Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um einen Unterrichtsentwurf für die gymnasiale Oberstufe im Fach Geschichte. Thematisch beschäftigt sich die Arbeit dabei mit der Französischen Revolution und den Septembermorden des Jahres 1792.
Die SuS untersuchen die zeittypischen unterschiedlichen Bewertungen der Septembermorde des Jahres 1792 anhand der Briefe zweier Zeitgenossen und beurteilen die darin vorgenommene Verurteilung der Gewalt sowie die Rechtfertigung ihrer Notwendigkeit vor dem Hintergrund der Menschen- und Bürgerrechte. Im Anschluss daran beziehen sie in Bezug auf gegenwärtige Protestbewegungen Stellung zur Rechtfertigung von Gewalt zur Durchsetzung vorgeblich
fortschrittlicher Politik.
Anmerkung der Redaktion: Teile des Anhangs dieser Arbeit wurden aus urheberrechtlichen Gründen entfernt.
1. Didaktisches Zentrum
Im Zentrum der Stunde steht die widersprüchliche Bewertung der Septembermorde 1792 durch die Zeitgenossen anhand von Briefen der Augenzeugen Rosalie Julien und Konrad Oelsner unter der Fragestellung: „Alles was notwendig ist - Wie beurteilen die Zeitgenossen die Septembermorde?“
Die SuS erarbeiten und beurteilen, dass die unterschiedlichen Bewertungen der Septembermorde darauf beruhen, ob die Zeitzeugen eskalierende und unkontrollierte revolutionäre Gewalt zur Durchsetzung eines für fortschrittlich erachteten Zieles für gerechtfertigt halten, worin sich ein unterschiedliches Verhältnis zu den Menschen- und Bürgerrechten ausdrückt.
Dies wird daran deutlich, dass die SuS
- den Briefauszügen stichpunktartig die Aussagen für und wider die Septembermorde entnehmen und entsprechend ihrer Gewichtung in einem Schaubild darstellen.
- die beiden Bewertungen miteinander vergleichen und ihre Unterschiede mit der jeweiligen Gewichtung des Ziels der Ereignisse (Julien) und der dazu eingesetzten Mittel (Oelsner) erklären.
- diese Bewertungen hinsichtlich ihres Verhältnisses zum ethischen Maßstab der Menschen- und Bürgerechte beurteilen.
- abschließend selbst die Legitimität und Problematik revolutionärer Gewalt vor dem Hintergrund der Menschen- und Bürgerrechte auch im Hinblick auf gegenwärtige Proteste diskutieren.
Die Stunde dient damit schwerpunktmäßig der Förderung der Urteils- und Orientierungskompetenz.
2. Analyse der Lerngruppe und der Lernausgangslage
Die Klasse wird mit zwei Wochenstunden im Fach Geschichte unterrichtet. Insgesamt zeigt die Klasse eine hohe Motivationsbereitschaft in der Auseinandersetzung mit historischen Problemstellungen. Insbesondere an Fragen von Herrschaft und Unterdrückung zeigen sich die SuS durch ihr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden interessiert. Von der französischen Revolution und dem Kampf gegen die Ständeungleichheit fühlen sich die SuS insofern breit angesprochen und erkennen in der Durchsetzung allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte Relevanz für ihre eigene Lebensrealität.
