Seit der Antike befasst sich die Philosophie neben anderen Wissenschaften und den Künsten mit dem Phänomen der Melancholie, das diskursiv zwischen „Pathologiesierung und Idealisierung“ verhandelt wird. Auch Arthur Schopenhauer verweist auf den antiken Melancholiediskurs und greift etwa die Nähe des Genies zur Melancholie auf, ohne sich jedoch darüber hinaus umfänglich an ihm zu orientieren. Er verortet Melancholie nicht als Anomalie, sondern als Perspektive des Gemüts auf das Sein. In Schopenhauers Werke in fünf Bänden finden sich im Sachregister acht Verweise auf die Verwendung des Begriffs „Melancholie“ in seinem Gesamtwerk. Diese Textstellen buchstabieren den Terminus nicht immer umfänglich aus, deshalb sollen schwerpunktmäßig die Aphorismen zur Lebensweisheit als Grundlage des vorliegenden Textes dienen. Zunächst sei aber auf die Philosophischen Vorlesungen verwiesen, in denen Schopenhauer das melancholische Gefühl konkret beschreibt. Es äußere sich darin: 1) dass man beständig sinne und denke, immer gedankenvoll umhergehe, nie frei (…); 2) dass man immer an Eine Sache denke, und zwar so ausschließlich, dass man andre, oft viel wichtigere Dinge darüber aus den Augen lässt; 3) dass man die Sachen in ungünstigem, finstern Licht sehe. Um Schopenhauers Überlegungen zur Melancholie weiter zu umreißen, fragt der vorliegende Text nach Ursachen und Kausalitäten, die sie bedingen.
Seit der Antike befasst sich die Philosophie neben anderen Wissenschaften und den Künsten mit dem Phänomen der Melancholie, das diskursiv zwischen „Pathologiesierung und Idealisierung“1 verhandelt wird. Auch Arthur Schopenhauer verweist auf den antiken Melancholiediskurs und greift etwa die Nähe des Genies zur Melancholie auf, ohne sich jedoch darüber hinaus umfänglich an ihm zu orientieren. Er verortet Melancholie nicht als Anomalie, sondern als Perspektive des Gemüts2 auf das Sein. In Schopenhauers Werke in fünf Bänden3 finden sich im Sachregister acht Verweise auf die Verwendung des Begriffs „Melancholie“ in seinem Gesamtwerk. Diese Textstellen buchstabieren den Terminus nicht immer umfänglich aus, deshalb sollen schwerpunktmäßig die Aphorismen zur Lebensweisheit als Grundlage des vorliegenden Textes dienen. Zunächst sei aber auf die P hilosophischen Vorlesungen verwiesen, in denen Schopenhauer das melancholische Gefühl konkret beschreibt. Es äußere sich darin: 1) dass man beständig sinne und denke, immer gedankenvoll umhergehe, nie frei (.); 2) dass man immer an Eine Sache denke, und zwar so ausschließlich, dass man andre, oft viel wichtigere Dinge darüber aus den Augen lässt; 3) dass man die Sachen in ungünstigem, finstern Licht sehe. 4 Um Schopenhauers Überlegungen zur Melancholie weiter zu umreißen, fragt der vorliegende Text nach Ursachen und Kausalitäten, die sie bedingen.5
In den Aphorismen beschreibt er die „Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen“.6 Dem voran stellt er eine dreiteilige Bestimmung des Menschen durch die Aspekte 1.) was einer7 ist, 2.) was einer hat, 3.) was einer vorstellt8 - also 1.) die Persönlichkeit im weitesten Sinne, 2.) Besitz und Eigentum einer Person und 3.) die Außenwirkung/Fremdwahrnehmung auf/durch andere (man könnte auch sagen „was einer darstellt“, „als was einer gilt“).9 Zwar können Menschen von anderen als melancholisch wahrgenommen werden oder monetäre Ursachen mit melancholischen Gefühlen korrelieren, zunächst aber ist Melancholie ein Moment der Persönlichkeit und ihrer subjektiven Empfindungen. Von ihr hängt die individuelle Perspektive auf das Sein ab. „Daher affizieren die selben äußeren Vorgänge, oder Verhältnisse, Jeden ganz anders, und bei gleicher Umgebung lebt doch Jeder in einer andern Welt. (...) Die Welt, in der Jeder lebt, hängt zunächst ab von seiner Auffassung derselben (,..)“10 ; das selbe (objektive) Ereignis wird also vom Melancholiker (subjektiv) anders erlebt und bewertet, als etwa von einem Phlegmatiker.11 Schopenhauer pointiert: jeder steckt in seinem Bewusstsein wie in seiner Haut12 und schlussfolgert, dass für „Glück (.) das Subjektive ungleich wesentlicher, als das Objektive sei“.13 Von wesentlicher Bedeutung ist also die Individualität, denn anders als materielle Güter oder Vorstellungen wie Ruhm, ist sie beständig und andauernd wirksam, unabhängig von äußeren Umständen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass der Persönlichkeit nicht von außen beizukommen ist und innerer Leere nicht etwa mit der Anhäufung von Materiellem entgegengewirkt werden kann. Spezifische „Feinde des menschlichen Glückes“ benennt Schopenhauer mit Schmerz und Langeweile, die aus Not und Entbehrung bzw. Sicherheit und Überfluss erwachsen.14 Als Parameter für Lebensglück führt er daher Gesundheit, (Geistes-)Bildung und die Ausbildung persönlicher Fähigkeiten an; gegenüber dem bloßen Streben nach Gütern und Reichtum zeigt er sich verständnislos.15 Für ihn ist „klar, wie sehr unser Glück abhängt von Dem, was wir SIND, von unserer Individualität“, nicht von dem, „was wir HABEN, oder was wir VORSTELLEN“.16
