Mit der Herausbildung der ersten Sozialversicherungssysteme wurde im Kaiserreich die
deutsche Sozialpolitik begründet. Inwiefern aber lässt sich der Sozialpolitik die Gretchenfrage
stellen? Spielten religiöse Hintergründe hier eine Rolle? Waren an der Entstehung der
sozialen Frage und deren Beantwortung religiöse Deutungsmuster beteiligt oder waren sie nur
Schall und Rauch für die gesellschaftliche Realität?
Die vorliegende Arbeit fragt in diesem Sinne nach dem Einfluss des Protestantismus auf die
Begründung von Sozialpolitik im Kaiserreich. Die damit vorgenommene Begrenzung erfolgt
zum einen aus Platzmangel, zum anderen als Konsequenz katholischer Unterrepräsentation im
Anteil an politischen Entscheidungsträgern.
Im Folgenden soll zunächst ein kurzer Überblick gegeben werden. Erstens soll ein kurzer
historischer Überblick über die Begründung der Sozialpolitik gegeben werden. Zweitens
muss es darum gehen, die wesentlichen Ursachen aufzudecken, die für den politischen
Prozess ausschlaggebend waren.
Ein weiterer großer Abschnitt versucht, im Rückgriff auf Max Webers These von der
protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus, protestantische
Gesellschaftsdeutungsmuster aufzudecken. Überprüft werden soll, inwiefern diese einerseits
zur Herausbildung jener entzauberten Welt führten, in der die soziale Frage zwangsweise
aufkommen musste, und sodann, inwiefern sich Webers Modell für die Erklärung jener
Herausbildung jener Herausbildung von Sozialpolitik eignet.
Versucht dieser zweite Abschnitt, einen weitläufigen Blick auf den Hintergrund eines
protestantischen Berufs- und Gesellschaftsverständnisses zu werfen, so geht es im nächsten
großen Abschnitt darum, einen Blick auf die verschiedenen protestantischen Strömungen zu
werfen, die bei der Herausbildung von Sozialpolitik auf die soziale Frage reagierten.
Untersucht werden soll, wie sie reagierten und inwiefern sie Einfluss bei der Herausbildung
von Sozialpolitik hatten.
Ob protestantische Deutungsformationen bei der Herausbildung sozialpolitischer Wirklichkeit
mit beteiligt waren und inwiefern sie andererseits auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse
des Kaiserreiches reagierten und sich durch diese veränderten, soll dabei herausgearbeitet
werden.
Inhalt
1. Einleitung
2. Deutschland als Pionier – die Entstehung von Sozialpolitik
2.1 Ein kurzer historischer Abriss
2.2 Politische Anlässe
3. Webers Protestantismusthese
3.1 Hin zu Max Weber
3.2 Kapitalistischer Geist, Prädestinationslehre und Berufsethos
3.3 Kurzes Zwischenfazit auf Basis der Weberschen These
4. Der Weg zur Sozialpolitik – verschiedene Strömungen des Protestantismus
4.1 Reaktion auf die Realität
4.2 Protestantismus und „Protestantismen“
5. Schluss
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Mit der Herausbildung der ersten Sozialversicherungssysteme wurde im Kaiserreich die deutsche Sozialpolitik begründet. Inwiefern aber lässt sich der Sozialpolitik die Gretchenfrage stellen? Spielten religiöse Hintergründe hier eine Rolle? Waren an der Entstehung der sozialen Frage und deren Beantwortung religiöse Deutungsmuster beteiligt oder waren sie nur Schall und Rauch für die gesellschaftliche Realität?
Die vorliegende Arbeit fragt in diesem Sinne nach dem Einfluss des Protestantismus auf die Begründung von Sozialpolitik im Kaiserreich. Die damit vorgenommene Begrenzung erfolgt zum einen aus Platzmangel, zum anderen als Konsequenz katholischer Unterrepräsentation im Anteil an politischen Entscheidungsträgern.
