Die vorliegende Ausarbeitung stellt die Reformen des Strafverfahrens in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933-1945 dar. Dabei wird zunächst die RStPO in der Weimarer Republik und die historische und politische Situation Deutschlands vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten beschrieben. Im weiteren Verlauf werden die Ideologie, die politischen und gesellschaftlichen Ziele sowie die nationalsozialistische „Weltanschauung“ und die daraus resultierende strafverfahrensrechtliche Vorstellung ausgeführt. Im zweiten Teil werden
die konkreten und diskutierten strafrechtlichen Reformen im historischen Kontext ausführlich behandelt und zum Ergebnis Stellung bezogen. Zum Schluß werden einige strafverfahrensrechtliche Vorschriften aus dieser Zeit mit der Nachkriegs- bzw. heutigen StPO verglichen. Die Entstehung der RStPO von 1877 ist wie andere Rechtsvorschriften aus dieser Zeit (StGB von 1870 und die 1879 in Kraft getretenen Reichsjustizgesetze und schließlich das BGB im
Jahre 1900), als Produkt der Aufklärung, der Erkenntnis der Gleichheit aller Menschen und des immer mehr aufkommenden Individualismus, Liberalismus und des demokratischen Bürgerstaates zu verstehen. Allen Vorschriften gemein ist, daß der einzelne Bürger als Subjekt in das Zentrum der rechtlichen Betrachtung rückt. Zwar sind die einzelnen Grundrechte der Bürger zur Abwehr gegen den Staat noch nicht verfassungsrechtlich aber doch einzelgesetzlich garantiert. Neben dem zivilrechtlichen Anspruchsaufbau mit dem Ziel des Ausgleichs zwischen den Parteien, ist der Beschuldigte im Strafverfahren nicht nur Objekt der
Rechtsvorschriften, sondern erhält Rechtsgarantien gegen den Staat. Kennzeichnend für die RStPO, die in ihrer Grundstruktur und ihrem wesentlichen Inhalt nach der heutigen StPO entspricht, waren das Offizialprinzip, das das Einleiten und Betreiben des Strafverfahrens von Amts wegen sicherstellt, die Instruktionsmaxime als selbständige, antragsungebundene von Amts wegen durchzuführende Sachverhaltsaufklärung, das
Akkusationsprinzip, das die Identität von Ankläger und Richter beseitigte und damit sicherstellt, daß nur die in der Anklage der Staatsanwaltschaft bezeichnete Tat Gegenstand der gerichtlichen Urteilsfindung sein kann. Der Inquisitionsprozeß und die Folter wurden abgeschafft.
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
A. Darstellung
I. Einführung in das Thema
1. Die ursprüngliche RStPO
2. Prinzipien des Strafverfahrens
3. Die nationalsozialistische Bewegung
II. Nationalsozialistische Staatsauffassung und Ideologie
1. Nationalsozialistische Treuepflicht der Volksgenossen
2. Materiell-rechtliche Voraussetzungen im Strafrecht
3. Der Führer als Rechtsquelle
4. Der nationalsozialistische Strafprozeß
a) Das Strafverfahren als Reinigungsverfahren
b) Widerstand gegen die Übertragung des Führerprinzips in die Gerichtsverfassung und das Strafverfahrensrecht
III. Reformarbeiten zum Strafverfahren 1933-1944
1. Chronologie der Reformen
a) Sondergerichte
b) Parteigerichte als Sondergerichte
c) Gesetzreform der RStPO
d) Urteilskorrekturen
2. Vorarbeiten der amtlichen Strafrechtsreformkommission
a) Schnelle Justiz
b) Gerechte, autoritäre und volksverbunde Justiz
c) Ergebnis und Reaktionen
3. Entwurf der Strafverfahrensordnung von 1939
4. Umgesetzte Reforemen
B. Reformen mit Nachwirkungen
1. Erste Vernehmung und Akteneinsicht
2. Ehrkränkungsverfahren und Anfechtungsrecht Dritter
3. Kreuzverhör
4. Vereidigung von Zeugen
5. Vermuteter Begehungsvorsatz als Haftgrund
6. Benachrichtigung von Angehörigen
7. Körperliche Untersuchung
8. Adhäsionsverfahren
C. Fazit, Ausblick
Literaturverzeichnis
a) Lehrbücher
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
b) Aufsätze und Zeitschriften
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
c) andere Quellen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abkürzungen entsprechen:
Kirchner, Hildebert, Abkürzungen für Juristen, 2. Auflage, Berlin 1993
A. Darstellung
I. Einführung in das Thema
Die vorliegende Ausarbeitung stellt die Reformen des Strafverfahrens in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933-1945 dar. Dabei wird zunächst die RStPO in der Weimarer Republik und die historische und politische Situation Deutschlands vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten beschrieben. Im weiteren Verlauf werden die Ideologie, die politischen und gesellschaftlichen Ziele sowie die nationalsozialistische „Weltanschauung“ und die daraus resultierende strafverfahrensrechtliche Vorstellung ausgeführt. Im zweiten Teil werden die konkreten und diskutierten strafrechtlichen Reformen im historischen Kontext ausführlich behandelt und zum Ergebnis Stellung bezogen. Zum Schluß werden einige strafverfahrensrechtliche Vorschriften aus dieser Zeit mit der Nachkriegs- bzw. heutigen StPO verglichen.
