Im Bereich der stationären Kinder- und Jugendhilfe sind die pädagogischen Fachkräfte tagtäglich hohen Belastungen ausgesetzt. Durch die ständige Konfrontation mit den traumatischen Erlebnissen der Heimkinder erfahren die Pädagogen viel von deren Leid. Ein Großteil der Betroffenen trägt die Sorgen der Heimkinder mit nach Hause und entwickelt schließlich selbst Traumatisierungssymptome. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Sekundären Traumatisierung. Im fachlichen Diskurs erhält diese Problematik noch nicht die gebotene Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund widmet sich diese Forschungsarbeit folgenden Fragestellungen:
1. Inwiefern können die Arbeitsumstände im Feld der stationären Kinder- und Jugendhilfe die Entstehung einer Sekundären Traumatisierung beim pädagogischen Fachpersonal begünstigen?
2. Welche Maßnahmen können der Entstehung einer Sekundären Traumatisierung vorbeugen?
Zur Beantwortung der forschungsleitenden Fragestellungen ist als Untersuchungsmethode eine ausführliche Literaturrecherche in unterschiedlichen Datenbanken und Bibliothekskatalogen sowie dem Internet durchgeführt worden.
In Bezug auf die erste Frage hat sich gezeigt, dass der ständige Umgang mit traumatisierten Kindern sowie ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen die Entstehung einer Sekundären Traumatisierung begünstigen. Identifizieren sich die Sozialarbeiterinnen zu sehr mit der Opferrolle der Heimkinder, dann verspüren sie deckungsgleich deren Gefühle der Angst und Hilflosigkeit. Man spricht in diesem Kontext auch von einer konkordanten Gegenübertragungsreaktion. Können diese Gegenübertragungsgefühle von der pädagogischen Fachkraft nicht bewältigt werden, dann kann dies zu einer Sekundären Traumatisierung führen. Um die Mitarbeiter vor einer solchen Belastungsstörung zu schützen, eignen sich diverse Maßnahmen. Die Leitungsebene steht in der Verantwortung, für schutzbringende Rahmenbedingungen zu sorgen. Auf der Teamebene stellen die gemeinsame Teilnahme an Fallberatungen und Supervisionen sowie eine unterstützende Teamkultur wesentliche Schutzfaktoren dar. Auf individueller Ebene eignen sich insbesondere die Selbstreflexion, die Aneignung von Sachkompetenz sowie die Anwendung von Methoden der Selbstfürsorge.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Anlass und Ausgangssituation
1.2 Forschungsleitende Fragen und gesellschaftliche Relevanz
1.3 Aufbauder Arbeit
1.4 Methodisches Vorgehen
2 Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen
2.1 Was ist ein Trauma? — Traumadefinition
2.2 Klassifikation von Traumata
2.3 Traumatische Ereignisse in Kindheit und Adoleszenz
2.4 Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter
3 Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe
3.1 Gesetzliche Einordnung nach §34 und §35a SGB
3.2 Die Problemlagen der jungen Menschen aus der stationären Jugendhilfe
3.3 Beziehungsdynamiken zwischen traumatisierten Kindern und pädagogischen Fachkräften
3.3.1 Bindungsorientierte Pädagogik als Voraussetzung für Übertragungsphänomene