Im Folgenden soll zunächst ein kurzer Überblick gegeben werden. Erstens soll ein kurzer historischer Überblick über die Begründung der Sozialpolitik gegeben werden. Zweitens muss es darum gehen, die wesentlichen Ursachen aufzudecken, die für den politischen Prozess ausschlaggebend waren.
Ein weiterer großer Abschnitt versucht, im Rückgriff auf Max Webers These von der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus, protestantische Gesellschaftsdeutungsmuster aufzudecken. Überprüft werden soll, inwiefern diese einerseits zur Herausbildung jener entzauberten Welt führten, in der die soziale Frage zwangsweise aufkommen musste, und sodann, inwiefern sich Webers Modell für die Erklärung jener Herausbildung jener Herausbildung von Sozialpolitik eignet.
Versucht dieser zweite Abschnitt, einen weitläufigen Blick auf den Hintergrund eines protestantischen Berufs- und Gesellschaftsverständnisses zu werfen, so geht es im nächsten großen Abschnitt darum, einen Blick auf die verschiedenen protestantischen Strömungen zu werfen, die bei der Herausbildung von Sozialpolitik auf die soziale Frage reagierten. Untersucht werden soll, wie sie reagierten und inwiefern sie Einfluss bei der Herausbildung von Sozialpolitik hatten.
Ob protestantische Deutungsformationen bei der Herausbildung sozialpolitischer Wirklichkeit mit beteiligt waren und inwiefern sie andererseits auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse des Kaiserreiches reagierten und sich durch diese veränderten, soll dabei herausgearbeitet werden.
2. Deutschland als Pionier – die Entstehung von Sozialpolitik
2.1 Ein kurzer historischer Abriss
Mit der Schaffung der weltweit ersten großen Sozialversicherungssysteme tat sich Deutschland in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts als Vorreiter in Sachen Sozialpolitik hervor. 1883 kam es zur Errichtung der Krankenversicherung, 1884 folgte die Unfallversicherung und 1889 die Alters- und Invalidenversicherung. Zwar gab es unlängst vor der Gründung ebendieser bereits „zahlreiche Fürsorge- und Versicherungseinrichtungen auf genossenschaftlicher, kommunaler, betrieblicher und kirchlicher Grundlage“[1], einen allgemeinen und ausreichenden Schutz boten diese Systeme jedoch nicht. Vielmehr kamen sie unterschiedlichen Gruppierungen in keineswegs immer ausreichendem und durchaus unterschiedlichem Maße zugute.[2] Zu Recht spricht Schmidt in diesem Zusammenhang von einer „Sozialpolitik für Wenige“.
Durch die – mitunter als „Gründungsurkunde des deutschen Sozialstaats“ bezeichnete – kaiserliche Botschaft vom 17.11.1881 an den Reichstag schließlich wurde eine Gesetzesinitiative zur Sozialversicherung in Angriff genommen und damit eine „Sozialpolitik für Viele“ aus der Taufe gehoben. Mit den in der Folge entwickelten Sozialversicherungssystemen erwieß sich Deutschland als Vorreiter in Sachen Sozialpolitik und legte den Grundstein für einen spezifischen Sozialstaatstypus, der sich nach Schmidt „durch folgende Merkmale auszeichnete: 1) Arbeitnehmerversicherung, 2) Pflichtversicherung im Rahmen eines korporativistischen Interventionsstaates, 3) nachträglichen Sozialschutz, 4) Rechtsanspruch, 5) Beitragsfinanzierung, 6) Selbstverwaltung und 7) Vielfalt der Versicherungsträger.“[3]
Mit der Einrichtung öffentlich-rechtlicher Zwangsversicherungen der Arbeiter gegen einen möglichen alters- oder krankheitsbedingten Einkommensausfall[4] wurden Körperschaften des öffentlichen Rechts geschaffen, die in Selbstbefugnis Aufgaben der Staatsverwaltung übernahmen, um diese – freilich nach gesetzlichen Vorgaben – zu verwalten. Ein von Bismarck präferiertes, staatszentrierteres Versicherungsmodell scheiterte und somit waren die Weichen in dieser Sache in Richtung Selbstverwaltungsprinzip gestellt.