Bezogen auf die einzelnen Kompetenzbereiche des Fachs zeigt sich die Klasse geübt darin, historische Probleme wahrzunehmen und anhand dessen eigene Fragestellungen zu entwickeln. Zunehmend gelingt den SuS die strukturierte Analyse verschiedener Quellen, wobei die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem teils noch stärkerer Bewusstmachung des Erkenntnisziels bedarf. Auf Grundlage dessen begründen sie ihre Sachurteile in der Regel nachvollziehbar. Besonders stärkere SuS beurteilen dabei verschiedene Problemzusammenhänge differenziert. Große Fortschritte haben die SuS im Bereich der Orientierungskompetenz gemacht. Maßgeblich zur Einschätzung des Kompetenzstandes ist die Abschlussdiagnose nach einem Förderprozess zur Werturteilsbildung in einer Reihe zum spanischen Kolonialismus und seiner geschichtskulturellen Rezeption. Dazu wurden textförmige Werturteile der SuS zur möglichen Wiederaufstellung einer gestürzten Kolumbusstatue in den USA mithilfe eines an Conrad angelehnten Graduierungsrasters ausgewertet.1 Alle SuS legten dabei bereits ihre eigenen Wertmaßstäbe transparent offen (Stufe 2). In unterschiedlichem Maße gelang die SuS zudem eine diskursive Auseinandersetzung mit anderen Wertungen in Geschichte und Gegenwart (Stufe 3-4).2 Jenseits dieser Stufung offenbarte diese Diagnose aber auch bei den SuS, die bereits mit Wertmaßstäben der Vergangenheit in den Diskurs traten, gerade in diesem Bereich einen fortbestehenden Förderbedarf. So verstehen die SuS die historisch Handelnden oft noch recht schematisch als durch ihre Zeit determiniert und vollziehen ihre Entscheidungsmöglichkeiten und Dilemmata nur ansatzweise nach. Anderen Wertungen gegenüber tendieren sie zudem zu bloßer Rechtfertigung und Abgrenzung statt zu offenem und auf Selbstreflexion angelegtem Diskurs. Für einen neuen Förderprozess wurde daher ein Kompetenzraster zur Einschätzung der Diskurstiefe innerhalb der Stufe 3 entwickelt. Nach einer entsprechenden Revision der letzten Diagnoseprodukte erreichten die meisten SuS erst das basale Niveau der Unterscheidung verschiedener Wertmaßstäbe. Einige aber urteilten auf differenziertem Niveau und berücksichtigten Grenzen des individuellen Geltungsanspruchs eigener und fremder Werte. In die als selbstreflektiert definierte Niveaustufen konnte noch keins der Werturteile eingeordnet werden. Der themenspezifische diagnostische Einstieg in die aktuelle Unterrichtsreihe zeigte zudem, dass die mit der mangelnden Reflexion eigener Werte verbundene Selbstaffirmation der Fortschrittlichkeit heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse (im Westen) fortbesteht.3 Aufgefordert, zu verschiedenen kontroversen Maßnahmen der Überwachung und politischen Repression von Verfassungsfeinden in der BRD Stellung zu beziehen, äußerten sich die SuS auffallend unkritisch. Zwei Schüler stellten sogar einen selbstvergewissernd-legitimatorischen Bezug zum Absolutismus her.4 Hätten derartige Maßnahmen früher nur der Unterdrückung von Freiheit gegolten, dienten sie heute - pauschal - der Verteidigung der Freiheit. Nur wenige zeigten bereits Ansätze zur Reflexion des Spannungsverhältnisses der Einschränkung der Freiheit zu ihrer vorgeblichen Bewahrung und ermöglichten so, die Reihenfrage der Reihe aus einer Kontroverse der Lerngruppe zu entwickeln. Folglich besteht in der Klasse über die Leistungsgrenzen hinweg ein Potenzial darin, in Werturteilsprozessen in tiefergehende Auseinandersetzung mit alternativen Wertungen zu treten und dadurch zu einer tiefergehenden kritischen Reflexion eigener Wertorientierungen und Handlungsmuster zu gelangen.
In den überfachlichen Kompetenzen der Lerngruppe zeigt sich ein diffuses zeitliches und räumliches Verhältnis von Schule und Freizeit, das sie in ihrer Arbeitsmotivation und Selbstregulierung beeinträchtigte und erschwerte ihnen, sich einen Arbeitsalltag zu strukturieren. Dadurch stellten sich auch Überforderungsgefühle ein und schwächten das Selbstkonzept einiger SuS. Besonders ehrgeizige und leistungsbereite SuS wiederum hatten Schwierigkeiten ihre Zeit und Ressourcen zielgerecht zu planen und dehnten ihre Arbeitszeiten weit über das erforderliche Maß aus. Diese Voraussetzungen gilt es besonders bei der methodischen Planung zu berücksichtigen.