3.3.2 Die Rolle der Übertragung und Gegenübertragung in der Beziehungsgestaltung
4 Sekundäre Traumatisierung bei psychosozialen Fachkräften
4.1 Differenzierung zwischen Primärer und Sekundärer Traumatisierung
4.2 Theoriemodelle zur Sekundären Traumatisierung
4.2.1 Compassion Fatigue (C. R. Figley)
4.2.2 Vicarious Traumatization (L A. Pearlman)
4.2.3 Neuropsychologisches Modell (J. Daniels)
4.2.4 Gegenüberstellung
4.3 Abgrenzung zum Burnout-Syndrom
4.4 Das Vorkommen Sekundärer Traumatisierung in der Kinder- und Jugendhilfe
4.4.1 Die Bedeutung der konkordanten Gegenübertragung auf die Entwicklung einer Sekundären Traumatisierung
4.4.2 Prävalenzstudie zur Sekundären Traumatisierung in der Kinder- und Jugendhilfe
5 Rahmenbedingungen und Methoden zum Schutz des pädagogischen Fachpersonals
5.1 Unterstützungsangebote auf Einrichtungs- und Leitungsebene
5.2 Unterstützungsangebote auf Teamebene
5.3 Methoden zur Entlastung auf persönlicher Ebene
6 Zusammenfassung und Ausblick
6.1 Beantwortung der Fragestellungen
6.2 Forschungsausblick und Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang 1: Fallberatungsmodell
Anhang 2: Selbstfürsorge
Anhang 2.1: 5-4-3-2-1-Übung
Anhang 2.2: Erbsen in derTasche
Anhang 2.3: Kritiker-Steckbrief erstellen
Anhang 2.4: Lobtagebuch schreiben
Anhang 2.5: Den Verbündeten zuhören
Anhang 3: Abstract
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Entwicklungsheterotopie von Traumafolgen (übernommen aus Schmid et al., 2010, S.49)
Abbildung 2: Die traumatische Übertragung (übernommen aus Lang, T.,2013.S.194)
Abbildung 3: Diagnostisches A-Kriterium einer PTBS nach DSM V (übernommen aus Döpfner & Zaudig, 2015, S.369)
Abbildung 4: Compassion Stress and Fatigue Model (übernommen aus Figley, 2002a, S.1437)
Abbildung 5: Symptomüberschneidung und -abgrenzung bei PTBS und Burnout (übernommen aus Lass-Hennemann et al., 2018, S.61)
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Schematische Einteilung traumatischer Ereignisse (übernommen aus Dittmar, 2013a, S.36 f.)
Tabelle 2: Vergleich der Symptome von PTBS und STBS (übernommen aus Figley, 1995, S.8)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
„There is a cost to caring” - Figley, 1995, S.1
So lautet einer der meist zitierten Sätze im Forschungsfeld der Sekundären Traumatisierung (Lemke, 2017, S.61). Mit diesen Worten umschrieb Figley einst den Umstand, dass Personen die leidenden Menschen helfen, sich dem Risiko aussetzen, von deren emotionalen Schmerz angesteckt zu werden (Figley, 1995, S.1). Diese Annahme ist unter Berücksichtigung der aktuellen Forschungsliteratur nach wie vor berechtigt. Auch in Lemkes Verständnis von einer Sekundären Traumatisierung spiegelt sich diese Annahme wider. Dieser beschreibt die Sekundäre Traumatisierung folgendermaßen:
„Wer traumatisierten Menschen hilft, kann durch diese Begegnung, durch den Kontakt zu diesen Menschen, durch die Auseinandersetzung mit seinem Erleben, durch die Behandlung seines Leidens - obwohl dem Trauma nicht unmittelbar ausgesetzt - auch traumatisiert werden. In diesem Fall liegt eine [...] .Sekundäre Traumatisierung1 [,..]vor“ (Lemke,2017, S.14).