Generell setzte die Sozialpolitik im Deutschen Reich von 1871 eher auf nachträgliche Bekämpfung von Schadensfällen, denn auf präventive Absicherung vor den selben[5] - eine Altlast, die nicht vergessen werden sollte.
Was die Finanzierung der begründeten Sozialpolitik anbelangt, fiel die Entscheidung zugunsten eines Modells, dessen Finanzierung sich größtenteils an den Beiträgen der versicherten Arbeitnehmer und deren Arbeitgeber orientierte. Damit war die Entscheidung für ein Modell getroffen, das sich vornehmlich an der abhängigen Erwerbsarbeit orientierte. Und um eine grundsätzliche Weichenstellung, die hier getroffen wurde, ein wenig überspitzt auf den Punkt zu bringen: wer in der Folge im deutschen Sozialsicherungssystem ein Recht auf Hilfe geltend machen möchte, dem erwächst dieses Recht weder als Anspruch auf Fürsorge aus seiner individuellen Notlage heraus, noch als speziell eingeräumter Rechtsanspruch auf Versorgung, sondern aus seiner Mitgliedschaft in einer Versicherung heraus.[6] Das deutsche soziale Sicherungssystem ist ein Sozial versicherungssystem.
2.2 Politische Anlässe
Aus der wirtschaftlichen Freiheit des 19. Jahrhunderts heraus resultierten erhebliche gesellschaftliche Veränderungen.[7] Gewerbefreiheit, Industrialisierung, Urbanisierung und Bevölkerungswachstum brachten neue soziale Probleme. Traditionelle von Kirche oder Familie getragene Sicherungsnetze konnten der neuen Lage nicht mehr in ausreichendem Maße gerecht werden. Zugleich sahen sich die Menschen neuen Risiken gegenübergestellt. Wirtschaftliche Krisen kamen hinzu, der Übergang zum Schutzzollsystem im Jahre 1879 bevorteilte die Landwirtschaft und verteuerte zugleich die Lebensbedingungen in den Städten und traf hierbei insbesondere die ärmeren Gesellschaftsschichten.
In der Gesellschaftsstruktur ergaben sich erhebliche Veränderungen: „Die Industrialisierung und Verstädterung ließen ein Proletariat entstehen, dessen Stärke und Renitenz – gemessen am zunehmenden Mitgliederanhang der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie in der Arbeiterschaft – zunahmen und das als Gefahr für die Monarchie und die Herrschaftsverhältnisse in Landwirtschaft und Industrie wahrgenommen wurde.“[8]
Dass Sozialpolitik nicht aus altruistischer Mildtätigkeit der herrschenden politischen Klasse heraus entstand, sondern auch als Herrschaftsinstrument fungierte, lässt sich aus Bismarcks Doppelstrategie von Zuckerbrot und Peitsche deutlich erkennen. Um das Gesetz wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie durchzusetzen, bediente sich Bismarck des „Zuckerbrotes“ der Sozialpolitik als „Komplement für das Sozialistengesetz“[9]. Ein solches Vorgehen legt die Vermutung nahe, dass einigen politischen Entscheidungsträgern aus der Verelendung großer Teile des städtischen Proletariats heraus weniger ihr Gewissen, als vielmehr die Angst, sich hier – mit Marx gesprochen – die eigenen Totengräber zu produzieren, zu denken gab.
Gleichwohl wurde in dieser Lage nicht mit massiver Repression, sondern mit Sozialpolitik reagiert – dies hat auch andere Hintergründe, als nur politisches Machtkalkül. Und in der Tat sollte sich die etwaige Hoffnung, die Arbeiterschaft mit Hilfe der Sozialpolitik von der Sozialdemokratie fernzuhalten, als Trugschluss erweisen. Die Sozialpolitik nahm ihren Weg und ab 1914 trug die Notwendigkeit, im Krieg innerstaatliche Konflikte zu entschärfen, noch zur Stärkung der Gewerkschaften und dem Ausbau von Sozialpolitik mit bei. Nicht zu Unrecht ist von einer „Schrittmacherfunktion des Krieges in der Sozialpolitik“ gesprochen worden[10], zugleich jedoch gab es einige ideengeschichtliche Hintergründe, welche bereits vor 1914 den Weg für die Entstehung von Sozialpolitik frei machten.