1. Die ursprüngliche RStPO
Die Entstehung der RStPO von 1877 ist wie andere Rechtsvorschriften aus dieser Zeit (StGB von 1870 und die 1879 in Kraft getretenen Reichsjustizgesetze[1] und schließlich das BGB im Jahre 1900), als Produkt der Aufklärung, der Erkenntnis der Gleichheit aller Menschen und des immer mehr aufkommenden Individualismus, Liberalismus und des demokratischen Bürgerstaates zu verstehen. Allen Vorschriften gemein ist, daß der einzelne Bürger als Subjekt in das Zentrum der rechtlichen Betrachtung rückt. Zwar sind die einzelnen Grundrechte der Bürger zur Abwehr gegen den Staat noch nicht verfassungsrechtlich aber doch einzelgesetzlich garantiert. Neben dem zivilrechtlichen Anspruchsaufbau mit dem Ziel des Ausgleichs zwischen den Parteien, ist der Beschuldigte im Strafverfahren nicht nur Objekt der Rechtsvorschriften, sondern erhält Rechtsgarantien gegen den Staat.
2. Prinzipien des Strafverfahrens
Kennzeichnend für die RStPO, die in ihrer Grundstruktur und ihrem wesentlichen Inhalt nach der heutigen StPO entspricht, waren das Offizialprinzip, das das Einleiten und Betreiben des Strafverfahrens von Amts wegen sicherstellt, die Instruktionsmaxime als selbständige, antragsungebundene von Amts wegen durchzuführende Sachverhaltsaufklärung, das Akkusationsprinzip, das die Identität von Ankläger und Richter beseitigte und damit sicherstellt, daß nur die in der Anklage der Staatsanwaltschaft bezeichnete Tat Gegenstand der gerichtlichen Urteilsfindung sein kann. Der Inquisitionsprozeß und die Folter wurden abgeschafft.
3. Die nationalsozialistische Bewegung
Dem aufklärerischen Gedanken des Liberalismus und der Demokratie stand eine starke Gegenbewegung in einem äußerst konservativen und nationalistischen Umfeld gegenüber, die von Sozialdarwinismus (Rudolf v. Ihering), Naturrecht und Rassenlehre (Otto Gierke)[2] geprägt war. In Deutschland herrschte Revolutionsstimmung. Ein Teil der Bürger war vom Wert eines aufgeklärten, rechtsstaatlichen Systems nicht überzeugt. Die Staatsverfassung war labil und sah sich mit einer Vielzahl von wirtschaftlichen, politischen und militärischen Problemen konfrontiert, die sie nur unbefriedigend lösen konnte[3]. Die Nationalsozialisten nahmen diese Strömung auf und machten sie sich im Rahmen einer eigenen „Weltanschauung“ zunutze[4]. Der Nationalsozialismus ist zunächst und vor allem als Protestbewegung entstanden und hat sich negativ definiert: Gegen die Novemberrevolution, gegen Demokratie, Parlamentarismus und Gewaltenteilung, gegen die Kriegsniederlage, gegen Versailles, gegen das Wirtschaftssystem, gegen Rationalismus und Materialismus[5]. Dabei war der radikaler Durchsetzungswille ihrer „Weltanschauung“ sowohl politisch als auch „volksnah“ in Form von straff organisierten Aufmärschen immer klar erkennbar. Die in der Richterschaft und Rechtswissenschaft vorherrschende rechts-konservative Gesinnung erleichterte den Nationalsozialisten die Machtübernahme[6].