Inhaltlich baut die Reihe auf dem Wissen der SuS zu zentralen Staatstheorien des Absolutismus und der Aufklärung auf, die zugleich einen philosophischen Rahmen für die Idee der Menschen- und Bürgerrechte liefern. Einen Zugang zu den widerstreitenden Interessen während der französischen Revolution bereitet ihnen die vorhergegangene Auseinandersetzung mit der sich ausdifferenzierenden französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die nun anstehende Begegnung mit dem revolutionären Terror wiederum ist maßgeblich für Beschäftigung mit der Rezeption der Revolution in Deutschland und mithin dem Verständnis der geistigen Verfassung des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhunderts.
3. Didaktische Analyse der Reihe
Ihre bleibende Bedeutung erhält die französische Revolution nicht zuletzt durch die 1789 erstmals in Europa formulierten Menschen- und Bürgerrechte, die bis heute den ideellen Bezugspunkt und das maßgebliche Wertegerüst moderner demokratischer Gemeinschaften bilden.5 Dazu in Widerspruch stehen in der breiten Wahrnehmung die Radikalität der Jahre 1792-1794, in denen diese Freiheitsrechte6 gegenüber vermeintlichen Konterrevolutionären objektiv massiv verletzt wurden. Schon unterZeitgenossen umstritten,7 bleibt die Frage einer möglichen, aus ihrer Notwendigkeit begründeten Rechtfertigung dieser Radikalität Gegenstand einer fortdauernden Kontroverse.8 Das besondere Interesse an dieser Frage kommt nicht von ungefähr, gehört doch das Spannungsfeld der in Recht gefassten Freiheitswerte und ihrer Beschränkung zur Verteidigung der Freiheit zu den Kernproblemen aller modernen Demokratien. Das Problemfeld der terreur weist insofern über seinen konkreten historischen Kontext hinaus: Gerade in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Polarisierung zunehmende Diskussionen über die Einschränkung von Demonstrationsrechten, die Beobachtung der Querdenkerszene oder das Verbot einzelner Antifagruppierungen verleihen eben dieser Kernfrage eine Gegenwartsrelevanz für die SuS.
Durch diesen skizzierten Sinnzusammenhang ist die Beschäftigung mit der terreur besonders geeignet für Orientierungsprozesse zu der Frage, was legitim ist, um die Freiheit zu verteidigen. Gerade weil dieses Problem auch innerhalb freiheitlicher Wertegemeinschaften weder historisch noch gegenwärtig letztgültig lösbar ist, eignet es sich, um in einem Förderprozess passgenau an den Kompetenzstand der Lerngruppe anzuknüpfen. Denn die geteilten Freiheitswerte erlauben nicht, vorgefasste Haltungen durch das Schema von „Früher“ und „Heute“ zu beglaubigen. Die eigene Bewertung verschiedener Maßnahmen der terreur erfordert vielmehr die intensive und differenzierte Auseinandersetzung mit den Dilemmata der Zeitgenossen. Daraus ergibt sich zugleich die Chance zur vertieften individuellen Reflexion des eigenen Verhältnisses zum normativen Prinzip der Menschen- und Bürgerrechte.9 Durch diese Selbstreflexion dient die Reihe der Förderung der Teilkompetenz 01 der Orientierungskompetenz.10 Gelingt den SuS so eine Positionierung innerhalb gegenwärtiger Diskurse, erweist sich die hohe gesellschaftliche Relevanz der Reihe und wird Geschichtsunterricht seinem politischen Bildungsauftrag gerecht.11
