Norbert Elias erörtert in seinem Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation“, das zu den Standardwerken der Soziologie zählt, eine prozesshafte Wechselwirkung von Psyche und Gesellschaft. Er unterstreicht damit den Anspruch der Soziologie Modernisierung und gesellschaftliche Entwicklung auf der Makroebene zu erklären, indem er psychische Funktionen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft analysiert. Die hohe Aussagekraft der Zivilisationstheorie (im Folgenden mit ZT abgekürzt) ist auf ihre interdisziplinäre Ausrichtung und ihren Prozesscharakter zurückzuführen. Sie ermöglicht es, langfristige kulturgeschichtliche Vorgänge zu verstehen und zu erklären. Dies unterscheidet sie von der zeitgenössischen soziologischen Theorie und der Beschreibung von Gegenwartstendenzen, die einen engeren Bezugsrahmen wählen. Die Emotion Scham ist in Elias´ ZT ein zentraler Indikator. Sie ermöglicht es zwei Diagnosen zu stellen. Zum einen verrät sie das Ausmaß der in Selbstzwänge verwandelten Ängste und gibt damit Aufschluss über psychische und kognitive Strukturen (vgl. Elias 1997b: 456). Zum anderen spiegelt sie den Grad der gesellschaftlichen Differenzierung und Integration, also die Verflechtungsdichte zwischen den Individuen, wieder (vgl. Elias 1997a: 10f). Die Analyse von Schamschwellen liegt deshalb im Fokus der empirischen Arbeit von Elias und seinen Schülern.
In seinem fünfbändigen Werk „Der Mythos vom Zivilisationsprozess“ übt Hans Peter Duerr eine fundamentale Kritik an der Eliasschen ZT. Sein Ziel ist dabei kein geringeres als die gänzliche Falsifizierung der ZT. Duerr behauptet, dass Scham- und Peinlichkeitsaffekte keiner evolutionären Entwicklung in Richtung eines zunehmenden Standards unterliegen, obwohl er ihre Pluralität in historischen und geographischen Räumen nicht bestreitet (vgl. Duerr 1999: 358). Seine Kritik setzt bei der Prozesshaftigkeit der ZT an. Methodisch versucht er diese anhand einer Vielzahl empirischer Beispiele zu widerlegen, indem er Schamschwellen verschiedener Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart analysiert. So werden Beispiele für unzivilisiertes Verhalten in modernen Gesellschaften und zivilisiertes Verhalten in archaischen Ge-sellschaften aufgezeigt.
Inhaltsverzeichnis
- Einführung
- Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias
- Soziogenese und Psychogenese
- Herzstück und Funktionalität der Zivilisationstheorie
- Rationalisierung
- Scham und Peinlichkeit
- Affekt und Trieborganisation
- Differenzierung und Verflechtung
- Elias' Psychogenesekonzept
- Psychoanalytische Psychogenese
- Angst als Fremd- und Selbstzwang
- Georg Simmel: Scham in der Emotionssoziologie
- Hans Peter Duerr
- Duerrs Verflechtungstheorie
- Duerrs "Theorie" der Körperscham
- Cas Wouters: Informalisierung und Scham
- Fazit
- Diskussion: Georg W. Oesterdiekhoffs alternatives Psychogenesemodell
- Zivilisation und Piagets Stadientheorie
- Moderne und Vormoderne - Psychische Entwicklung
- Schluss
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit der Rolle der Scham im Zivilisationsprozess, wie sie von Norbert Elias in seinem Hauptwerk "Über den Prozess der Zivilisation" beschrieben wird. Ziel der Arbeit ist es, Elias' Schamkonzept im Licht der Kritik von Hans Peter Duerr und im Vergleich mit anderen Theorien der Scham zu analysieren und zu bewerten. Dabei wird die Frage untersucht, ob Elias' Schamkonzept trotz der Kritik Duerrs und im Vergleich mit anderen Theorien haltbar ist.
- Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias
- Die Bedeutung der Scham in Elias' Theorie
- Die Kritik von Hans Peter Duerr an Elias' Zivilisationstheorie
- Die Mehrdimensionalität der Scham
- Alternative Ansätze zur Erklärung von Zivilisationsprozessen
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel führt in die Thematik der Scham im Zivilisationsprozess ein und stellt die Leitfrage der Arbeit vor. Es wird die Bedeutung der Scham als Indikator für psychische und gesellschaftliche Entwicklungen im Rahmen von Elias' Zivilisationstheorie erläutert.
Das zweite Kapitel bietet eine systematische Darstellung der Zivilisationstheorie von Norbert Elias. Es werden die zentralen Funktionszusammenhänge, die Systematik und die Motoren der Theorie beleuchtet. Besonderes Augenmerk wird auf Elias' Psychogenesekonzept gelegt, das die Entwicklung von Selbstzwängen und Affektstrukturen im Laufe der Zivilisation beschreibt.
Das dritte Kapitel widmet sich der Bedeutung der Scham in Georg Simmels Emotionssoziologie. Es wird ein Vergleich mit Elias' Schamkonzept gezogen und die Möglichkeit von Ergänzungen und Erweiterungen der Zivilisationstheorie diskutiert.
Das vierte Kapitel behandelt die Kritik von Hans Peter Duerr an Elias' Zivilisationstheorie. Es werden Duerrs Argumentation und Methodik sowie die Aufnahme der Kontroverse in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit analysiert. Besonderes Augenmerk wird auf Duerrs Verständnis der Scham, seine Verflechtungstheorie und seinen Entwurf einer "Theorie der Körperscham" gelegt.
Das fünfte Kapitel untersucht die Bedeutung der Informalisierungsthese von Cas Wouters für Elias' Schamkonzept. Es wird die Frage diskutiert, inwieweit die Informalisierungsprozesse der modernen Gesellschaft die Schamstandards beeinflussen.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen den Zivilisationsprozess, die Scham, die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, die Kritik von Hans Peter Duerr, die Mehrdimensionalität der Scham, die Emotionssoziologie von Georg Simmel, die Informalisierungsthese von Cas Wouters und alternative Ansätze zur Erklärung von Zivilisationsprozessen.
- Citar trabajo
- Sebastian Theodor Schmitz (Autor), 2008, Scham im Zivilisationsprozess, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112793
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