Habermas'These nach ist der Rechtsstaat ohne radikale Demokratie weder zu haben noch zu erhalten. Damit zeigt sich ein eng interner Zusammenhang zwischen Demokratie und Rechtsstaat. Diesen Zusammenhang versucht der Autor in der vorliegenden Magisterarbeit herauszuarbeiten. Es führt zum Ergebnis, dass für Habermas sich Demokratie und Rechtsstaat einander gegenseitig voraussetzen.
INHALT
EINLEITUNG
I. KAPITEL: DISKURSTHEORIE DES RECHTS
I.1. Soziologisches Rechtskonzept
I.2. Philosophisches Gerechtigkeitskonzept
I.3. Habermas’ Diskurstheorie des Rechts
I.3.1. Die kommunikative Rationalität
I.3.2. Das System der Rechte
I.3.3. Die Prinzipien des Rechtsstaats
I.3.3.1. Zur Idee des Rechtsstaats
I.3.3.2. Prinzipien des Rechtsstaats
A. Das Prinzip der Volkssouveränität
B. Das Prinzip des umfassenden individueller Rechtsschutzes
C. Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
D. Das Prinzip der Trennung von Staat und Gesellschaft
II. KAPITEL: DER DISKURSBEGRIFF DER DEMOKRATIE
II.1. Das empirische Demokratiekonzept
II.2. Das normative Demokratiemodell
II.2.1. Das <liberale> und das <republikanische> Demokratiemodelle
II.2.2. Demokratie als deliberative Politik
II.3. Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft
II.3.1. Politische Öffentlichkeit
II.3.2. Zivilgesellschaft
III. KAPITEL: ZUM DEMOKRATISCHEN RECHTSSTAAT
III.1. Rechtsparadigmen
III.2. Das Verhältnis von Moral und Recht
III.3.Was ist demokratischer Rechtsstaat?
SCHLUSSBETRACHTUNG
LITERATURVERZEICHNIS
LEBENSLAUF
O. EINLEITUNG
Das 1991 veröffentliche “Erkenntnis und Interesse„ leitet eine entscheidende Wende im Denken Habermas ein: aus dieser Schrift geht die Modifizierung seines Universalismus hervor, der in der von ihm 1992 in “Faktizität und Geltung” entfalten Rechtstheorie einen Gegenstand zeigt, welcher der Moral sehr nahesteht. Hier versucht Habermas, seine ihm am Herzen liegende These”[1] zu verteidigen, nämlich dass es keinen Rechtsstaat ohne radikale Demokratie gebe. Der Titel dieses Habermas’ Buchs[2] “kennzeichnet die Richtung, in die sein Denken sich in den letzten zehn Jahre entwickelt hat”[3].
Die These der <radikalen Demokratie als Voraussetzung für einen Rechtsstatt > geht laut Horster bereits auf Habermas Buch “Student und Politik” zurück. Habermas geht von einer Feststellung aus, dass die Politik in den rechtsstaatlich und demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens Orientierung und Selbstbewusstsein auf der einen Seiten verliere und dass die bestehenden Institutionen der Freiheit in den etablierten Demokratien auf der anderen nicht mehr unangefochten seien, “obgleich die Bevölkerungen hier eher auf mehr denn auf weniger Demokratie zu drängen scheinen”[4].
Auf Hintergrund dieser Beunruhigung sieht Habermas nicht nur die Herausforderungen einer ökologischen Begrenzung des ökonomischen Wachstums und der zunehmenden Disparität der Lebensverhältnisse im Norden und Süden, die historisch einzigartige Aufgabe einer Umstellung staatssozialistischer Gesellschaften auf Mechanismen eines ausdifferenzierten Wirtschaftssystems, den Druck der Migrationströme aus den verelendeten Regionen des Südens und nun auch aus Ost - Europa, die Risiken erneuerter ethischer, nationaler und religiöser Kriege usw., sondern und vor allem den Mangel einer radikalen Demokratie, die dennoch die Voraussetzung für den Bestand des Rechtsstaats ist. Denn so betont Habermas Klaus Günther inanspruchnehmend , nur eine radikale Demokratie ermöglicht das Zustandekommen der Rechtsnormen in Begründungsdiskursiven und somit ihre Auslegung in Anwendungsdiskursiven[5]. Dies drückt bereits der Untertitel von “Faktizität und
Geltung„, nämlich “Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats„. Diese bilden den Leitgedanken der Habermas’ Rechtstheorie. Ihm geht es um
das Herausfinden und die Erklärung des internen Zusammenhangs zwischen Rechtsstaat und Demokratie, welcher durch den Ausdruck <demokratischen Rechtsstaat> übersetzt wird. Habermas selbst hält seinen Versuch, “radikale„ Demokratie und Rechtsstaat miteinander zu verbinden, für einen “Beitrag„ zu der bisherigen Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats[6]. Dieser Beitrag von Habermas soll in der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet und zugleich dargestellt werden.
Unsere Untersuchung besteht aus drei Kapiteln. In dem ersten Kapitel wird Habermas’ Rechtstheorie, welche die Spannweite zwischen soziologischen Rechts- und philosophischen Gerechtigskeitstheorien aufnimmt und die als eine Rekonstruktion der Diskurstheorie des rechts erscheint, dargestellt. Dabei geht Habermas von seiner Theorie des kommunikativen Handelns aus, welche die praktische Vernunft durch die kommunikative ersetzt, um das System der Rechte sowie die Prinzipien und somit die Idee des Rechtsstaates zu bestimmen. Das zweite Kapitel skizziert Habermas’ Demokratiebegriff, nämlich den Begriff <deliberative Politik>. Dieser Begriff erscheint gegenüber den zwei anderen normativen Demokratiemodellen – d.h. dem liberalen und dem republikanischen – als ein dritter Weg, der einerseits die herkömmlichen Demokratie-Theorien integriert und andererseits im engen Zusammenhang mit dem politischen Öffentlichkeits- und Zivilgesellschaftsbegriff steht. Schließlich wird es sich in dem dritten Kapitel um den internen Zusammenhang zwischen Demokratie und Rechtsstaat handeln. Dabei beruft sich Habermas auf den Begriff des modernen Rechts selber sowie auf das Verhältnis von Recht und Moral und letztlich auf die Verbindung dieses Zusammenhangs zwischen Demokratie und Rechtsstaat mit der Legitimierung des modernen Rechts in Bezug auf die bürgerliche Autonomie.
