 keine Möglichkeit sah, an dringend benötigte Rohstoffe zu gelangen, rief sie den „uneingeschränkten U-Boot-Krieg“ aus: Fortan sollten auch alle Schiffe, die sich Großbritannien nähern, versenkt werden.
Nachdem aber mehrere amerikanische Passagierschiffe versenkt worden waren, sah sich die USA 1917 zum Kriegseintritt gezwungen und besiegelte somit den Untergang der Mittelmächte.
3 Der Kampf ums Überleben
Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn zeichnete sich eine drohende Krise ab; die schlimmsten Befürchtungen wurden im weiteren Kriegsverlauf zunehmend bestätigt. Zu allem Übel sollte die Notlage auch nicht mit dem Kriegsende vorbei sein, sondern bis Mitte der 1920er Jahre andauern.
3.1. Verlauf und Ausmaß der Hungerkrise
In Folge der zuvor aufgeführten Faktoren standen Mitte 1915 dem Deutschen Reich im Vergleich zur Vorkriegszeit durchschnittlich nur die Hälfte aller Nahrungsmittel zur Verfügung.39 Nachdem Anfang 1915 reichsweite Rationierungen und Höchstpreislimitierungen für nahezu sämtliche Grundnahrungsmittel ausgesprochen worden waren, verbesserte sich die Lage aber keineswegs - paradoxerweise führte dies zu einer eklatanten Verschärfung: Es war bald ein „offenes Geheimnis“, dass Nahrungsmittelerzeuger ihre Produkte fortan „unter der Hand“ verkauften.40 Wer genug Geld oder andere Tauschmittel hatte, konnte sich auch unter den Bedingungen staatlicher Rationalisierungsmaßnahmen gut versorgen. Die unteren Schichten der Bevölkerung aber hatten noch weniger Lebensrnittel zur Verfügung, denn das Volumen der offiziell erhältlichen Lebensrnittel schrumpfte durch die Umgehung der staatlichen Regulierungsmaßnahmen zusammen. „Der Schwarzmarkt absorbierte bis 1918 „ein Drittel der Butter-, Milch-, und Käseproduktion, sogar die Hälfte des Fleisches, der Eier und der Obstwaren.“41
Der Historiker Hans-Ulrich Wehler kommt zum Schluss: "Im Grunde war der Krieg im Frühjahr 1916 ernährungswirtschaftlich verloren.“42
Nach 1916 verschlechterte sich die Versorgung noch weiter: Einen ersten Tiefpunkt markierte der darauffolgende Winter, der heute als „Kohlrübenwinter“43 (1916/1917) bekannt ist. Nach landesweiten Missernten standen so wenig Kartoffeln und Getreide zurVerfügung, dass die Bevölkerung nur noch mit Kohl- und Steckrüben versorgt werden konnte. Dieses geschmacks- und nährstoffarme Gemüse war eigentlich nur für die Mast von Schweinen vorgesehen. Obwohl die Rüben verhältnismäßig kostengünstig an die Bevölkerung verteilt wurden, stellte dies keine Abhilfe dar, um den Protein- und Fettmangel zu beheben. In diesem Winter verloren Hunderttausende deutscher Zivilisten ihr Leben, dies war aber bei Weitem nicht das Ende der Hungersnot44 :
In seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ verglich Wehler für Deutschland die Versorgung der Bevölkerung mit den sechs wichtigsten Protein- und Fettquellen in den Jahren 1916 und 1918 mit der im Vorkriegsjahr 1913 (entspricht 100 Prozent) und stellte fest, dass sie nach 1918 nur noch durchschnittlich 10% derVorkriegsversorgung ausmachte.45
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1
Es ist darauf hinzuweisen, dass in der Fachliteratur verschiedene Werte zu finden sind. Diese Unterschiede lassen sich dadurch erklären, dass manche Studien sich auf bestimmte Regionen konzentrieren; einige Autoren orientieren sich zu dem vor allem an den vorgesehenen Rationen der Lebensmittelkarten.46
[...]
1 Vgl. Wehling, H-G. (2002). Nahrungskultur. DerBürgerim Staat, 52(4), S.178.
2 Vgl. Merta, S. (2002). „Weg mit dem Fett“. DerBürgerim Staat, 52(4), S.200ff.
3 Vgl. Lesniczak, P. (2002). Ländliche Kost und Städtische Küche. DerBürgerim Staat, 52(4), S. 193ff.
4 Vgl. ibid.
5 Vgl. Wehler, H-U. (2003). Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949. München, C.H. Beck. S.70.
6 Vgl. Schmidt-Klingenberg, M. (30.03.2004). Der Kampf in den Küchen. Spiegel Online.
7 Vgl. Zimmer, M. (18.05.2014). Erster Weltkrieg: Erfindungen, diedas Leben erleichtern. Süddeutsche Zeitung Online.
8 Vgl. Manz, H. (1919). Die Ersatzlebensmittel in der Nahrungsmittelgesetzgebung im Frieden und im Kriege. In H. Stadthagen (Hrsg.), Die Ersatzlebensmittel in der Kriegswirtschaft, Berlin, Verlag der Beiträge zur Kriegswirtschaft. S.1.