So gründen die Durchsetzung und die spezifischen Eigenheiten der Sozialpolitik im Kaiserreich auch auf die „günstige[n] politische[n] Rahmenbedingungen, wie die politischkulturellen Traditionen des einflußreichen Protestantismus, der den sozialstaatlichen Eingriff als gebotene und gerechtfertigte Linderung von Not, ja: als Bürgerpflicht deutete.“[11]
[...]
[1] Schmidt, Manfred G. (1998): Sozialpolitik in Deutschland. Historischer und internationaler Vergleich, S.23.
[2] „Sozialpolitisch vergleichsweise gut versorgt waren traditionell die Staatsbeamten, die Militärs, meist auch deren Hinterbliebene, sowie die Bergleute. Ansonsten blieb die staatliche Sozialpolitik weitgehend auf Armenpolitik und Hilfen für berufsständische Unterstützungskassen beschränkt. Deren Leistungen waren aber meist karg.“ Schmidt (1998): Sozialpolitik in Deutschland. S.24.
[3] Schmidt (1998): Sozialpolitik in Deutschland. S.25.
[4] Nicht aber gegen Arbeitslosigkeit. Erste Anstrengungen, auch auf diesem Gebiet von staatlichert Seite aus Verantwortung zu übernehmen, ergaben sich 1914. Eingeführt wurde die Arbeitslosenversicherung erst 1927, also vergleichsweise spät. (In Großbritannien wurde sie 1911 erstmals eingeführt) Vgl. Schmidt (1998): Sozialpolitik in Deutschland. S.41-42 und S.44.
[5] Dies lässt sich beispielsweise anhand der Debatten um die Unfallversicherung aufzeigen. Eine Äußerung Bismarcks in Bezug auf ebendiese macht deutlich, dass hier weniger ethische Überlegungen, als vielmehr eine bestimmte wirtschaftspolitische Auffassung eine Rolle spielte: „Jede weitere Hemmung und künstliche Beschränkung im Fabrikbetrieb vermindert die Fähigkeit des Arbeitgebers zur Lohnzahlung.“ Schreiben an den Handelsminister Dr. Aschenbach, 10.8.1877, Zit.n. Schmidt (1998): Sozialpolitik in Deutschland. S.26. Entsprechend galt der Grundsatz: „Unfallverhütungsmaßnahmen, deren Kosten die Einsparungen in der Unfallversicherung überschritten, waren außerhalb betriebswirtschaftlicher Rentabilitätsüberlegungen und standen so von vornherein außerhalb jeglicher Debatte. Es sei denn, ein öffentlicher Diskurs verlangte eine Reaktion.“ Andersen, Arne (1994): Vom Glück, einen Unfall zu erleiden. Unfallversicherung und arbeitsbedingte Erkrankungen in der Chemieindustrie. S.221. In: Machtan, L. (Hrsg.): Bismarcks Sozialstaat. Beiträge zur Geschichte der Sozialpolitik und zur sozialpolitischen Geschichtsschreibung. S.207-258.
[6] In Anlehnung an Esping-Anderson
[7] Schmidt (1998): Sozialpolitik in Deutschland. S.28 f.
[8] Schmidt (1998): Sozialpolitik in Deutschland. S.29.
[9] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, IV. Legislaturperiode, IV. Session 1881, 6.Sitzung, 15.3.1884: 72. Zit.n.Schmidt (1998): Sozialpolitik in Deutschland. S.30.
[10] Schmidt (1998): Sozialpolitik in Deutschland. S.41.
[11] Schmidt (1998): Sozialpolitik in Deutschland. S.33.
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