I. KAPITEL: DISKURSTHEORIE DES RECHTS.
Wie wir schon in der Einleitung der vorliegenden Arbeit gesagt haben, der von Habermas ausgewählte Untertitel seines “Faktizität und Geltung„ bestimmt den Anspruch seiner Rechts - und Demokratietheorie. Mit Lamore können wir uns fragen: Welchen Beitrag beansprucht die Habermassche Diskurstheorie zu leisten? Es zeigt sich also, dass Habermas durch sie auf die häufigen und verschiedenartigen Einwände antworten wolle, “wonach die Diskurstheorie zu einer moralischen Hypertrophie geworden sei, die den Kontakt zur Wirklichkeit des modernen Rechtsstaates verloren habe. Faktizität und Geltung bilden ein Spannungsverhältnis, das er (Habermas) zu diesem Zweck in zwei entgegensetzten Richtungen untersucht. Einerseits will er zeigen, dass die soziale Wirklichkeit, bis hin zu den elementarsten Aspekten des Sprachgebrauchs, auf einer normativen Dimension beruht, so dass es keine adäquate Theorie des politischen Lebens selbst hochkomplexer Gesellschaften geben kann, die die normativen Ansprüche des modernen Rechtsstaates nicht anerkennt und ernst nimmt...Aber andererseits will er auch die besonderen Aufgaben und Bedingungen bestimmen, die uns die kulturellen und sozialen Wirklichkeiten moderner Gesellschaften auferlegen, wenn wir uns der Frage zuwenden, wie politische Assoziation heute aussehen sollte”[7].
Es scheint selbstverständlich, dass Habermas hier größtenteils die Resultate seiner früherer Werke beispielsweise des Buches “Theorie und Praxis„ und seines “Theorie des kommunikativen Handelns„ aufnimmt. Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis z.B. hat Habermas bereit für eine Vermittlung plädiert, die darin bestehen solle, dass die als geschichtsphilosophische Reflexion begründete Sozialphilosophie auf eine methodische Anleitung bedacht sein müsse, “die einerseits der Klärung des praktischen Bewusstseins entspricht, ohne andererseits auf methodische Strenge als solche - die unverlierbare Errungenschaft der modernen Wissenschaft - zu verzichten”[8].
So betrachtet macht Habermas’ Diskurstheorie des Rechts zwischen dem sozialwissenschaftlichen Rechtsdiskurs und dem philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs einen die beiden ersteren beinhaltenden dritten Weg aus. Aber die Eigenschaft der von ihm eingeführten Diskurstheorie wird uns nurmehr sichtbar, wenn wir herausfinden, worin besteht ihre Unterscheidung von den anderen. Dies ist auch Habermas’ eigene Methodologie in “Faktizität und Geltung”, indem er feststellt, dass seine Rekonstruktion des Rechts propädeutische Überlegungen verlangt: “Die bisherigen Überlegungen[9] dienten dem propädeutischen Zweck, die Kategorie des Rechts, insbesondere die des modernen Rechts aus der Sicht der Theorie des kommunikativen Handelns einzuführen”[10].
I.1. Soziologisches Rechtskonzept.
Bis zur der Schwelle des 19. Jahrhunderts wurde die auf das Werk Aristoteles zurückgehende Betrachtung der Politik als Teil der praktischen Philosophie fortgeführt. Aber bereits das Ende des 18. Jahrhunderts ist durch die Bildung sowohl der Sozialwissenschaften als auch die Entstehung der Disziplinen des öffentlichen Rechts gekennzeichnet: “Die Soziologie[11] (z.B.) hat sich, zusammen mit der Ökonomie, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vom Corpus der praktischen Philosophie gelöst. Die Tradition der klassischen Lehre von der Politik hatte damals freilich schon, bei den Schotten, die utilitarisch modernisierte Gestalt der Moralphilosophie angenommen. Diese war ihrerseits in Auseinandersetzung mit der Sozialphilosophie eines Hobbes entwickelt worden -: die natürliche Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, die im rationalen Naturrecht noch juristisch mit Hilfe des Vertragsinstruments konstituiert worden war, suchte der schottischen Denker alsbald ‘historisch’ zu begreifen”[12].
In den letzten drei Jahrhunderten bewegte sich der Stellenwert des Rechts in der Analyse von Staat und Gesellschaft zwischen dem Auf und Ab der wissenschaftlichen Konjukturen. Von Hobbes bis Hegel bildete das moderne Naturrecht eine Schüsselkategorie der Vermittlung zwischen allen gesellschaftlichen Beziehungen. Das Legitimationsmodell einer wohlgeordneten Gesellschaft richtete sich nur auf die juristischen Denkfiguren. Infolgedessen wurde für eine richtige Gesellschaft nur diejenige gehalten, die nach einem vernünftigen Rechtsprogramm eingerichtet war. “Aber schon die Naturgesellschaftslehre der schottischen Moralphilosophen brachte gegen die Vernunftrechtskonzeptionen das Bedenken zur Geltung, dass sich die gewachsenen Lebenszusammenhänge von Praktiken, Sitten und Institutionen einer Rekonstruktion in den Begriffen des formalen Rechts widersetzen”[13].
In diesem Zusammenhang verdienen Adam Ferguson und John Millar genannt zu werden. Beide stehen noch zwischen der klassischen Politik und der zeitgenössischen politischen Ökonomie, d.h. sie sind schon auf dem Wege von Aristoteles und Marx. Aus empirischer Sicht widersprechen sie “dem Präskriptivismus eines Vernunftrechts, das mit normativen Argumenten von der historischen Besonderheiten und der soziokulturellen Gegebenheiten absieht; und aus soziologisch-anthropologischer Sicht lehnen sie einen Rationalismus ab, dessen Anspruch der Aufgang des informellen Geflechtes von eingewöhnten sozialen Beziehungen, gewachsenen Institutionen, tief verankerten Interessenlagen und Klassenstrukturen in einem mit Willen und Bewusstsein konstruierten Regelsystem„[14].
Gewiss zählt das 1767 von Adam Ferguson veröffentlichte Buch <An Essay on the History of civil Society> zu den ersten klassischen Werke der Soziologie. Die Veröffentlichung dieses Buches geschah in einer entscheidenden Entwicklungsphase der modernen Sozialwissenschaften, nämlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Sozialwissenschaften hatten ihren Gegenstand entdeckt, d.h. die moderne arbeitsteilige, warenproduzierende, kapitalistische Klassengesellschaft. Aber erst in dieser Zeit hatten sich ansatzweise die Disziplinen (Ökonomie, Politik, Soziologie, Psychologie, Ethnologie) getrennt[15].