9 Leitfaden fürdieses Kapitel waren Herbert, U. (2014). Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München, C.H. Beck, S.37-96, sowie Wehler, 2003. S.60-85.
10 Vgl. Kruse, W. (27.09.2012). Industrialisierung und moderne Gesellschaft. Bundeszentrale für Politische Bildung Online.
11 Vgl. Hallwirth, L. (2016). DieVersorgung derZivilbevölkerung mit Lebensrnitteln und Ersatzlebensmitteln während des Ersten Weltkrieges. (MasterThesis). Alpen Adria Universität Wien. S.51.
12 Vgl. Grüne, J. (2002). Staatliche Lebensmittelüberwachung in Deutschland. DerBürgerim Staat, 52(4). S.190f.
13 Vgl. Eckart, W. (2015). Erster Weltkrieg 1914-1918: Hunger und Mangel in der Heimat. DeutschesÄrzteblatt, 112(G). S.230ff.
14 Kruse, 2012.
15 Vgl. Herbert, 2014. S.209ff.
16 Vgl.Asmuss, B. (08.06.2011b): Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Lebendiges Deutsches Historisches Museum Online.
17 Mittelwert aus: Vgl. Asmuss, B. (08.06.2011a). Die Lebensmittelversorgung. Lebendiges Deutsches Historisches Museum Online, sowie Vgl. Corni, G. (2008). Hunger. In Hirschfeld, G. et al. (Hrsg.). (2008). Enzyklopädie ErsterWeltkrieg. Paderborn, Schönlingh. S. 565.
18 Sie war eines von vier Zielen der sog. Kriegswirtschaftspolitik.
19 Vgl. Kruse, 2012.
20 Der Schlieffen-Plan sah vor, Frankreich einzukesseln. Dafür sollte von Belgien aus ein Überraschungsangriffgestartetwerden. Nach dem Sieg über Frankreich sollten alle Soldaten in geballter Kraft gegen Russland kämpfen.
21 Vgl. Herbert, 2014. S.167ff. Erwertet das deutsche Verhalten keineswegs als fahrlässig, sondern eher als „Alles-Auf-Eine-Karte-Setzen“.
22 Schlacht an der Marne.
23 Vgl. Hallwirth, 2016. S.9.
24 Vgl. Scriba, A. (08.09.2014). Der Kohlrübenwinter. Lebendiges Deutsches Historisches Museum Online.
25 „So sank die Kartoffelproduktion von 52 Millionen Tonnen (1913) auf29 Millionen Tonnen (1918), und der Getreideertrag fiel von 27,1 Millionen Tonnen (1914) auf 17,3 Millionen Tonnen (1918).“ In: Asmuss, 2011a.
26 Vgl. Vaupel, E. (2014). Krieg der Chemiker. Chemie in unsererZeit, 48 (6), S.461.
27 Vgl. Scriba, 2014.
28 Vgl. Schmidt-Klingenberg, 2004.
29 Vgl. Ibid.
30 Vgl.Vaupel,2014.S.462.
31 Vgl. Hallwirth, 2016. S.8, S.51.
32 Vaupel, 2014. S.460.
33 Vgl. Hallwirth, 2016. S.53;66.
34 Errichtung am 04. August 1914.
35 Werber, N.; Kaufmann, S.; Koch, L. (Hrsg.). (2014). Erster Weltkrieg - Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart, J.B. Metzler. S.8.
36 Schmidt-Klingenberg, 2004.
37 Vgl. Kramer, A. (2008). Kriegsrecht und Kriegsverbrechen. In Hirschfeld, 2008. S.285. Vgl. Friedrich, J. (2014). 14/18. DerWeg nach Versailles. Berlin, Propyläen. Abstract.
38 Ferris, J. (2017). To the Hunger Blockade - The Evolution of British Economic Warfare 19141915. Cambridge, UniversityofCambridge. S.85.
39 Vgl. Scriba, 2014: circa 27 Prozent Verluste durch Unterdrückung des Handels; 18-35 Prozent Verluste durch geschwächte Landwirtschaft verglichen mit den Vorkriegsjahren 1912 und 1913.
40 Vgl. Corni, 2008. S.565f.
41 Wehler, 2003. S.71.
42 Schmidt-Klingenberg, 2004.
43 Die Rede ist auch vom Hungerwinter oder Steckrübenwinter.
44 Vgl. Corni, 2008. S.565f.
45 Vgl. Wehler, 2003. S.71.
46 Vgl. Görl, W. (11.08.2014). Im Angebot: Dachs und Eichhörnchen. Süddeutsche Zeitung Online', Vgl. Vaupel, 2014. S.472.
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