Das, was wir sind, wird durch unser Bewusstsein bedingt, das Schopenhauer als gegebene Konstante versteht, die per Geburt „für das ganze Leben unveränderlich feststeht“.17 Von der Konstitution des Organismus - und damit des von ihm hervorgebrachten Bewusstseins - hängen die verschiedenen Temperamente ab, so auch das melancholische. Schopenhauer denkt den Menschen und seine Eigenschaften vom Leib her und vollzieht damit eine biologische Wende in der Philosophie.18 Folglich wurzelt die Melancholie für ihn nicht im Metaphysischen, sondern im Organischen: Ein ausgeglichenes Temperament bedarf eines „mehr oder minder normalen Verhältniß[es] der Sensibilität zur Irritabilität“.19 Beim „Melancholikus“20 sind die Anlagen zur Empfindsamkeit und zur Reiz-/Erregbarkeit in einem unausgewogenen Verhältnis ausgeprägt, bei ihm überwiegt die Empfänglichkeit für unangenehme Eindrücke.21 Ein „abnormes Uebergewicht der Sensibilität wird Ungleichheit der Stimmung, periodische übermäßige Heiterkeit und vorwaltende Melancholie herbeiführen“.22 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch der folgende Aphorismus: „Verdrießlichkeit und Melancholie liegen weit auseinander: von der Lustigkeit zur Melancholie ist der Weg viel näher als von der Verdrießlichkeit. Melancholie zieht an; Verdrießlichkeit stößt ab“.23 Schopenhauer trennt Melancholie von Verdrießlichkeit, zum einen aufgrund ihrer Ursachen, zum anderen wegen ihrer Wirkungen. Auf die Nähe von Lustigkeit und Melancholie wurde eben schon verwiesen, sie entsteht durch den gemeinsamen Ursprung der Hypersensibilität. Beide Pole verbinden sich insbesondere im Genie, „weil nun auch das Genie durch ein Uebermaß an Nervenkraft, also der Sensibilität, bedingt ist“24, denn „die gesteigerte Intelligenz [hat] eine erhöhte Sensibilität (...) und größere Heftigkeit des Willens, also Leidenschaftlichkeit, zur Wurzel“.25 Dem gegenüber stellt er den stumpfen Geist mit geringem Empfinden und einem Mangel an Reizbarkeit.26
Melancholie ist also keine bloße Übellaunigkeit, denn anders als die Verdrießlichkeit ist sie an die Erkenntnis geknüpft, dass „das Leiden dem Leben wesentlich ist“.27 Der Verdruß folgt der Annahme, dass Unglück von außen individuell auf eine Person einströmt, während die Melancholie erkennt, dass es aus dem Inneren eines Jeden stammt. Leid ist demnach kein personenspezifisches Schicksal, sondern dem Leben inhärent, weil es seine Ursache im Willen hat. Der Begriff Wille bezeichnet dabei keine rationale Absicht28, sondern den unersättlichen Trieb, ein ruheloses Begehren29, einen unbewussten, allem innewohnenden Lebenswillen. Schopenhauer subsumiert hierunter Schmerz, Begehren, Lust, Trieb, und jegliches Streben alles Lebendigen, nicht nur des Menschen. Alles Belebte drängt fortwährend von Wunsch zu Wunsch, jede Erfüllung birgt bereits ein neues Verlangen, was ihn zu der Erkenntnis führt, dass der „Existenz das Leiden wesentlich und wahre Befriedigung unmöglich sei“.30 Aus dieser Einsicht erwächst nach Schopenhauer „eine etwas melancholische Stimmung, das beständige Tragen eines einzigen großen Schmerzes“31 ; eine Eigenschaft, die er insbesondere „sehr edlen Charakteren“ zuspricht. Sie hat nichts mit „Verdrießlichkeit über die täglichen Widerwärtigkeiten“ gemein; sondern meint „ein aus der Erkenntnis hervorgegangenes Bewusstsein der Nichtigkeit aller Güter und des Leidens alles Lebens, nicht des eigenen allein“.32 Schopenhauers Philosophie bietet für dieses Dilemma kein teleologisches Heilsversprechen oder einen optimistischen Erlösungsgedanken an. Der „Melancholikus“ durchbricht das Rad des ewigen Wollens durch eine resignative Verneinung des (Lebens-)Willens als Folge seiner pessimistischen Erkenntnis, die ihn befreit.