Eines der Ziele von Fergusons Buch war die Offenlegung der Defizite des modernen, <zivilisierten> Selbstbewusstseins seiner Zeit und Gesellschaft durch Rekurs auf die Normen des antiken <civic humanism>[16]. Das war die erste Infragestellung des Modells des Gesellschaftsvertrages, obwohl dieses freilich noch auf die Evidenz stützen konnte, “dass die moderne Tauschgesellschaft den Privatleuten über die Teilnahme am Wirtschaftsverkehr eine gleichsam natürliche Autonomie und Gleichheit zu sichern schien”[17].
Während des Werdegangs[18] von den früheren Kontroversen zwischen Naturgesellschafts- und Naturrechtslehren im 18. Jahrhunderts bis zum Strukturalismus und zur Systemtheorie taucht die sozialwissenschaftliche Reflexion, die nicht nur den präskriptivistischen und rationalistischen Zugriff der kontraktualistischen Theorien auf die Gesellschaft unterminiert, sondern überhaupt das Recht als eine zentrale Kategorie der Gesellschaftstheorie entwertet. Dies bezeichnet Habermas als objektive Entzauberung des Rechts.
Aus der politischen Ökonomie und ihrer Kritik ergab sich ein Perspektivenwechsel, so dass die Kategorie des Rechts ihre theoretisch-strategische Schlüsselrolle verlor. Folgende Gründe sind dafür zu erwähnen: erstens die viel zu große Komplexität der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, die somit durch den dürren normativen Denkfiguren des Vernunftrechts unerfassbar scheinen; zweitens die Entdeckung der neuen Mechanismen der gesellschaftlichen Integration, nämlich ihre nicht-normative Art. “Die in Begriffen der politischen Ökonomie erfasste Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft hat einen entlarvenden Effet: nicht die Rechts -, sondern die Produktionsverhältnisse bilden das Knochengerüst, das den gesellschaftlichen Organismus zusammenhält”[19].
Diese Marginalisierung des Rechts und die Neutralisierung des intern zugänglichen Phänomens der Rechtsgeltung unter einer objektiven Beschreibung hat zu einer einseitigen Betrachtung des Rechts unter seinem funktionalen Gesichtspunkt der Stabilisierung von Verhältniserwartung geführt. Nach Habermas bildet die Rechtssoziologie von Niklas
Luhmann ( vgl. Sein “Ausdifferenzierung des Rechts” und sein “Legitimation durch
Verfahren„ den vorläufigen Endpunkt dieser Theoriegeschichte, die nach Habermas eine Achse bildet[20]. Denn – so meint Habermas - mit N. Luhmann, Lévi-Straus bis Althur und Foucault kommt es zu einer Radikalisierung der Marxschen Systemanalyse, die zu einem Abstand der objektivistischen Gesellschaftstheorien neuen Typs von der Enge und dem normativen Ballast der holistischen und geschichtsphilosophischen Grundbegriffe geführt hat[21].
Folglich wurde die Subjektphilosophie in einen radikalen Objektivismus transformiert. Daher kommt es zum Verlust nicht nur des Ortes der Subjekte - die zwar eine Welt konstituieren oder auf höherer Stufe gemeinsame Lebenswelten intersubjektiv teilen -, sondern auch zu dem des Rechts der allen intentionalen, durch das Bewusstsein der Akteuren selbst vollzogenen Integrationsleistungen. Daraus ergeben sich also die Verwischung aller hermeneutischen Spuren, auf denen eine intern, am Selbstverständnis der Akteuren ansetzende Handlungstheorie noch Zugang zur Gesellschaft finden könnte.
Es zeigt sich, dass der rechtssoziologische Begriff auf die institutionelle Dimension richtet ist; hier ist das Recht definiert als empirisches Handlungssystem. Aber da er sich mehr an einen objektivierenden Blick von außen orientiert, bezieht er die normative Dimension nicht ein und gerät somit in Gefahr, blind zu bleiben. Außerdem haben die rechtssoziologischen Bestimmungen durch die Umdeutung der normativen Aspekte des Rechts das Rechtssystem einerseits von der Moral und andererseits von der Politik abgelöst. Außerdem wird das Recht selbst auf die spezielle Weise der Rechtsanwendung reduziert”. Dabei gerät der interne Zusammenhang zwischen dem Recht und der demokratisch-rechtsstaatlichen Organisation der Entstehung, des Erwerbs und der Verwendung politischer Macht aus dem Blick”[22].
I.2. Philosophisches Gerechtigkeitskonzept.
Anfang der 70er Jahren wurden die vernunftrechtlichen Argumentationen direkt wieder aufgenommen. Innerhalb des normativen Diskurses hat sich die Frage nach der Ohnmacht des Sollens wieder aufgedrängt. So betrachtet, es scheint der Gerechtigkeitsdiskurs als die durch die sozialwissenschaftliche Unterminierung des vernunftrechtlichen Normativismus ausgelöste Reaktion. Als Diskurs er steht im Einklang mit der Rehabilitierung der Fragestellung der praktischen Philosophie und versucht somit die vernunftrechtliche Tradition auf etwas unvermittelte Weise wieder zu Ehren zu bringen[23] [24].
Unter dem “philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs„ versteht Habermas jene philosophischen Gerechtigkeitstheorien, die angesichts der sozialwissenschaftlichen Rechtsskepsis den moralischen Gehalt moderner Rechtsordnungen herausarbeiten. Damit versuchen sie eine rationale Rekonstruktion des Rechts, welche die Prinzipien begründen, “nach denen eine wohlgeordnete Gesellschaft eingerichtet werden sollte; sie entfernen sich dabei so weit von der Realität zeitgenössischer Gesellschaften, dass sie Schwierigkeiten haben, Bedingungen für die Realisierung dieser Grundsätze zu spezifizieren”[25].
Zu Vertretern dieses Gerechtigkeitsdiskurses zählt John Rawls[26], dessen Gerechtigkeitstheorie die Idee einer unter modernen Lebensbedingungen “wohlgeordneten” Gesellschaft entfaltet. Nach dieser Theorie bildet die Gesellschaft “ein System, das die gerechte Kooperation freier und gleicher Rechtsgenossen ermöglicht. Die grundlegenden Institutionen einer solchen Gesellschaft müssen nach einem Schema eingerichtet werden, das sich im Lichte von Gerechtigkeit als Fairness begründen lässt und so die rational motivierte Zustimmung aller Bürger verdient”[27].