1.1 Anlassund Ausgangssituation
In der stationären Kinder- und Jugendhilfe arbeiten die Sozialarbeiter1 tagtäglich mit traumatisierten jungen Menschen zusammen und setzen sich somit permanent hohen Belastungen aus (Schmid, 2013, S.37). Durch die ständige Konfrontation mit den traumatischen Erlebnissen der Heimkinder erfahren die Pädagoginnen viel von deren Leid und es stellt sich die Frage, wie sie diese Eindrücke verarbeiten sollen. Ein Großteil der Betroffenen trägt die Sorgen der Heimkinder mit nach Hause und entwickelt schließlich selbst Traumatisierungssymptome (Wagner, 2010, S.4). Im öffentlichen Diskurs sind die Belastungen, die im Rahmen einer solchen Tätigkeit entstehen, bislang weitestgehend ignoriert bzw. tabuisiert worden. Teilweise werden diese gar als Unprofessionalität bzw. persönliches Versagen Einzelner ausgelegt. Aufgrund dieser Sichtweise sowie des Umstands, dass die Thematik der Sekundären Traumatisierung von pädagogischen Fachkräften noch relativ unbekannt im Feld der Kinder- und Jugendhilfe ist, fehlt es in vielen Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe an präventiven Maßnahmen, die den zentralen Wirkungen einer Sekundären Traumatisierung entgegenwirken (Rießinger, 2013, S.369). Aufgrund meines Vorhabens nach der erfolgreichen Beendigung des Studiums beruflich im Feld der stationären Kinder- und Jugendhilfe Fuß zu fassen und der dadurch einhergehenden Beschäftigung mit dem o.g. Thema haben vor allem die Fragen, welche Faktoren zur Entwicklung einer Sekundären Traumatisierung beitragen, inwiefern diese im Feld der Heimerziehung zum Tragen kommen, wie sich eine solche Traumatisierung auf der Symptomebene bemerkbar macht und welche präventiven Maßnahmen der Entstehung eines solchen Störungsbildes entgegenwirken können, mein wissenschaftliches Interesse geweckt.
1.2 Forschungsleitende Fragen und gesellschaftliche Relevanz
Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Ausarbeitung sind eben genannte Themen aufgegriffen und in folgende forschungsleitende Fragen moduliert worden, die den Leitfaden sowie die Zielsetzung dieser Arbeit bilden:
1. Inwiefern können die Arbeitsumstände im Feld der stationären Kinder- und Jugendhilfe die Entstehung einer Sekundären Traumatisierung beim pädagogischen Fachpersonal begünstigen?
2. Welche Maßnahmen können der Entstehung einer Sekundären Traumatisierung vorbeugen?
Die gewählte Thematik hat eine hohe gesellschaftliche Relevanz, da die Inanspruchnahme stationärer Hilfen in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Am 31.12.2008 befanden sich ca. 56.000 junge Menschen in einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe (Statistisches Bundesamt, 2010, S.43). Acht Jahre später, am 31.12.2016, waren es bereits etwa 92.000, was einer Zunahme von ca. 64% entspricht (Statistisches Bundesamt, 2018, S.45). Demnach müssten auch immer mehr pädagogische Fachkräfte in dem Berufsfeld tätig und von den belastenden Umständen, die dort herrschen, betroffen sein. Sind die Belastungen derartig hoch, dass sie die Bewältigungsmechanismen der pädagogischen Fachkräfte überfordern, dann können die Mitarbeiter schnell zum Risikofaktor für die Klienten werden. Fühlen sich die Pädagoginnen hilflos und nur noch eingeschränkt handlungsfähig, wirkt sich dies auch negativ auf die Qualität der pädagogischen Arbeit aus. Schlimmstenfalls kann es zu Retraumatisierungen bei den Heimkindern kommen, wenn das Fachpersonal außerstande sein sollte, diese angemessen zu versorgen (BAG, 2013, S.101; Scherwath & Friedrich, 2020, S.17). Da letztlich nur stabile, handlungsfähige Sozialarbeiter in der Lage sind, traumatisierte Kinder und Jugendliche angemessen zu versorgen und sie in ihrer Entwicklung fördern, sollte der Stabilisierung des pädagogischen Fachpersonals auch ein hoher Stellenwert beigemessen werden (Lang, B., 2013a, S.137; Kessler, 2016a, S.286).