II. Nationalsozialistische Staatsauffassung und Ideologie
Der Nationalsozialismus lehnte offen jede Form des Liberalismus, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ab. Propagiert wurde ein radikaler, autoritärer, deutscher Nationalstaat. Im Vordergrund stand dabei die blutsmäßige Zugehörigkeit zur deutschen Volksgemeinschaft und zur „arischen“ Rasse. Im Gegensatz zu einer Gesellschaft, die pluralistisch ist und der grundsätzlich jeder Mensch angehören kann, kann der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft nur angehören, wer blutsmäßig ihr zugehört. „Die Rassereinheit des deutschen Volkes“ war ein zentrales Anliegen der NSDAP und Hitler warnt bereits in „Mein Kampf“ vor der Verschmelzung der Rassen[7] und regelte den „Blutschutz“ in den „Nürnberger Gesetzen“[8] umfassend und unnachgiebig.
Zusammenfassend läßt sich die nationalsozialistische Ideologie auf die schmale Formel reduzieren „Du bist nichts – Dein Volk ist alles“. Demgemäß waren alle bestehenden Gesetze und Verordnungen auszulegen bzw. alle neuen Gesetze und Verordnungen auf diesen einzigen Zweck hin auszurichten. Nicht alle Rechtsvorschriften konnten schlagartig beseitigt oder reformiert werden. Vor den nationalsozialistischen Einflüssen blieb fast kein Rechtsgebiet verschont. Schaffstein stellte dazu fest: Fast alle Sätze, Begriffe und Unterscheidungen unseres bisherigen Rechts sind vom Geist der Aufklärung berührt und bedürfen deshalb der Umformung und Neugestaltung auf der Grundlage eines neuen Denkens und Erlebens.[9] Die Jurisprudenz war sich in der Ablehnung des demokratischen Rechtsstaats einig. Er verkörperte für sie eine Verfallsform des bürgerlichen Rechtsstaats[10] und seine Grundlagen Demokratie, Freiheitlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Pluralismus der Weltanschauungen, waren der nationalsozialistischen, eigenen deutschen Art, die Welt anzuschauen, entgegengesetzt und widerwärtig[11]. Vor allem aber im Strafrecht hatte man die durchgreifendste und wirkungsvollste Methode, auf die Menschen im Staate einzuwirken und Widerstände gegen die nationalsozialistische „Weltanschauung“ zu brechen.
1. Nationalsozialistische Treuepflicht der Volksgenossen
Die Richterschaft war bereits durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 07. April 1933 ihrer gesicherten Rechtsstellung und richterlichen Unabhängigkeit praktisch beraubt worden. Politisch mißliebige, nicht „arische“ Richter und Richter, die nicht die Gewähr dafür boten, „jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten“, wurden aus dem Justizdienst entfernt. Es konnten aber auch Richter ohne diese Begründung entlassen werden, selbst „wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen“.[12] Recht sprechen sollte in Zukunft nur noch, wer in seinem Volke lebt, mit seinem Volke fühlt und das Recht da sucht, wo es entspringt, im gesunden Empfinden des Volkes.[13] Was das „gesunde Empfinden des Volkes“ genau war, blieb bewußt nebulös. Der neue Richter sollte sich nicht mehr angstvoll an ein formalistisch-abstraktes Rechtssicherheitsprinzip klammern müssen, vielmehr sollte die Rechtsanwendung gegebenenfalls ihre Schranken finden in der im Gesetz zutage tretenden, vom Führer verkörperten Rechtsanschauung des Volkes[14]. Dazu war es notwendig, sich so schnell wie möglich vom Grundsatz „nulla poena sine lege“ zu verabschieden. Die Aufgabe dieses Grundsatzes beseitigte gleichzeitig das Rückwirkungsverbot und das Analogieverbot, aus dem sich der Grundsatz zusammensetzt. Das Rückwirkungsverbot fiel bereits 1933 mit dem Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe, der sogenannten Lex van der Lubbe im Reichstagsbrandprozeß. Hier hatte das Reichsgericht in einer mörderischen Rechtskonstruktion eine rückwirkende Erhöhung der Rechtsfolge als vom Rückwirkungsverbot nicht umfaßt angesehen. Wenn auch dieser Prozesses im Ergebnis durchaus im Sinne der Nationalsozialisten sein konnte, wurde das Urteil von Nationalsozialisten allenthalben als „glattes Fehlurteil“ kritisiert. Hitler sprach von einem lächerlichen Ergebnis des Prozesses[15]. Das Reichsgericht hatte noch einmal versucht, an den alten Rechtsgrundsätzen festzuhalten. Von dem neuen Richter im nationalsozialistischen Staat wurde aber erwartet, daß er mit „gesundem Vorurteil“ an einen Fall heranging und Werturteile fällte, die der nationalsozialistischen Rechtsordnung und dem Willen der politischen Führung entsprechen[16].