In seiner Einführung zu John Rawls stellt Wolfgang Kersting die Gerechtigkeit von Rawls dar als eine Theorie, die im Zuge der Vertragstheorien einzusetzen ist. Und unter diesen zählt er “jene Moral -, sozial und politikphilosophischen Konzeptionen, die die moralischen Prinzipien menschlichen Handelns, die rationale Grundlage der institutionellen gesellschaftlichen Ordnung und die Legitimitätsbedingungen politischer Herrschaft in einem hypothetischen, zwischen freier und gleichen Individuen in einem wohldefinierten Ausgangszustand geschlossenen Vertrag erblicken und damit die allgemeine Zustimmungsfähigkeit zum fundamentalen normativen Gültigkeitskriterien erklären”[28].
Die Entstehung die sogenannten philosophischen Vertragstheorien gehen auf das 17. Jahrhundert zurück und haben bis Ende des 18. Jahrhunderts das politische Denken beherrscht. Aber sie verschwanden im 19. Jahrhundert und auch in der ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, bis sie in der philosophisch anregenden Verwendung des Vertragsmotivs in der Philosophie von Rawls wieder auftauchen[29]. Davon gehen einige aus, um zu behaupten, dass die politische Philosophie durch die von John Rawls wieder belebt wird[30].
Die Gerechtigkeitstheorie von Rawls geht von den impliziten Werten einer politischen Kultur aus und hat als Ziel die Lieferung eines Identifikationsangebots für die Bürger demokratischer Gesellschaften[31]. Sie ist eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit. Als solcher geht es ihr nicht um Handeln der Menschen, sondern um gesellschaftliche Ordnung[32]. Rawls bezeichnet die Gesellschaft als ein System der Zusammenarbeit, “das die Interessen jedes einzelnen Mitgliedes befördern soll. Eine solche <Kooperation zu wechselseitigem Vorteil> ist durch eine Identität der Interessen - die Zusammenarbeit soll für jeden ein besseres Leben möglich machen - und gleichzeitigen Interessenkonflikt charakterisiert: jeder will einen möglichst großen Anteil aus der gemeinsam hervorgebrachten <Nutzmenge>. Die Prinzipien der Konflikt-Lösung, nach denen die Vorteile und die Lasten der gemeinsamen Arbeit festgelegt werden, sind mit den Prinzipien der (...) Gerechtigkeit identisch”[33]. Die grundlegende Institutionen der von Rawls konzipierten ‘wohlgeordneten‚ Gesellschaft sind die Gerechtigkeit als Fairness und die rational motivierte Zustimmung aller Bürger.
Zwei Prinzipien machen diese Theorie aus, nämlich das Freiheitsprinzip und die Lehre von Vorrang der Grundfreiheiten auf der einen Seite und die Erlaubte Ungleichheit - d.h. das Differenzprinzip auf der anderen[34]. Rawls bestimmt die Prinzipien dank eines Versuchs einer neuen Formulierung der klassischen Theorien des Gesellschaftsvertrages (Locke, Rousseau, Kant) auf einem höheren Grad der Abstraktion. Aber was diesbezüglich seine Theorie von den klassischen Entwürfen unterscheidet, ist die Durchkonstruktion dieser Prinzipien bis in die Einzelheiten[35].
Habermas betrachtet Rawls’ politisches Gerechtigkeitskonzept als eine Antwort auf das schon von Hegel behandelte Problem des Verhältnisses von Moral und Sittlichkeit. “Für das klassische Vernunftrecht hatte sich das Problem des Verhältnisses von Norm und Wirklichkeit zunächst auf einer anderen Eben gestellt. Das Vernunftrecht war von der Differenz zwischen Moral und Recht ausgegangen und hatte die im positiven Recht selbst angelegte Spannung zwischen Faktizität und Geltung berücksichtigt. Insofern war es von Haus aus realistischer eingestellt als eine moralisch ansetzende Gerechtigkeitstheorie. Es hatte sich der Wirklichkeit des politischen Prozesses sozusagen auf ganzer Breite konfrontiert”[36].
Außerdem wirft Rawls’ Gerechtigkeitskonzept laut Habermas ein doppeltes Problem auf. Zum ersten wirft normative Rechtfertigung seines Modells der wohlgeordneten Gesellschaft ein Problem der Selbststabilisierung auf: “Die Stabilisierung der gerechten Gesellschaft beruht (...) nicht auf Rechtszwang, sondern auf der sozialisatorischen Kraft eines Lebens unter gerechten Institutionen; eine solches Leben bildet nämlich die Gerechtigkeitsdisposition der Bürger aus und festigt sie zu gleich”. Zum zweiten stellt Rawls’ Modell der wohlgeordneten Gesellschaft das Problem der Situierung des normativ-theoretisch entfalten Konzepts der wohlgeordneten Gesellschaft in den Kontext einer bestehenden politischen Kultur und Öffentlichkeit, dass es faktisch die Zustimmung verständigungsbereiter Bürger findet[37].
Die Auseinandersetzungen zwischen der philosophischen und der empirischen Betrachtungsarten des Rechts erscheinen zweifellos als ein Echo der Spannung zwischen dem Idealismus des Verfassungsrechts und dem Materialismus einer Rechtsordnung, insbesondere dem eines Wirtschaftsrechts. Aus seiner Analyse der beiden Ansätze, nämlich des gerechtigkeitsphilosophischen und des rechtssoziologischen, zieht Habermas den Schluss, dass beide unzureichend sind. So betont er ihre Begrenzungen.
Einerseits fehlt dem philosophischen Gerechtigkeit jene institutionelle Dimension, auf der sozialwissenschaftliche Rechtsdiskurs beruft. Dieser Blickmangel des philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs macht ihn zum leeren Diskurs. Andererseits können die Entschlossenheit der Rechtssoziologie zu einem objektivierenden Blick von außen und ihre Unempfindlichkeit gegenüber dem nur intern zugänglichen Sinn der symbolischen Dimension sie nur einer Blindheitsgefahr aussetzen. Dieser Gefahr werden sich insbesondere neukantisch inspirierte Ansätze bewusst und seien somit dagegen sich gewappnet[38]. Unter diesen Autoren rechnet Habermas Max Weber und Parsons. Während der erste in sozialen Ordnungen Ideen und Interesse durchdringen zu lassen versuchte, betonte der zweite kulturelle Werte und Motive[39].