1.3 Aufbauder Arbeit
Das Gerüst dieser Arbeit wurde so aufgebaut, dass mit Fortschreiten der Abschnitte die Themen immer spezifischer hinsichtlich der forschungsleitenden Fragestellungen werden. Im zweiten Kapitel werden daher zunächst sehr allgemeine theoretische Grundlagen über Traumata vermittelt. Zudem werden auch typische Lebensumstände beschrieben, die bei jungen Menschen häufig zu Traumatisierungen führen. Hierbei handelt es sich um Erlebnisse, die von den betroffenen Mädchen und Jungen häufig auch in den Heimalltag mitgetragen werden und mit denen somit auch die Pädagoginnen indirekt in Berührung kommen. Des Weiteren werden auch die Traumafolgestörungen, die die betroffenen Kinder und Jugendlichen infolge traumatisierender Lebensumstände entwickeln, dargestellt. Diese machen sich sowohl auf der Erlebens- als auch auf der Verhaltensebene der betroffenen Heimkinder bemerkbar und sind demnach auch für die Sozialarbeiter aus der jeweiligen Wohngruppe spürbar. Das dritte Kapitel knüpft schließlich direkt ans vorangegangene an, indem der einzuschlagende juristische Weg beschrieben wird, der junge traumatisierte Menschen in die stationäre Kinder- und Jugendhilfe führt. Den Schwerpunkt dieses Kapitels bildet allerdings die Beschreibung der Beziehungsdynamiken zwischen den traumatisierten Kindern bzw. Jugendlichen und den pädagogischen Fachkräften. Besonders rücken hierbei die Rollen der Übertragung und Gegenübertragung im Rahmen der Beziehungsgestaltung in den Vordergrund. Im vierten Kapitel wird das Phänomen der Sekundären Traumatisierung in all seiner Komplexität vorgestellt. Im Zentrum steht hierbei vor allem die Gegenüberstellung der anerkannten Theoriemodelle dieses Phänomens. Außerdem wird beschrieben, inwiefern für pädagogische Fachkräfte ein Gefährdungspotential besteht, im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit in der stationären Kinder- und Jugendhilfe eine Sekundäre Traumatisierung zu entwickeln. Das fünfte Kapitel beinhaltet Maßnahmen, die der Entstehung einer Sekundären Traumatisierung entgegenwirken. Bei dieser Ausführung wird zwischen Maßnahmen auf Leitungs-, Team- und individueller Ebene differenziert. Im sechsten Kapitel werden die zentralen Aussagen dieser Arbeit anhand der Beantwortung der forschungsleitenden Fragen zusammengefasst. Anschließend wird diese wissenschaftliche Ausarbeitung mit einem Fazit abgeschlossen.
1.4 Methodisches Vorgehen
Für die Literaturrecherche sind sowohl die Bibliothekskataloge der Hochschule Mannheim (OPAC) und der Universität Heidelberg (HEIDI) als auch die Datenbanken Google Scholar, ResearchGate, Psyndex und Beck-online genutzt worden. Die gewählten Bibliothekskataloge und Datenbanken lieferten allesamt brauchbare Ergebnisse. In wenigen Ausnahmefällen erfolgte die Recherche aber auch auf institutionellen Websites. In den Datenbanken ist insbesondere mit folgenden Begriffen gesucht worden: „Sekundäre Traumatisierung“, „secondary traumatization“, „secondary trauma“, „compassion fatigue“, „vicarious traumatization", „Trauma“, „Kindheit Trauma“, „(Komplexe) PTBS“, „(K)PTBS Symptome“, „(Kommentierung) SGB VIII“, „(Kommentierung) Kinder- und Jugendhilfe Gesetz“, „Heimerziehung“, „stationäre Kinder- und Jugendhilfe“, „Kinder Trauma Heimerziehung“, „Übertragung“, „Gegenübertragung“, „Psychoanalytische Pädagogik“, „Prävention Sekundäre Traumatisierung“, „Schutz Sekundäre Traumatisierung“, „Präventionsmaßnahmen Pädagogen Heimerziehung“, „Szenisches Verstehen“, „Selbstfürsorge Heimerziehung“. Bei der Suche wurden sinnvolle Operatoren, Synonyme und Trunkierungen verwendet. Außerdem wurde darauf geachtet, dass die gewählte Literatur innerhalb der letzten zehn Jahre veröffentlicht worden ist. In Kapitel 4.2 und teilweise auch in anderen Abschnitten ist hiervon jedoch eine Ausnahme gemacht worden, da die an den entsprechenden Stellen genutzte ältere Fachliteratur im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs immer noch eine hohe Relevanz hat. Die Recherchearbeit zu Kapitel 4.2 wird an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen und genauer erläutert.
