[...] Kaum einer, der es nicht erlebt hat und kopfschüttelnd der Hunderten von
Menschen gedenkt, könnte sich heute vorstellen, ein aktives Mitglied der
Menschenmenge gewesen zu sein, die nach dem „Totalen Krieg“ im Berliner
Sportpalast zur Zeit des Nationalsozialismus schrie.
Wer sich als rational denkendes Individuum versteht, aber dennoch eine
Vorliebe für deutsche Punkmusik besitzt, kann auch heute noch dieses Phänomen an
der eigenen Person entdecken. Man muss nur inmitten Tausend Anderer die
Berliner Band „Die Ärzte“ nach dem „Totalen Brötchen“ fragen hören, um spätestens
bei der Wiederholung der Frage ein langanhaltendes „ja“ vom gesamten Publikum,
sich selbst eingeschlossen, zu bekommen.
Der entscheidende Punkt dieser Beobachtung ist nicht, dass Menschen, die in
einer Menge aufgehen, noch absurderen Fragen zustimmen können - außerhalb der
Frage steht auch, wie die Masse antworten soll (das alles kann befohlen werden).
Daraus ist vielmehr die Tatsache abzuleiten, dass sich ein Individuum durch die
Masse verliert und in einen irrationalen Herdenrausch eintritt, der leicht zu
beobachten, aber nur schwer zu begründen ist.
Der Einzelne ist an sich, auch ohne die Anwesenheit anderer, durch die
permanenten gesellschaftlichen und „institutionellen Reize“2 als „ständiger
Massenmensch“ anzusehen, als welcher er wenig Individualität besitzt und größtenteils ausschließlich von „Glücks, Herrschafts-, und Anpassungsmotiven“3
bestimmt wird.
Individuell kann nur noch die Wahl der Massen sein, für die man sich
entscheidet. Jeder findet sich in Massen wieder, die völlig unterschiedlich motiviert
sein können. Eine „organisierte Masse“4 kann ohne sichtbare Zusammenscharung
aus einem ganzen Volk bestehen, das ihrem Führer bedingungslos folgt, wie die
Ratten aus Hameln ihrem Fänger. Eine „psychologische Masse“5 können aber auch
ein halbes Dutzend Hausfrauen ausmachen, die bei Schlussverkäufen unter dem sich
öffnenden Gittervorhang des Kaufhauseingangs durchrobben, um sich anschließend
beim Kleiderstand die Herrenhemden aus den Händen zu reißen. [...]
2 vgl. Walter Beck: Sozialpsychologie, Hamburg 1948, Verlag H.H. Nölke
3 Wilhelm Gubisch: Hellseher, Scharlatane, Demagogen. Eine experimentelle Untersuchung zum Problem der
außersinnlichen Wahrnehmung und der suggestiven Beeinflussung einzelner Menschen und Menschenmassen.
Kritik an der Parapsychologie, München 1961, Ernst Reinhardt Verlag, S.201
4 & 5 Le Bon: Psychologie der Massen, Leipzig, Alfred Kröner Verlag, S.10
Inhaltsverzeichnis
- EINLEITUNG
- HAUPTTEIL
- Die Masse
- Suggestion
- Die Führung von Massen
- Beispiele des Massenwahns
- SCHLUSS
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Dieser Text befasst sich mit dem Phänomen des Massenwahns und analysiert seine Ursachen, Mechanismen und Auswirkungen. Er untersucht die psychologischen Prozesse, die in einer Masse ablaufen und wie Individuen durch den Verlust ihrer Individualität zu irrationalem Verhalten neigen.
- Die Auswirkungen der Masse auf das Individuum
- Die Rolle von Suggestion und Führung im Massenwahn
- Die Bedeutung der kollektiven Selbstentfremdung
- Beispiele von Massenwahn in der Geschichte
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung stellt die Thematik des Massenwahns vor und führt in die Problematik ein. Sie beleuchtet die Schwierigkeit, sich selbst vor Massenwahnvorstellungen zu schützen und zeigt anhand von Beispielen die Allgegenwart des Phänomens auf.
- Im ersten Abschnitt des Hauptteils wird der Begriff der „Masse“ definiert und ihre charakteristischen Merkmale werden analysiert. Der Text beleuchtet den Verlust der Individualität in der Masse und die damit einhergehende Abwesenheit von rationalem Denken und ethischem Verhalten.
- Der zweite Abschnitt des Hauptteils untersucht die Rolle der Suggestion im Massenwahn. Er beschreibt, wie durch die Beeinflussung durch andere Individuen das eigene Denken und Handeln beeinflusst werden kann.
- Der dritte Abschnitt des Hauptteils konzentriert sich auf die Führung von Massen. Er analysiert die Mechanismen, wie einzelne Personen durch ihre Charisma und Rhetorik ganze Massen manipulieren und lenken können.
- Der vierte Abschnitt des Hauptteils bietet verschiedene Beispiele von Massenwahn aus der Geschichte. Anhand dieser Beispiele wird die Macht des Massenwahns und seine destruktiven Folgen aufgezeigt.
Schlüsselwörter
Massenwahn, Masse, Suggestion, Führung, Individuum, kollektive Selbstentfremdung, irrationales Verhalten, Geschichte, Beispiele, Psychologie, Zeitströmung.
- Citation du texte
- Patrick Nitsch (Auteur), 2002, Massenwahn als soziologisches Phänomen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11270