I.3. Habermas’ Diskurstheorie des Rechts.
Um die dem Recht implementierte Spannung von Faktizität und Geltung auszugleichen, schlägt Habermas im Anschluss an beide, Max Weber und Talcott Parsons, eine Doppelperspektive des Rechtssystems vor. Diese besteht gleichzeitig in einer rekonstruktiven Ernstnahme des Rechtssystems von innen in seinem normativen Gehalt auf der einen Seite und in seiner Beschreibung von außen als Bestandteil der sozialen Realität auf der anderen[40].
Bemerkenswert ist, dass die Ansätze von Max Weber und Parsons vom Neukantismus inspiriert sind. Sie betrachten das institutionalisierte Handeln als selektive Verwirklichung von kulturell anerkannten Werten unter situationstypischen Beschränkungen. Durch diese verleihen soziale Ordnungen normativen Verhältniserwartungen Realität, “dass sie Werte im Hinblick auf konkrete Anwendungsbedingungen spezifizieren und mit gegebenen Interessenlagen integrieren”[41].
Der Leitfaden von Webers Ansatz ist die dualistische Anthropologie: Seine Auffassung ist, dass handelnde Subjekte gleichzeitig mit Problemen der inneren und der äußeren Not konfrontiert sind. Außerdem streben sie sowohl nach ideellen wie nach materiellen Gütern. Für ihn können soziale Ordnungen nur als legitime Ordnungen auf Dauer bestehen. Infolgedessen ist die Geltung einer Ordnung bedeutsamer als eine bloße, durch Sitte oder Interessenlage bedingte Regelmäßigkeit eines Ablaufs sozialen Handelns[42].
Bereits am Anfang seiner Rechtssoziologie unterscheidet Max Weber folgendermaßen die juristische und die soziologische Betrachtungsweise des Rechts: “Wenn von ‘Recht’, ‘Rechtsordnung’, ‚Rechtssatz’ die Rede ist, so muss besonders auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden. Die erstere fragt: was als Recht ideell gilt. Das will sagen welche Bedeutung, und dies wiederum heißt: welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen Gebilde logisch richtigerweise zukommen sollte. Die letztere dagegen fragt: was innerlich einer Gemeinschaft faktisch um deswillens geschieht, weil die Chance besteht, dass am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen, darunter insbesondere solche, in deren Händen ein sozial relevantes Maß von faktischen Einfluss auf dieser Gemeinschaft handeln liegt, bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an ihnen orientieren .- Darnach bestimmt sich auch die prinzipielle Beziehung zwischen Recht und Wirtschaft ”[43].
Die juristische Betrachtung sei laut Weber nichts anderes als die rechtsdogmatische Betrachtung des Rechts. Derer Aufgabe sei die Untersuchung des richtigen Sinnes der Sätze, deren Inhalt sich als eine Ordnung darstellt, welche für das Verhalten eines irgendwie bezeichneten Kreises von Menschen maßgebend sein soll. Hingegen ist die sozialökonomische Betrachtungsweise die desjenigen tatsächlichen durch die Notwendigkeit der Orientierung am <wirtschaftlichen Sachverhalt> bedingten Handelns der Menschen in seinen tatsächlichen Zusammenhängen. Aus Weber’ Rechtssoziologie geht also eine doppelte begriffliche Dimension des Rechts, nämlich die normative und die tatsächliche bzw. objektive hervor.
“Anders als Weber verfolgt Parsons die soziale Evolution des Rechts unter dem Aspekt seiner eigenen Funktion, der Sicherung gesellschaftlicher Solidarität, nicht unter dem Aspekt des Beitrages, den es zur Formierung von Herrschaft leistet. Dieser evolutionäre Schritt ist durch eine staatliche Organisationsform gekennzeichnet, in der Recht und politische Macht eine bemerkenswerte Synthese eingehen”[44]. Auffällig ist die synthetische Kraft der Theorie Parsons, die über die Aspekte von Theorien der <soziologischen> Klassiker - beispielsweise die von A. Comte und Spencer, insbesondere die von Durkheim, Pareto und Weber - hinaus auf andere verschiedenartigste Ansätze - etwa der dynamischen und klinischen Psychologie, der Psychanalyse usw. eingeht[45].
Im Vergleich zu Webers Theorie macht die von Parsons einen Schritt vor aus, der in einer staatlichen Organisationsform besteht, in der Recht und politische Macht insgesamt eine bemerkenswerte Synthese bilden. Der Staat hat als Funktion das Verfahren der Rechtsprechung und der Rechtsetzung zu institutionalisieren. Andererseits besteht der Staat in ein Gestalt einer rechtsförmigen Hierarchie von Ämtern und bezieht seine Legitimität über die Rechtsform der administrativen Herrschaftsausübung.
Die Grundbegriffe von Parsons’ Systemtheorie nimmt die von Weber rekonstruierte Rationalisierung des Rechts auf. Dabei werden <Inklusion> und <Wertverallgemeinerung> zur Dimensionen, “worin der normative Gehalt des in dem modernen Rechtsstaat verkörperten sozialintegrativen Rechtskonzepts hinter den nur zum Scheine neutralen Grundnahmen über verschiedene Ebene systemischer Integration verschwindet”[46]. Der Rechtsbegriff ist laut Parsons mehr als das vom Staat gesetzte Recht. Insofern kann es auf die normativen Muster oder die ‘Ordnung’ jeder formal organisierten Gruppe angewandt werden, “die diese als für ihr Handeln bindend betrachtet. Je größer jedoch die Ausdehnung und Bedeutung der Gruppe ist, je beständiger ihre grundlegenden Wesenszüge sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie einen in hohen Maß ihre Tradition in den Händen einer spezialisierten Expertenklasse liegt”[47].
Bei Parsons ist <normativ> ein umfassender Begriff. Dieser bedeutet zugleich den <Wert> und den <Normaspekt>. Unter <Wert> versteht Parsons “die Elemente eines gemeinsamen symbolischen Systems, die als Selektionskriterien oder - standards zwischen Orientierungsalternativen dienen, die in einer Situation möglich( offen ) sind ”[48], während er <Normen> als “Muster, die spezifisches, für eine Einheit (eines sozialen Systems - K.S.) erwünschtes Verhalten definieren, das von den Pflichten(<obligations>) anderer Klassen von Einheiten verschieden ist „[49].
I.3.1. Die kommunikative Rationalität.