2 Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen
Als Basis für diese Arbeit wird zunächst beschrieben, was ein Trauma überhaupt ist und in welche unterschiedlichen Kategorien Traumata eingeteilt werden. Anschließend werden potenziell traumatisierende Umstände in Kindheit und Adoleszenz sowie die daraus resultierenden Störungen thematisiert.
2.1 WasisteinTrauma? —Traumadefinition
Der Begriff Trauma kommt aus dem Altgriechischen und wird ins Deutsche mit Verletzung bzw. Wunde übersetzt (Scherwath & Friedrich, 2020, S.20). Der Begriff ist darauf zurückzuführen, dass ein Trauma eine Verletzung der menschlichen Seele herbeiführt und somit auch eine Wunde an ihr verursacht. Eine allgemeingültige Definition des Traumabegriffs ist gegenwärtig noch nicht vorhanden (Pausch & Matten, 2018, S.4). Im medizinischen Kontext wird Trauma über die Klassifikationssysteme für Krankheiten, ICD-10 und DSM-5, definiert (Scherwath & Friedrich, 2020, S.20). Das in Deutschland gültige Klassifikationssystem ICD-10, für das die WHO zuständig ist, definiertTrauma als
„kurz- oder lang anhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde“ (Pausch & Matten, 2018, S.5).
Das in den USA gültige Klassifikationssystem DSM-5 hingegen versteht Trauma als „Konfrontation mit tatsächlichem oder drohenden Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt“ (Döpfner & Zaudig, 2015, S.369). Diese Konfrontation kann sowohl auf direkter als auch indirekter Weise zustande kommen (Pausch & Matten, 2018, S.5), weshalb man auch zwischen einer Primären und einer Sekundären Traumatisierung unterscheidet (siehe Kapitel 4.1).
Pausch und Matten zufolge zeichnet sich eine traumatische Situation durch ein Missverhältnis zwischen „der subjektiv erlebten Bedrohung für sich oder andere und den individuellen Bewältigungsstrategien [aus]“ (Ebd.,S.4, Hervorhebungen im Original). Die Situation, in welcher sich der Betroffene befindet, müsse demnach eine Dimension der subjektiv empfundenen Bedrohlichkeit erreichen, welche dessen individuellen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt. Somit hängt die Bewertung, ob ein Ereignis traumatisch ist, davon ab, wie dieses Ereignis von dem Betroffenen erlebt wird und wie gut dessen Bewältigungsstrategien entwickelt sind, um die Situation verarbeiten zu können. Beide dieser Faktoren sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich, wodurch eine spezifische Situation von der einen Person als traumatisierend wahrgenommen werden kann und von einer anderen wiederum nicht (Ditt- mar, 2013a, S.33; Wittmann, 2015, S.137). Darüber hinaus könne es für eine Person bereits traumatisierend sein, wenn diese eine Situation mit ansieht, in der sich ein anctererMensch in Lebensgefahr befindet. Dies kann bspw. der Fall sein, wenn jemand eine Gewalttat beobachtet (Pausch & Matten, 2018, S.4). Laut Pausch und Matten (Ebd.) weisen traumatische Vorfälle insbesondere drei Merkmale auf: Plötzlichkeit (Es passiert schnell und unerwartet), Heftigkeit (Es besteht Lebensgefahr) und Ausweglosigkeit (Betroffener fühlt sich hilflos und ausgeliefert). Liegen diese drei Faktoren vor, so ist die betroffene Person nicht in der Lage, die entsprechende Situation mittels seines individuellen psychischen Verarbeitungsvermögens zu bewältigen (Scherwath & Friedrich, 2020, S.21). Infolgedessen, dass die üblichen Bewältigungsstrategien während einer traumatischen Situation nicht greifen, verändert sich umgehend das neurophysiologische Gleichgewicht des Betroffenen. U.a. kommt es zu einer Steigerung der Herz- und Atemfrequenz sowie einer erhöhten Ausschüttung