Der konsequenten Förderung der Reihe entspricht der an Gautschis Lernprozessmodell orientierte Aufbau der gesamten Reihe: Schon die aus der übergeordneten Gegenwartsproblematik abgeleitete Fragestellung macht den SuS das übergeordnete Orientierungsziel transparent. Die Analyse der Menschen- und Bürgerrechte am Beginn der Reihe schafft den wertmäßigen Bezugspunkt für den anschließenden Orientierungsprozess. Dieser ist auf drei Reflexionspunkte konzentriert: Anhand der Septembermorde diskutierten die SuS die „Output-Legitimität“ despotischer Mittel, die Hinrichtung des Königs wirft die Frage auf, ob Bürgerrechte auch für Freiheitsfeinde zu gelten haben, während anhand der eigentlichen terreur der Jakobiner problematisiert werden soll, wie der Kampf gegen vermeintliche Freiheitsfeinde die Freiheit selbst bedroht. Die Variation dieser Aspekte - und mithin der Handlungsbedingungen der Akteure - zielt insofern auf eine zunehmende Ausdifferenzierung und Reflexionstiefe in der Bewertung des Gesamtkomplexes ab. Dabei punktuell angeführte Gegenwartsbezüge aufnehmend, gilt es zum Reihenabschluss gilt es dem Orientierungsprozess Schlussfolgerung für unsere heutige freiheitlich-demokratische Grundordnung. Gerade diese Zielbestimmung weist die in der Reihe zu leistende Förderung der Teilkompetenz 05 aus.12
4. Didaktische Analyse der Stunde mit Materialanalyse
In der Reihe steht die heutige Stunde zu den Septembermorden am Anfang des Orientierungsprozesses. Historisch gelten die in Panik vor den Invasionstruppen verübten Lynchmorde an vermeintlichen Konterrevolutionären von 1792 als erste Schreckensherrschaft.13 Über ihre anarchische Potenz nahezu durchgehend erschrocken, bewerteten die zeitgenössischen Revolutionäre die Morde höchst unterschiedlich: Kritisierten die Girondisten sie als schändliche Gräuel und Verstoß gegen die Rechtsnormen, suchten die Jakobiner sie als durch die Umstände notwendigen Schlag gegen die inneren Feinde zu rechtfertigen. Im Kern geht es demnach um die Frage, ob honorige Ziele Verstöße gegen die Freiheitsrechte legitimieren. Ein echtes Dilemma ergibt sich dabei erst unter Berücksichtigung des Gefühls einer realen Bedrohung für die Freiheit an sich, die für die in (scheinbar) sicheren Verhältnissen lebenden SuS als Handlungsbedingung mitunter nur schwer nachvollziehbar ist. Gelingt dies aber, so liegt hier ein herausforderndes Problem zur Schärfung der Orientierungskompetenz.
In der didaktischen Struktur vollzieht die Stunde die Anlage der Reihe im Kleinen nach: Den Zugang zum Problem schafft ein Foto einer gewaltsam eskalierten George-Floyd- Demonstration. Aus vorangegangen Gegenwartsbezügen ist bekannt, dass die SuS intensiv emotionalen Anteil am Gefühl vieler People-of-Color nehmen, in Missachtung ihrer Bürgerrechte permanent von Polizeigewalt- und mord bedroht zu sein. Während die meisten SuS dabei gewaltsamen Protest strikt ablehnen, äußerten einige, nur so die Ignoranz gegenüber dem strukturellen Rassismus zu überwinden. Besonders über das von der Demonstrantin präsentierte Malcolm X-Zitat „By any means necessary“ bereitet der Einstieg insofern nicht nur Verständnis für die angesprochene Dilemmasituation vor, sondern öffnet die Klasse für den Diskurs über das Kernproblem der Stunde: Ist alles gerechtfertigt, was notwendig erscheint?