Schopenhauer resümiert: „Die Melancholie ist das Glück darüber, dem treibenden Willen nicht mehr ausgeliefert zu sein, nichts mehr zu wollen.“33 Seine Überlegungen folgen der Intention, das Melancholiegefühl wissenschaftlich zu erklären, indem er einen metaphysischen Ursprung verneint und stattdessen den Zusammenhang physischer Anlagen auf die psychische Konstitution betont - ohne Melancholie als Abnormität oder Krankheit zu klassifizieren. Sie resultiert demnach nicht aus Ereignissen der objektiven Außenwelt oder durch überirdische Fügung, sondern ist das Ergebnis der subjektiven Weltwahrnehmung, die durch individuelle körperliche Anlagen zur Empfindsamkeit und Erregbarkeit bedingt ist. Er differenziert dabei zwischen Verdrießlichkeit und Melancholie, die er insbesondere als Eigenschaft des edlen Charakters und des Genies beschreibt.
[...]
1 Scheidegger (2013), 1.
2 Schopenhauer differenziert das Gemüt vom Geist, indem er die Begriffe analog zu Wille und Intellekt, respektive Bewusstsein, setzt; das Gemüt sei das belebende Prinzip und zugleich Wille, das Subjekt der Neigungen, Absichten, Leidenschaften und Affekte. (Vgl. W II, 268. In: Schopenhauer-Lexicon, 242.)
3 Lütkehaus, Ludger (1988) (Hrsg.): Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand. Haffmanns Verlag, Ulm.
4 PV III, 85.
5 Auf Grundlage des Kapitels Von dem, was einer ist. In: P I, 322 ff.
6 P I, 313.
7 Schopenhauers Texten folgend, werden im Verlauf der Arbeit nur die maskulinen Formen verwendet.
8 Siehe hierzu auch Ingenkamp, Heinz Gerd (2018): Aphorismen zur Lebensweisheit. In: Schubbe, Daniel; Koßler, Matthias (Hrsg.) (2018): Schopenhauer-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. 2. Auflage. Metzler, Stuttgart, 137.
9 Vgl. P I, 315.
10 P I, 316.
11 Vgl. ebd.
12 Ebd.
13 P I, 316.
14 P I, 327.
15 P I, 319.
16 P I, 317.
17 P I, 318.
18 Vgl. Safranski (2010), 171.
19 P I, 325.
20 P I, 316.
21 Vgl. P I, 325.
22 P I, 325.
23 P II, 505.
24 P I, 325.
25 P I, 328.
26 Ebd.
27 W I, 414.
28 Siehe hierzu auch Morgenstern, Martin (2018): Über den Willen in der Natur. In: Schubbe, Daniel; Koßler, Matthias (Hrsg.) (2018): Schopenhauer-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. 2. Auflage. Metzler, Stuttgart, 99f.
29 Vgl. Safranski (2010), 172.
30 W I, 415.
31 Ebd.
32 W I, 468. In: Schopenhauer-Lexicon, 96.
33 Scheffler (2011), 409.
- Arbeit zitieren
- Marlen Reinschke (Autor:in), 2020, Zum Melancholie-Begriff bei Schopenhauer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1128934
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