Nach Habermas selbst wird sein Interesse an der Rechtstheorie durch die gesellschaftstheoretische Fragestellung begründet. Die Spannung zwischen Faktizität und Geltung, derer angemessene Verhältnisbestimmung den Gegenstand des unter Soziologen, Juristen und Philosophen rechtstheoretischen Streites ausmacht, wird schon in ihre Grundbegriffe aufgenommen[51]. Aus dieser Sicht der Theorie des kommunikativen Handelns versuchte er die Kategorie des modernen Rechts zu behandeln, ohne den Anschluss an die klassische Auffassung zu lösen[50] [52].
Da die Umstellung des aus Aristoteles entstandenen Begriffs der praktischen Vernunft auf Prämissen der Subjektphilosophie zu ihrer Herauslösung aus ihren Verkörperungen in kulturellen Lebensformen und politischen Lebensordnungen geführt hat, obwohl sie andererseits den Vorzug habe, sich nunmehr auf das individualistisch verstandene Glück und die moralisch zugespitzte Autonomie des Einzelnen beziehen zu lassen, und da auch moderne Gesellschaften inzwischen so komplex geworden seien, dass die bisherigen Denkfiguren - nämlich die der im Staat zentrierten Gesellschaft und der aus Individuen zusammengesetzten Gesellschaft nicht ohne Schwierigkeit angenommen werden, schlägt Habermas im Rahmen seiner Theorie des kommunikativen Handelns[53] einen anderen Weg für die Rechtstheorie vor, nämlich die Ersetzung der praktischen Vernunft durch die kommunikative.
Für ihn ist dieses Ersetzen mehr als ein Etikettenwechsel[54]. Um seine Stellung zu begründen, bezieht sich Habermas auf das, durch das sich seiner Meinung nach die kommunikative Vernunft von der praktischen unterscheidet:
a) Die kommunikative sei das sprachliche Medium und als solche sei sie nicht länger dem einzelnen Aktor oder einem staatlich-gesellschaftlichen Makrosubjekt zugeschrieben.
b) Sie äußert sich in einem dezentrierten Zusammenhang transzendental ermöglicher, strukturbildender und imprägnierender Bedingungen, ohne ein subjektives Vermögen - wie die praktische Vernunft - zu sein.
c) Sie sei keine Quelle für Normen des Handelns wie die klassische praktische Vernunft, obwohl sie einem normativen Gehalt habe, nur sofern sich der kommunikativ Handelnde auf praktische Voraussetzungen kontrafaktischer Art einlassen muss.[55]
Ein deutlicher Unterscheid zwischen kommunikativer Vernunft und praktischer bestehe darin, “dass im Rahmen der kommunikativen Rationalität <das Demokratieprinzip> nicht, wie im Aufbau der Kantischen Rechtslehre, dem Moralprinzip untergeordnet werden darf (...)„[56].
Habermas hat also “den subjektphilosophischen Vernunftbegriff der Moderne im Sinn kommunikativer Rationalität gehaltvoll reformuliert ... In diesem Zusammenhang hat Habermas wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Umstellung des Grundbegriffs von praktischen Vernunft auf den der <kommunikativen Vernunft> ein Bruch mit dem Kantischen Normativismus vollgezogen ist„[57]. Habermas’ Auffassung nach müsse also die Vernunft “heute über bestimmte metaphysische Annahmen hinauskommen und sich als kommunikativ verstehen”[58].
Der sogenannte Begriff der kommunikativen Rationalität wird zum Leitfaden sprachlicher Verständigung. Und “der Begriff der Verständigung verweist auf ein unter Beteiligten erzieltes rational motiviertes Einverständnis, das sich an kritisierbaren Geltungsansprüchen bemisst”[59]. Dabei bilden Kultur und Sprache die Ressourcen der Lebenswelt[60]. Und “auf der Ebene des kommunikativen Handelns wandert mit dem verständigungsorientierten Sprachgebrauch, über den die Aktoren ihre Handlungen koordinieren, jenes Spannungsverhältnis in die Welt der sozialen Tatsachen ein”[61].
Durch die Behandlung des Rationalitätsproblems erzielt Habermas weniger die rationale Maximierung individuellen Nutzens als die argumentative Rationalität von Geltungsansprüchen, “die wir mit der Ausführung von Sprechhandlungen im Rahmen alltäglicher Kommunikation verknüpfen”[62]. Habermas setzt allerdings dieses Rationalitätsproblem mit dem von sinnhafter Konstitution von Sprechhandlungen sowie dem von Intersubjektivität in Zusammenhang. Anders ausgedrückt, ergibt sich die kommunikative Rationalität bei Habermas aus dem Rückgriff auf allgemeine symbolische Strukturen der Lebenswelt[63], die somit der Bereich der kommunikativen Rationalität ausmacht[64]. Sie bildete sich aus einem Netz kommunikativer Handlungen, die in sozialen Räumen und historischen Zeiten verzweigt sind und sich nicht weniger aus der Quellen, den kulturellen Überlieferungen und legitimen Ordnungen speisen, wie sie von den Identitäten vergesellschafteter Individuen abhängen würden[65]. Als solche unterscheidet sich also die Lebenswelt von jener Großorganisation mit angehörenden Mitgliedern, jener Assoziation, jenem Verband, jenem Kollektiv.
1.3.2. Das System der Rechte.
Schon in der Einleitung seines <Faktizität und Geltung> führt Habermas die Diskustheorie des Rechts ein, als Vermittlung zwischen dem normativen und objektivistischen Recht[66]: “Die Spannung zwischen normativen Ansätzen, die stets in Gefahr sind, den Kontakt mit der gesellschaftlichen Realität zu verlieren, und objektivisten Ansätzen, die alle normativen Aspekte ausblenden, kann als Mahnung verstanden werden, sich nicht auf eine disziplinäre Blickrichtung zu fixieren, sondern sich offenzuhalten für verschiede methodische Standorte (Teilnehmer vs. Beobachter), für verschiedene theoretische Zielsetzungen (sinnverstehende Explikation und begriffliche Analyse vs. Beschreibung und empirische Erklärung), verschiedene Rollenperspektiven (Richter, Politiker, Gesetzgeber, Klient und Staatsbürger, Analytiker etc.)”.[67] Diese Aussage von Habermas macht also deutlich, worin die von ihm eingeführte Diskurstheorie des Rechts bestehen solle. Damit beansprucht Habermas die von ihm bereits in seine Kommunikationstheorie aufgenommene und bearbeitete Spannung zwischen Ideal, d.h. normativem Ansatz und Wirklichkeit, d.h. objektvistischem Ansatz aufzuheben. Denn er versteht Ideale nicht nur als regulative Ideen, sondern auch als konstitutive Ideen, “die ihres <fundamentum in re> nicht entbehren„[68].