Der historischen Reflexion dieser Frage dienen Auszüge aus Briefe der Zeitzeugen Rosalie Jullien an ihren Mann, einen revolutionären Politiker, und Konrad Engelbert Oels- ner, dessen Briefe als Revolutionsberichte im liberalen Hamburger Monatsblatt „Minerva“ erschienen.14 Wenngleich Oelsner Deutscher ist, eignet sich sein Brief aufgrund seiner Parteinahme für die Revolution dennoch zur Behandlung im Unterricht. Exemplarisch zeigt sich in beiden Briefen zudem nicht nur die emotionale Betroffenheit von den Ereignissen, sondern auch die widersprüchliche Bewertung.15 Als Zeugnisse zweier bürgerlicher Revolutionsanhänger bilden die Briefe keine Multiperspektivität, sondern ein Meinungsspektrum ab. Dieses zu erschließen, eignen sich dennoch Bergmanns „Schritte des Urteilens“.16 Dazu arbeiten die SuS zunächst aus den Quellen die jeweilige Haltung zu den Septembermorden: Inhaltlich führen beide Zeitgenossen ähnliche Aspekte an, äußern ihre Abscheu gegenüber der Gewalt und vollziehen die Invasionsbedrohung als Auslöser nach. Jullien zeigt sich aber dennoch erleichtert über die Rettung vor der vermeintlichen konterrevolutionären Gefahr und rechtfertigt die Gewalt im Sinne einer „Dialektik der Befreiung“ mit dem markanten Satz: „Wer das Ziel will, muss auch die Mittel wollen!“. Oelsner hingegen kritisiert die Septembermorde scharf als abscheuliche Willkürakte von „Bösewichtern“ die nahezu alle Bürger bedroht hätten. Für den Unterricht bedarf Oelsners Brief, in dem er sich in zeittypischen Verschwörungsspekulationen zu den Urhebern der Morde ergeht, im Sinne der didaktischen Reduktion einiger Kürzungen. Dennoch bleibt er im Vergleich zu Julliens Brief rhetorisch umständlich und in Vokabular und Syntax komplex. Im Sinne einer Differenzierung soll die Quelle daher vorwiegend von SuS mit ausgeprägterer Analysekompetenz bearbeitet werden. Carlos und Anton hingegen sollen aufgrund ihrer Voreinstellungen gerade diese Quelle untersuchen. Sie zeigen im wertenden Diskurs nach wie vor eine gewisse Engstirnigkeit, konnten in der Vergangenheit aber diesbezüglich gerade von der Auseinandersetzung mit konträren Haltungen profitieren.
Indem die SuS erklären, welche Bedeutung die historischen Umstände für die Bewertung hatten, wird die Erarbeitung mit dem Kontextwissen zur Bedrohung durch die Invasionsheere vernetzt, das Bewusstsein für die Dilemmasituation geöffnet und dadurch das „deutendes Urteil“ vorbereitet. Die Gegenüberstellung der Bewertungen macht deutlich, dass nicht in der grundsätzlichen Verneinung unkontrollierter Gewalt ihr wesentlicher Unterschied liegt. Vielmehr ist für Jullien die durch die Gewalt abgewendete Gefahr, das Ziel, gewichtiger als der dadurch verursachten Opfer und Kollateralschäden, die für Oelsners Urteil entscheidend sind. Von zentraler Bedeutung in dieser Stunde ist der darauf aufbauende Lernschritt, diese Haltungen ins Verhältnis zu den Menschen- und Bürgerrechten zu setzen. Unter Berücksichtigung ihres Vorwissens speziell zu den Menschenrechtsartikeln, die den Schutz vor staatlicher Willkür garantieren, können die SuS so beurteilen, dass Julliens Haltung massive Verstöße gegen die Menschen- und Bürgerrechte beinhaltet, der mit dem Ziel, die Freiheitsordnung zu verteidigen gerechtfertigt wird. Für Oelsner hingegen sind diese in seiner Ablehnung insbesondere der Willkür gegen Verdächtige ein unhintergehbares Prinzip.