2. Materiell-rechtliche Voraussetzungen im Strafrecht
Das Analogieverbot wurde mit der Neuformulierung des §2 des Strafgesetzbuches im Juni 1935 beseitigt: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach dem gesunden Volksempfinden Bestrafung verdient.“ Der neue Grundsatz lautete nun nulla crimen sine poena, worüber Carl Schmidt feststellte, daß jeder diesen Grundsatz heute als die höhere und stärkere Rechtswahrheit empfinde[17]. Allerdings hat dieses Gesetz nicht die praktische Bedeutung errungen, wie man zunächst vermuten könnte. In der Rechtspraxis brauchte man nur „in Notfällen“ auf den § 2 StGB zurückgreifen. Die Rechtswissenschaft hatte längst methodisches Rüstzeug entwickelt, das die Anwendung dieser Vorschrift eigentlich überflüssig machte. So wie man im Zivilrecht allein mit den §§ 138 und 242 BGB die weitere Anwendung des rechtsgeschäftlichen Teils der BGB-Vorschriften verhindert kann, so konnte man im Strafrecht auf die in den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelten „wissenschaftlichen“ Ansätze wie Tätertyplehre, materieller Verbrechensbegriff oder schöpferische Gesetzesauslegung und ganzheitliche Wesensschau zurückgreifen und damit direkt zum selben Ergebnis kommen.
3. Der Führer als Rechtsquelle
Nachdem also nun die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz beseitigt war, alle Behörden gleichgeschaltet waren und Generalklauseln, Zulassung der Analogie, Anerkennung des gesunden Volksempfindens als Rechtsquelle[18] -später die „Kundmachung des Führers“ als Wegweiser der Rechtsfindung[19] - und Zulassung der unmittelbaren Erkenntnis des Rechts[20] offizielle Kriterien des nationalsozialistischen Strafrechts geworden waren, stellt sich die Frage, ob ein Strafgesetz nicht schlicht entbehrlich war.
Tatsächlich wurde dies erörtert. Die Erkenntnis der Unmöglichkeit einer Erfassung aller Tatbestände durch einzelne Gesetzesnormen lege es nahe, ganz von der Aufstellung von Einzeltatbeständen abzusehen und in wenigen allgemeinen Grundsätzen dem Richter nur Richtlinien zu zeigen, nach denen er einen Tatbestand strafrechtlich zu erfassen habe.[21] Daß dadurch für den einzelnen die Erkennbarkeit des Gesetzes und die Berechenbarkeit seiner Rechtsfolgen verschwinden würde, sei ein ausdrücklich wünschenswertes Ziel[22], fand Heinrich Henkel.
4. Der nationalsozialistische Strafprozeß
Nach dem oben gesagten muß man feststellen, daß es für die Machthaber im nationalsozialistischen Staat keinen Grund geben konnte, sich mit Strafverfahrensvorschriften juristisch fundiert auseinanderzusetzen. Solche Überlegungen konnten –wenn überhaupt- erst nach der Revolution Platz greifen.
Die nationalsozialistische Vorstellung von einem Strafprozeß war daher auch leicht verständlich und eindeutig. Sinn des Strafprozesses sei es, herauszufinden, ob der Beschuldigte –ähnlich dem Disziplinarverfahren- nur „pflichtvergessen“ gehandelt hatte und deshalb für die Volksgemeinschaft noch nicht verloren war, oder ob er aus der Volksgemeinschaft entfernt werden mußte[23]. Im Vordergrund stand nach Auffassung des Reichsrechtsamtes der NSDAP die „völkische Treuepflicht“ mit dem Ziel den „Schutz der Volksgemeinschaft“ zu gewährleisten[24]. Ausweislich dieser Vorstellung sollte der Strafprozeß in erster Linie den Täter und nicht die Tat beurteilen. Nicht, ob der Beschuldigte einen Menschen gemordet hatte, galt es zu untersuchen, sondern ob der Beschuldigte Mörder war. Diese Anschauung ist Grundlage der „wissenschaftlichen“ Weiterentwicklung der Tätertyplehre. Wie man prozeßual zu diesem Ergebnis kam, war zweitrangig oder sogar unbedeutend. Stellte das Gericht fest, daß der Beschuldigte für die Volksgemeinschaft nicht mehr tragbar war, wurde er von ihr ausgeschlossen und so behandelt wie Juden, Zigeuner, Polen und alle anderen, die bereits blutsmäßig außerhalb der Volksgemeinschaft standen; sie wurden „ausgemerzt“[25].