Unter diesem Blickwinkel ist die habermassche Rechtsdefinition zu verstehen. Unter “Recht„ versteht er “das moderne gesagte Recht, das mit dem Anspruch auf systematische Begründung sowie verbindliche Interpretation und Durchsetzung auftritt. Recht stellt nicht nur wie die postkonventionelle Moral eine Form des kulturellen Wissens dar, sondern bildet zugleich eine wichtige Komponente des gesellschaftlichen Institutionensystems. Das Recht ist beides zugleich: Wissenssystem und Handlungssystem. Es lässt sich ebensosehr als ein Text von Normsätzen und -interpretationen wie als Institution, d.h. als ein Komplex von Handlungsregulativen verstehen”[69]. Kommunikativhandelnstheoretisch betrachtet Habermas das Handlungssystem <Recht> als “eine reflexiv gewordene legitime Ordnung zur Gesellschaftskomponente der Lebenswelt”[70].
Wie gesehen bringt Habermas den normativen Aspekt durch den Rechtsnormenbegriff und den soziologischen durch den Handlungssystemsbegriff in Einklang. Unter diesem Blickwinkel ist auch Habermas’ nachmetaphysischer Aufbau der Gerechtigkeitsbegriffe und der ihnen entsprechenden Rechtssysteme in <Faktizität und Geltung> zu verstehen. D.h. “die normativen Grundlagen des modernen Rechtsstaates müssen (...) in Verfahrensprinzipien der Gerechtigkeit bestehen, die sich abhängig von kontrovers gewordenen Ideen des guten Lebens begründen lassen”[71]. Anders gesagt definiert Habermas das Recht als die Rechtsnormen, die im demokratischen Verfahren zustande kommen[72].
Hinsichtlich des Systems der Rechte versteht Habermas unter <Rechte> die Grundrechte, “die sich Bürger gegenseitig einräumen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen”. Das System der Rechte begründet sich durch die Wechselseitigkeit von privater und öffentlicher Autonomie auf der einen Seite und die der Menschenrechte und Volkssouveränität auf der anderen[73]. Es sichert als solches gleichwertig private und öffentliche Autonomie, obwohl es die Spannung zwischen Faktizität und Geltung, die zunächst laut Habermas als Spannung zwischen Positivität und Legitimität des Rechts zu betrachten sei, operationalisiert[74].
Habermas unterscheidet fünf Kategorien von Rechten: “(1) Grundrechte, die sich aus der politisch autonomen Ausgestaltung des Rechts auf das größtmögliche Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten ergeben. Diese Rechte fordern als notwendige Korelate:
(2) Grundrechte, die sich aus der politisch Ausgestaltung des Status eines Mitgliedes in einer freiwilligen Assoziation von Rechtsgenossen ergeben; (3) Grundrechte, die sich unmittelbar aus der Einklagbarkeit von Rechten und der politisch autonomen Ausgestaltung des individuellen Rechtsschutzes ergeben (...), (4) Grundrechte auf die chancengleiche Teilnahme an Prozessen der Meinungs- und Willensbildung, worin Bürger ihre politische Autonomie ausüben und wodurch sie legitimes Recht setzen (...), (5) Grundrechte auf die Gewährung von Lebensbedingungen, die in dem Maße sozial, technisch und ökologisch gesichert sind, wie dies für eine Chancengleiche Nutzung der ( 1) bis (4) genannten bürgerlichen Rechte unter gegeben Verhältnissen jeweils notwendig ist”[75]. Die sogenannten Rechte verweisen also auf die subjektiven Handlungsfreiheitenrechte, Genossenfreiheitsrechte, die chancengleiche Teilnahme an Meinungs- und Willensbildungsprozesse, die Gewährung der Lebensbedingungen und die Chancengleichheit der vier oben genannten Rechte.
[...]
[1] Horster, Detlef: Jürgen Habermas zur Einführung, 95
[2] Vollständig lautet der Titel <Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats>.
[3] Dews, Peter : Faktizität, Geltung und Öffentlichkeit, 359
[4] Habermas, J.: FuG, 1992, 13
[5] Horster, Detlef: Jürgen Habermas zur Einführung, 1999, 95; Vgl. Habermas, J.: FuG, 266
[6] Vgl. Tomberg, Friedrich : Habermas und der Materialismus, 347-348 : <Im Jahre 1992 veröffentlichte Habermas Faktizität und Geltung, eine Werk von halbwegs ähnlichen Umfang wie die Theorie des kommunikativen Handelns, das als Abschluss der Rekonstruktion des historischen Materialismus angesehen werden und daher zumindest auch als ein Hauptwerk, unter dem Gesichtspunkt der praktischen Absicht des Sozialismus bzw. der radikalen Demokratie sogar als das Hauptwerk angesehen werden kann. Dem Untertitel nach will __Habermas Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats erbringen>.
[7] Lamore, Charles : Die Wurzeln radikaler Demokratie..., 321
[8] Habermas, J.: TuP, 49; Roderick, R.: Habermas und das Problem der Rationalität, 70-71
[9] Der Ausdruck <bisherigen Überlegungen> bezieht sich auf <Soziologische Rechts- und philosophische Gerechtigkeitskonzepte>: Vgl. Habermas, FuG, 61-108
[10] Habermas, J. : FuG, 109
[11] Vgl. Habermas, J.: TuP, 223: <der Abstand der modernen Soziologie von den Anfängen, die wir im England des 18. Und im Frankreich des beginnenden 19. Jahrhunderts kurz berührt haben, ist gewaltig>.
[12] Habermas, J.: TuP, 216
[13] Habermas, J.: FuG, 62-63
[14] Habermas, J.: FuG, 63
[15] Batscha, Zwi und Medick, Hans(Hrsg.) : Adam Ferguson... ,7-8
[16] Batsch, Z. Und Medick, H.( Hrsg.) : Ibidem, 36
[17] Habremas, J.: FuG, 63
[18] Klaus Schrape bietet uns einen Überblick über die Frage nach dem Wandel normativer Strukturen in den klassischen Ansätzen zu einer Theorie des sozialen Wandels. Dafür hat er die Theorieansätze von A. Comte,
H. Spencer, K. Marx, E. Durkheim (u.a. B. Malinowski) ausgewählt. Vgl. Schrape, Klaus: Theorien normativer Strukturen und ihres Wandels, I., 46f.