körpereigener Botenstoffe, wie bspw. Adrenalin, Dopamin und Cortisol. Die verstärke Hormonausschüttung führt schließlich zu einer gesteigerten Körperspannung, sodass der Betroffene sich schneller für Flucht- oder Kampfhandlungen bewegen kann, und einem erhöhten Angstempfinden, was wiederum zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit führt, durch die der Betroffene handlungsschneller reagieren kann. Zudem werden auch Funktionen bestimmter Hirnareale für kurze Zeit ausgesetzt, sodass mehr Energie für spezifische Notfallprogramme des menschlichen Organismus zur Verfügung steht. Durch die Aktivierung der Amygdala wird schließlich eine von den zwei möglichen Überlebensstrategien des menschlichen Organismus, Flucht oder Kampf, ausgelöst (Ebd., S.22). Bleiben Flucht bzw. Kampf ohne Erfolg, dann gerät die betroffene Person in die traumatische Zange [„No flight, no fight“ (Ebd., S.23)]. Wird keine der beiden Überlebensstrategien erfolgreich umgesetzt, dann werden durch das Gehirn Veränderungen der Wahrnehmungsleistung herbeigeführt. Infolgedessen kommt es zu einer Freeze-Reaktion, die, u.a. durch die erhöhte Ausschüttung von Endorphinen, eine Betäubung der Gefühle und Körperzustände bewirkt. In diesem Stadium werden schließlich dissoziative Phänomene ausgelöst. Das Geschehene wird als unwirklich wahrgenommen (Derealisation) und der Betroffene fühlt sich wie ein Beobachter, der das Ereignis von außen betrachtet (Depersonalisation). Die betroffene Person kann sich auf diese Weise innerlich von dem traumatischen Ereignis distanzieren (Ebd.).
2.2 Klassifikation von Traumata
Traumatisierende Vorfälle lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien einteilen. Im wissenschaftlichen Diskurs haben sich insbesondere zwei Klassifikationen durchgesetzt, zum einen die Einteilung in menschlich verursachten (personalen/ man made) versus zufälligen (apersonalen) Traumen und zum anderen die Unterscheidung zwischen kurz- (Typ I) gegenüber langfristigen (Typ II) Traumata. Zu den apersonalen (akzidentellen) Traumen muss noch hinzugefügt werden, dass diese auch von Menschen verursacht sein können, jedoch nicht von ihnen beabsichtigt wurden (z.B. wie bei einem Verkehrsunfall). Bei den Typ-I-Traumata handelt es sich um unvorhergesehene, schnell ablaufende und einmalige Vorfälle, während hingegen Typ-Il- Traumata länger andauern bzw. mehrmals stattfinden. Die Forschung hat unterdessen nachweisen können, dass die personalen (man made) Traumata sowie die Typ- Il-Traumata durchschnittlich zu stärker beeinträchtigenden und länger anhaltenden psychischen Belastungen führen als die Traumata der übrigen Kategorien (Dittmar, 2013a, S.35 ff.). In Tabelle 1 sind einige Beispiele von traumatischen Ereignissen nach den eben genannten Kriterien schematisch in unterschiedliche Blöcke eingeteilt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Schematische Einteilung traumatischer Ereignisse (übernommen aus Dittmar, 2013a, S.36 f.).
Seit einigen Jahren wird im wissenschaftlichen Diskurs häufig die Bindungs- und Beziehungstraumatisierung als eine weitere Trauma-Kategorie dazugezählt. Hierzu zählen sämtliche Verhaltensweisen von Erwachsenen, die dazu führen können, Mädchen und Jungen mit psychologischen Mitteln Schaden zuzufügen. Beispiele hierfür sind unter anderem:
- Dauerhaftes Entwerten der Kinder
- Andauernde Beschuldigungen (Sündenbockfunktion)
- Beobachtung von Gewalt (zwischen den Eltern)
- Verlassen des Kindes/ Häufiges Herbeiführen von Trennungen
- Emotionale Vernachlässigung (Keine körperliche Nähe, wie z.B. Umarmungen; keine emotionale Zuwendung; etc.)