Für die angestrebte Förderung der Orientierungskompetenz und Werturteilsbildung liegt in einem solchen Sachurteil eine wesentliche Vorbedingung: Nicht durch ihre Wertmaßstäbe, sondern durch - nicht zuletzt von der Bedrohung bestimmte - Variation ihres Geltungsbereichs unterscheiden sich Jullien und Oelsner. Diese Erkenntnis ermöglicht es den SuS in der anschließenden eigenen Bewertung den Diskurs mit alternativen Urteilen höher zu entwickeln und darin ein differenziertes Niveau zu erreichen. Inwieweit ihnen dies gelingt, ist in Bezug auf die Reihe zugleich eine Möglichkeit der fortlaufenden Diagnose. Aus der Diskussion über das historische Problem lässt sich abschließend erneut der Gegenwartsbezug zu den gewalttätig eskalierten George-Floyd-Protesten herstellen. Zeigen die SuS hier ihr individuelles Verhältnis zu den Menschen- und Bürgerrechten und nehmen differenziert Stellung, so zeigt sich die Progression der Stunde. Je nachdem wie stark sich die SuS in das Dilemma strukturellen Rassismus innerhalb einer Demokratie involviert sehen, kann die Orientierungskompetenz der SuS - ganz im Sinne der Teilkompetenz 02 - hier bereits das Niveau der Selbstreflexion erreichen. Gerade diese dem Gesamtansatz der Reihe entsprechende Ausrichtung auf die Gegenwart dient aber der Förderung der Orientierungskompetenz in der Teilkompetenz 06.
5. Methodische Analyse
Die methodischen Entscheidungen der Stunde ergeben sich aus der didaktischen Zielsetzung, die Widerspruch der Bewertung Septemberbrigaden offenzulegen und einem gegenwartsbezogenen Werturteil zuzuführen. Besondere Berücksichtigung findet dabei die derzeitige Lernsituation der Klasse und ihre erst kürzliche Rückkehr aus dem Distanzunterricht.
Der Bildeinstieg soll über das Plakat der Demonstrantin nicht nur das Kernproblem der Stunde eröffnen, sondern durch die Polizisten in Kampfmontur und das brennende Auto im Hintergrund das hintergründige Dilemma im Rahmen des Möglichen sinnlich und provozierend erfahrbar werden lassen. Eine potenzielle Schwierigkeit besteht im Übergang aus diesem Gegenwartsproblem in die historische Analyse, doch sollen Orientierungsprozesse der SuS innerhalb der Reihe gerade dahingehend routiniert werden. Da dieses Vorgehen den SuS zumindest aus dem Reiheneinstieg bekannt ist, sollte die historische Konkretion der Stundenfrage zumindest mithilfe eines Impulses gelingen.
Die arbeitsteilige Erarbeitung der Quellen erfolgt in der think-pair-share-Methode.17 Das kooperative Arbeiten nach der individuellen Lektüre der Quellen ermöglicht den, sich gegenseitig über Probleme hinwegzuhelfen. In leistungsheterogenen Paaren profitieren davon auch die stärkeren SuS, die dadurch zu genauerem Arbeiten herausgefordert werden. Auch deshalb wurde auf eine weitergehende Differenzierung des Materials - denkbar wäre etwa eine sprachliche Vereinfachung der Quellen - verzichtet. Die kooperative Form wird überdies dem erhöhten sozialem Austauschbedürfnis nach der langen Phase des Distanzunterrichts gerecht. Präzise Zeitansagen sollen die Paare in der Ressourcenplanung und gegenseitigen Kontrolle ihres Arbeitsprozesses unterstützen.
Ein Kernelement der heutigen Methodik ist die den SuS bereits bekannte „Urteilswippe“.18 Sie ermöglicht durch die Einordnung der Argumente den Begründungs- und Urteilsprozess der beiden Zeitgenossen sichtbar zu machen und zeigt in der Gegenüberstellung beider Schaubilder die Auswirkung etwa der unterschiedlichen Gewichtung der „Kollateralschäden“ in einfacher Weise. Besonders leistungsschwachere SuS profitieren von dieser Veranschaulichung abstrakter Urteilsprozesse.