[19] Habermas, J.: FuG, 65
[20] Habermas, J.: FuG, 68
[21] Habermas, J.: Loc.cit.
[22] Habermas, J.: FuG, 70
[23] Vgl. Dreier, R.: Rechtsphilosophie und Diskurstheorie, In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 48(1994) 90-103; Habermas, J.: KG, 367-394 .
[24] Habermas, J.: FuG, 78-79
[25] Habermas, J.: FuG, 62
[26] Vgl. Pies, I./Leschke,M.( Hrsg.): John Rawls’politischer Liberalismus, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) ,Tübingen 1995, im Vorwort der Herausgeber : “John Rawls gilt als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Ihm wird das Verdienst zugeschrieben, an der aktuellen ( Wieder )- Belebung politischer Philosophie maßgeblich beteiligt zu sein: Mit Rawls wird die Einheit und Stabilität der modernen, demokratischen Gesellschaft zum Hauptthema politischer Philosophie. Durch seine <Theorie der Gerechtigkeit>(1971, 1975) wird Rawls weit über den Bereich der politischen Philosophie hinaus bekannt. Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen, die sich mit Gesellschaftstheorie i w. S. beschäftigen, setzen sich mit seinem Werk kritisch auseinander”; Höffe, Otfried (Hrsg.): Theorie- Diskussion. Über John Ralws’ Theorie der Gerechtigkeit, 11: Hier stellt Höffe den an der Harvard Universität "Professor für Philosophie, John Rawls, vor als den früheren Vertreter der angloamerkanischen Ethik und politischen Philosophie und seine <Gerechtigkeitstheorie> als einen höchst eigenständigen Beitrag.
[27] Habermas, J. : FuG, 79-80
[28] Kersting, Wolfgang : John Rawls zur Einführung, 25
[29] Kersting, Wolfgang: Loc.cit
[30] Pies,I./Leschke, M.: John Rawls’ politischer Liberalismus, 21
[31] Pies,I./Leschke, M.: Loc.cit.
[32] Kersting, Wolfgang: Ibidem, 30
[33] Höffe, Otfried: Kritische Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, In : Höffe, Otfried( Hrsg.) : Theorie- Diskussion..., 14
[34] Kersting, Wolfgang: John Rwals zur Einführung, 47 - 93
[35] Höffe, Otfried: Kritische Einführung in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, In: Höffe, Otfried (Hrsg.) : Theorie-Diskussion..., 14
[36] Habermas, J.: FuG, 89
[37] Habermas, J.: FuG, 81
[38] Habermas, J.: FuG, 90
[39] Habermas, J.: FuG, 89
[40] Habermas, J.: FuG, 62
[41] Habermas, J.: FuG, 90
[42] Habermas, J.: FuG, 92; Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 22
[43] Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 181; Vgl. auch Habermas, J.: FuG, 94
[44] Habermas, J.: FuG, 99
[45] Schrape, Klaus : Theorien normativer Strukturen und ihres Wandels, II., 4
[46] Habermas, J.: FuG, 105-16
[47] Parsons, Talcott : Aktor, Situation und normative Muster, 234
[48] Parsons, zitiert von Klaus Schrape, In : Schrape, Klaus: Theorien normativer Strukturen und ihres Wandels, II., 4
[49] Parsons, Talcott, zitiert von Klaus Schrape, In: Schrape, Klaus: Loc.cit.
[50] Der Begriff der kommunikativen Rationalität(=kommunikativen Vernunft) gehört zu den drei von Habermas in seinen zweibändigen ‘ Theorie des kommunikativen Handelns’ entfalteten Themenbereichen. Die zwei anderen sind der zweistufige Konzept der Gesellschaft und die Theorie der Moderne. Vgl. Kunstmann, W. : Verständigungsprozesse..., 31
[51] Habermas, J.: FuG, 22
[52] Habermas, J.: FuG, 109
[53] Ausgehend von den Formen sozialen Handelns und von den <drei Weltbezügen> aus unterscheidet Habermas in seinem “Theorie des kommunikativen Handelns” viel Typen von Rationalität, nämlich die instrumentelle, die strategische und die kommunikative. Unter allen drei wird die kommunikative den zwei ersteren überlegt bzw. beinhaltet die beiden. Insofern bezieht sich die kommunikative Rationalität nicht nur auf äußere Gegenstände (Instrumentalismus ) oder den strategischen Umgang mit anderen Menschen, sondern auch berücksichtigt die soziale Dimension der Kommunikation. In diesem Sinne ist sie umfassender als die beiden ersteren.
Vgl. Wüstehube, Axel: “Acquiescence” oder “kommunikative Rationalität” ?, In: D Z.Philos. 42/2(1994), 327
[54] Habermas, J.: FuG, 15-17
[55] Habermas, J.: Fug, 17-18:
[56] O’Neilli, Onora: Kommunikative Rationalität, In :DZPhilos., 331
[57] Tietz, Udo : Faktizität, Geltung und Demokratie..., 333; Vgl. Habermas , J.: TkH , I. ,7
[58] Lamore, Charles: Die Wurzeln radikaler Demokratie, In: DZPhilos., 324
[59] Habermas, J.: TkH, I., 114
[60] Kunstmann, W.: Verständigungsprozesse..., 38; Vgl. Habermas, J.: TkH, II., 204
[61] Habermas, J.: FuG, 1992
[62] Schneider, Wolfgang Ludwig : Grundlagen der soziologischen Theorie, 408
[63] Wüstehube, Axel : Ibidem, 328
[64] Schneider, Wolfgang: Grundlagen der soziologischen Theorie..., 410
[65] Habermas, J.: FuG, 107
[66] Horster, Detlef: Jürgen Habermas zur Einführung, 95
[67] Habermas, J. : FuG, 21
[68] Horster, Detlef: Ibidem, 96
[69] Habermas, J.: FuG, 106
[70] Habermas, J.: FuG, 108
[71] Lamore, Charles: Die wurzeln radikaler Demokratie..., 323-324; Vgl. Habermas, J.: FuG, 375f.
[72] Horster, Detlef: Jürgen Habermas zur Einführung, 96-97
[73] Habermas, J.: FuG, 151
[74] Habermas, J.: FuG, 163
[75] Habermas, J.: FuG, 155-156
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