Arnold Gehlen ist einer der bedeutendsten deutschen Anthropologen, Philosophen und Soziologen des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist er aber auch einer der umstrittensten, da sein Werk die Apologie eines in vielerlei Hinsicht konservativen und autoritären Gesellschaftssystems impliziert und er selbst sich dem NS-Regime andiente.
Sein unbestrittenes Verdienst ist es aber, eine stringente ‘Anthropologie aus einem Guss’ vorgelegt zu haben, welche den Menschen - ausgehend von seiner biologischen Determiniertheit - als ‘Gegenentwurf der Natur’ zu ihren übrigen Schöpfungen beschreibt und daraus eine Theorie über die Mechanismen des Zusammenlebens in menschlichen Gesellschaften ableitet.
Allerdings ergibt sich jene ‘Anthropologie aus einem Guss’ erst aus einer Gesamtschau seiner Hauptwerke („Der Mensch“, „Urmensch und Spätkultur“, „Die Seele im technischen Zeitalter“ und „Moral und Hypermoral“) , und dieses ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit:
Der Autor gibt einen orientierenden und erläuternden Überblick über die conditio humana in den Begriffen Arnold Gehlens (“Mängelwesen”, “Weltoffenheit”, “Entlastung”, “Gewohnheiten und Institutionen”), wobei auch die Anleihen beleuchtet werden, welche Niklas Luhmanns Systemtheorie bei Gehlens Sozialphilosophie macht.
Es folgt ein kritischer Teil, der sich vor allem mit Implikationen des Gehlenschen Institutionenbegriffes auseinandersetzt und zuletzt die Möglichkeiten einer Gegenüberstellung der philosophischen Anthropologie Arnold Gehlens mit derjenigen Hannah Arendts auslotet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Formaler Hinweis
1.2 Kontextualisierung
1.3 Agenda
2. Arnold Gehlens Weltbild
2.1 Mängelwesen Mensch
2.2 Weltoffenheit
2.3 EntlastungS
2.4 Gewohnheiten und Institutionen
3. Individuum und Gesellschaft Konsequenzen von und Kritik an Gehlens Sozialphilosophie
3.1 Bisherige Rezeption und Kritik
3.2 Ausblick: Arnold Gehlen und Hannah Arendt im Vergleich
4. LiteraturverzeichnisS
1. Einleitung
1.1 Formaler Hinweis
Um Verschiedenes kennzeichnen zu können, verwende ich die gängigen
„Anführungszeichen“ nur für Zitate Dritter. Hingegen setze ich ´Anführungszeichen`, wenn es mir um eine stilistische Hervorhebung geht, wenn ich einen eigenen Begriff kennzeichnen möchte oder wenn ein von mir zitierter Dritter selbst Anführungszeichen verwendet hat.
1.2 Kontextualisierung
Im Rahmen eines Seminars zur „Anthropologie, Sozialphilosophie und Ethik Arnold Gehlens“ beschäftigten wir uns ausführlich mit Arnold Gehlens Weltbild, so wie er es in seinen Hauptwerken „Der Mensch“, „Urmensch und Spätkultur“, „Die Seele im technischen Zeitalter“ und „Moral und Hypermoral“ darlegt. Betrachtet man diese vier Werke als eines, so geht es ihm darum, den Menschen und seine Sonderstellung in der Natur mit biologischen Maßstäben zu beschreiben und aus dieser Sonderstellung eine Theorie über das Wie? des sozialen Zusammenlebens abzuleiten. Dabei möchte er den Leib-Seele-Dualismus früherer Anthropologien überwinden und propagiert stattdessen eine ´Anthropologie aus einem Guss`:
„Wir wollen ein System einleuchtender, wechselseitiger Beziehungen aller wesentlichen Merkmale des Menschen herstellen, vom aufrechten Gang bis zur Moral, sozusagen, denn alle diese Merkmale bilden ein System, in dem sie sich gegenseitig voraussetzen.“ (Gehlen 1976: 17)
Mit dem Hinweis auf ein System reziproker Voraussetzungen ist zugleich ein wichtiger methodischer Punkt angesprochen: Gehlen hat ein phänomenologisches Wissenschaftsverständnis und fordert „daß der Begriff der ´Ursache` vollständig zu verschwinden hat.“ Den Glauben an die eine Ursache eines Phänomens bezeichnet er abwertend als „Metaphysik“ und insistiert:
„Eine äquivalente Behandlung, welche die Fehler solcher ´Kausalfragen` vermeidet (…) ist die folgende: daß man auf den Zusammenhang von Bedingungen abhebt. Man formuliert also: ohne A kein B, ohne B kein C, ohne C kein D usw.“ (ebd.: 18)
Diese Kausalitätsbegrenzung sollte also bedacht werden, wenn dem Leser bei Gehlen selbst oder bei mir in dieser Arbeit (s.o.: „abzuleiten“) zuweilen ein „weil“ ein „infolge“, eine
„Bedingung“ oder dergleichen begegnet.
1.3 Agenda
Gehlens Weltbild ist bereits in dem frühesten der vier o.g. Werke vollständig angelegt und auch mit einiger Systematik ausgebreitet. Dennoch bleiben einzelne Fragen unvollständig beantwortet und bedürfen der Ergänzung um eine Gehlen´sche Bemerkung an anderem Ort und / oder der eigenständigen Interpretation und Fortführung. Insgesamt sind Gehlens Ausführungen umfangreich, sprachlich und inhaltlich komplex und teilweise auch redundant. Mit dieser Arbeit möchte ich daher einen orientierenden Überblick über Gehlens Weltbild ermöglichen (Kapitel 2) und die zentralen Punkte der (berechtigten) Kritik referieren (Kapitel 3). Im einzelnen werde ich dabei so vorgehen, dass ich zunächst die (teilweise physiologischen) Ausgangsbedingungen beleuchte, an denen die Sonderstellung des Menschen in der Natur besonders augenfällig wird (Kapitel 2.1 und 2.2) und dann jene (zutiefst sozialen) Charakteristika beschreibe, die im Zentrum der Gehlen`schen Sozialphilosophie stehen (Kapitel 2.3 und 2.4.)1. In dem kritischen Teil werde ich zuerst die zentralen und naheliegenden Kritikpunkte benennen (Kapitel 3.1) und dann in einem Ausblick Überlegungen zur Fruchtbarkeit einer Gegenüberstellung von Arnold Gehlens Theorie mit derjenigen Hannah Arendts anstellen (Kapitel 3.2).
[...]
1 Bei einem Weltbild, das aus einem System gegenseitiger Voraussetzungen besteht und bei dem „die Frage, was Bedingung und was Folge ist, nicht mehr sinnvoll zu stellen“ ist (Gehlen 1956: 71), wäre es nicht weniger plausibel, von einem anderen Punkt aus zu beginnen. Gehlen selbst sagt einmal: „Wir geben darauf eine Reihe von Antworten und beginnen an irgendeinem Punkte.“ (Gehlen 1976: 334) Ich behalte hier aber die Reihenfolge bei, die auch Gehlen in „Der Mensch“ wählt, weil die zuerst genannten (teilweise physiologischen) Ausgangsbedingungen am leichtesten überschaubar und nachvollziehbar sind.
- Citation du texte
- Sascha Ackermann (Auteur), 2007, Erläuterung und Kritik: Zum Weltbild Arnold Gehlens, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112967
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