Zur Vorbereitung der Sicherung werden an ausgewählte Paare Folien ausgegeben, mithilfe derer sie ihre Arbeitsergebnisse präsentieren sollen. Auf diese Weise ergibt sich das Sicherungsbild direkt aus den Arbeitsleistungen der SuS. Die damit verbundene Wertschätzung und das Kompetenzerleben ist besonders wichtig für die SuS, deren Selbstkonzept während des Distanzunterrichts gelitten hat. Da die Folien flexibel ergänzt oder verändert werden können, bleiben zudem alle SuS in Verantwortung und können aktiv in den Sicherungsprozess miteingebunden werden. In der direkten Gegenüberstellung auf zwei Projektoren wirken die Folien selbst als Steuerungsimpuls, die entscheidenden Unterschiede der Bewertung herauszustellen, was die Notwendigkeit lenkender Eingriffe der Lehrkraft reduziert. Durch eine Ergänzung auf den Folien wird es zudem möglich, aus dem Sicherungsgespräch heraus das jeweilige Verhältnis zu den Menschen- und Bürgerrechten in das Schaubild zu integrieren, indem diese bei Jullien als Ziel visualisiert und bei Oelsner auf die Mittel bezogen werden.
Dem auf diese Weise vervollständigten Tafelbild kommt in der abschließenden Vertiefungsdiskussion eine Stützfunktion zu. Die Sichtbarkeit der gewichteten Argumente ermöglicht den SuS in der eigenen Bewertung ohne stärkere Lenkung genauen Bezug auf die historischen Urteile zu nehmen und soll die Sprechanteile der SuS hochhalten. Gerade das visualisierte Verhältnis zu den Menschen- und Bürgerrechten regt dabei an, den eigenen Stellenwert dieses Maßstabs zu reflektieren. Die Stütze dient insofern auch dazu, sowohl den Diskurs zur Bewertung der Septembermorde als auch zum durch einen Lehrerimpuls erneut aufgegriffenen Gegenwartsproblem vertieft zu führen.
[...]
1 Conrad Graduierungsraster
2 Die genaue Einstufung ist im Anhang ersichtlich.
3 vgl. dazu Müller: Urteilen im Geschichtsunterricht, S. 54.
4 vgl. zu einem solchen Formen des „Geschichtsbegehrens" Jeismann: Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie für die Geschichtsdidaktik, S. 15
5 vgl. Hein-Mooren: Die Französische Revolution, S. 61.
6 Der für sich leere Begriff Freiheit wird hier im Folgenden für Verhältnisse verwendet, in denen die Menschen- und Bürgerrechte verwirklicht sind. Diese gelten - auch im Sinne der KCGO - als Freiheitsrechte; vgl. Hessisches Kultusministerium: Kerncurriculum, S. 14.
7 vgl. Both; Gestrich: Die französische Revolution, S. 76.
8 vgl. Madörin: Die Septembermassakervon 1792, S. 9.
9 vgl. Jeismann: Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie für die Geschichtsdidaktik, S. 11; Hessisches Kultusministerium: KCGO, S. 12; Conrad: Sach- und Werturteilsbildung, S. 20.
10 vgl. Hessisches Kultusministerium: KCGO, S. 20.
11 vgl. Hessisches Kultusministerium: KCGO, S. 10.
12 vgl. vgl. Hessisches Kultusministerium: KCGO, S. 20.
13 vgl. Hein-Mooren: Die Französische Revolution, S. 76; Madörin: Die Septembermassaker von 1792, S. 11.
14 vgl. vgl. Günther: Die französische Revolution. S. 1325.
15 vgl. zu Jullien Parker: „Carrying Justice in Their Hearts", S. 54 und zu Oelsner Günther: Die französische Revolution, S. 1237.
16 vgl. Bergmann: Multiperspektivität, S. 76.
17 Vgl. Mattes: Methoden für den Unterricht, S. 48.
18 Die Sicherungsmethode ist angelehnt an die „Argumentationswippe", vgl. Winkler, Anja: Wie sichert man Urteile im Geschichtsunterricht?, S. 29-35.
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