a) Das Strafverfahren als Reinigungsverfahren
Im Strafverfahren selbst knüpfte die nationalsozialistische Vorstellung an eine Vielzahl von strafrechtlichen Atavismen an, die man längst für überwunden gehalten hatte. Da es im Strafverfahren nicht darauf ankam, dem Angeklagten seine persönliche Schuld nachzuweisen, sondern die Ehre des Volkes zu schützen und den Treueverstoß des Einzelnen zu werten, sah sich der Angeklagte vielmehr einem Klagevorwurf ausgesetzt, von dem er sich zu reinigen hatte. Das Strafverfahren als eine Art Selbstreinigungshandlung des Volkes[26] führte dann in der Konsequenz zur Entfernung des „Volksschädlings“ aus der Gemeinschaft, eben zur wertbetonten Typensonderung[27]. An das aus der germanischen Historie[28] bekannte Reinigungsverfahren wollten aber auch die Nationalsozialisten nicht direkt anknüpfen. Um nicht in Erklärungsnöte zu geraten, wurde die Strafe zugleich und vornehmlich als Ehrenstrafe[29] und das Strafverfahren als Ehrenverfahren[30] propagiert. Diese Vorstellung entsprach dem grundsätzlichen nationalsozialistischen Verständnis von Ehre, Treue und Kampf. Der Kampf bedeutete in seiner Konsequenz für das Strafverfahren und auch das Zivilverfahren, daß es nur Sieger und Besiegte geben konnte, also Verurteilung oder Freispruch; ein Strafverfahren konnte also nicht, nachdem Anklage erhoben worden war, einfach eingestellt werden. Treffend kommt diese Ansicht in den von Rechtswissenschaftlern des Reichsrechtsamtes der NSDAP entwickelten Leitsätzen zum Strafrecht zum Ausdruck:
Das nationalsozialistische Strafrecht muß auf der völkischen Treuepflicht aufgebaut sein: Die Treuepflicht ist für nationalsozialistisches und deutsches Denken höchste völkische und daher sittliche Pflicht. ... Der Verletzung der Treuepflicht folgt grundsätzlich der Verlust der Ehre. Aufgabe des nationalsozialistischen Staates ist es, den Treuebrecher, der durch Treuebruch aus der Gemeinschaft ausgeschieden ist, durch gerechte sühnende Bestrafung zu treffen. Gerechte Bestrafung dient der Festigung, dem Schutz und der Sicherung der Volksgemeinschaft, dient aber auch der Erziehung und Besserung des Verbrechers und noch nicht verlorener Volksgenossen.[31]
Georg Dahm wollte sogar im einfachen Diebstahl bereits einen Treuebruch gegenüber Führer und Volk sehen[32].
[...]
[1] GVG, KO, ZPO, RechtsanwaltsO
[2] Hattenhauer, Rdnr. 632
[3] Hattenhauer, Rdnr. 633
[4] Rüping, § 10, Nr. 1.a)
[5] Lösche, S. 94
[6] vgl. Rüping, § 9, Nr. 4: Urteile zur Münchner Räterepublik 1919, zum Kap-Putsch 1920 und Hitler-Putsch 1923
[7] Mein Kampf, S. 313
[8] RGBl I 1935, S. 1146
[9] Schaffstein, S. 26
[10] Forsthoff, S. 26
[11] Finke, S. 18
[12] § 1, Abs I Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 07. April 1933, RGBl I, S. 175
[13] Niethammer, DStrR 1937, S. 135
[14] Koellreutter, S. 10
[15] Vgl. Picker, S. 199
[16] Dahm, Ermessen, S. 90
[17] Schmidt, DJZ 1933, Sp. 860
[18] Freißler, DJ 1935, S. 1251 f.
[19] § 2 Abs. 1 im StGB-Entwurf von 1939
[20] s. o. Rdnr 16
[21] Brinkmann, DriZ 1935, S. 231
[22] Henkel, S. 37
[23] vgl. „Generalformel“ bei Frank, NS-Handbuch, a.a.O.
[24] Leitsätze RRA, S. 11
[25] vgl. Rassengesetze/Nürnberger Gesetze, 1935 RGBl I, S. 1146
[26] Freißler, Grundzüge, DStrR 1935, S. 228
[27] Dahm, Erneuerung, DJZ 1934, Sp 831
[28] aus der sich auch das Hakenkreuz ableitet
[29] Schaffstein, DR 1935, S. 269, 271
[30] Dahm, Staatsanwalt, DStrR 1935, S. 257, 261
[31] Leitsätze RRA, S. 34
[32] Dahm, Grundfragen, S. 103
- Citar trabajo
- Tobias Julius (Autor), 1999, Reformarbeiten im Strafverfahrensrecht zur Zeit der NS-Diktatur, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112802
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