- Psychischer Missbrauch, wie z.B. Quälen, Ignorieren, Isolieren von sozialen Kontakten und Aussprechen von Drohungen (Gewalt auszuüben/Kind zu verlassen, etc.)
- Erleben von Drogenabhängigkeit der Eltern (Ebd., S.37).
2.3 Traumatische Ereignisse in Kindheit und Adoleszenz
In Kapitel 2.1 ist bereits die ICD-10-Definition des Traumabegriffs vorgestellt worden. Bei dieser Definition handelt es sich um eine von mehreren Kriterien, die erfüllt sein müssen, um eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach ICD-10 diagnostiziert zu bekommen (Maercker, 2013, S.14). Seit Mitte der 1990er Jahre wird im wissenschaftlichen Diskurs jedoch immer häufiger kritisiert, dass die Diagnosekriterien der PTBS fast ausschließlich Typ-I-Traumata (Kriegseinsätze, Naturkatastrophen, Vergewaltigungen) berücksichtigen, während hingegen Typ-Il- Traumata in der Regel außen vor gelassen werden (Schmid et al., 2010, S.48; Hecker & Maercker, 2015, S.547 ff.). Dies hat zur Folge, dass Kinder, die schwer misshandelt oder sexuell missbraucht wurden, in den meisten Fällen von der PTBS- Diagnose nicht erfasst worden sind, obwohl auch sie traumatischen Umständen ausgesetzt waren (Schmid et al., 2010, S.48; Dittmar, 2013a, S.35). Die vier Formen von Kindeswohlgefährdung (Vernachlässigung, sexuelle Gewalt sowie körperlicher und seelischer Missbrauch) werden in der wissenschaftlichen Fachliteratur konsistent den Typ-Il-Traumen zugeordnet, welche von den ICD-10-Diagnosekriterien der PTBS, wie bereits eben erwähnt, üblicherweise nicht berücksichtigt werden (Schmid et al., 2010, S.48; Hecker & Maercker, 2015, S.547 ff.; Purtscher-Penz, 2015, S.96).
Im ICD-11, dessen erste Version bereits im Sommer 2018 publiziert wurde, ist mit der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (KPTBS) unterdessen eine neue Diagnose eingeführt worden. Neben der KPTBS bleibt die klassische PTBS auch weiterhin bestehen, jedoch wird mittels der KPTBS der Traumabegriff innerhalb des ICD-Klassifikationssystems erweitert (Gysi, 2018, PDF Seite 2, online). Im Rahmen der neu aufgenommenen Diagnose handelt es sich bei einem Trauma, um „ein extrem bedrohliches oder entsetzliches Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen, meistens längerdauernde oder wiederholte Ereignisse, bei denen Flucht schwierig oder unmöglich war (z.B. Folter, Sklaverei, Genozidversuche, längerdauernde häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Kindsmissbrauch)“ (Ebd., PDF Seite 1, online).
Diese Definition ist auch auf der Website der WHO in englischer Sprache online abrufbar (WHO, 2020, online). Mit der Einführung dieser neuen Diagnose ist die WHO der jahrzehntelangen Forderung aus der Wissenschaft, die Typ-Il-Traumata im Spektrum der Belastungsstörungen mitzuberücksichtigen, nachgegangen. Im Rahmen der KPTBS-Diagnose werden zukünftig insbesondere die unterschiedlichen Formen von fortdauernden Kindeswohlgefährdungen als potenziell traumatisierende Ereignisse anerkannt (Gysi, 2018, PDF Seite 2, online; Maercker, 2019, S.48 ff.). Im Folgenden sollen die Ereignisse, die in Kindheit und Adoleszenz am häufigsten eine Traumatisierung für die betroffenen Kinder und Jugendlichen darstellen, vorgestellt werden. Hierzu zählen die vier Formen der Kindeswohlgefährdung (Vernachlässigung, sexuelle Gewalt, körperlicher und seelischer Missbrauch) sowie die traumatische Trennung von einer wichtigen Bezugsperson und das Aufwachsen bei psychisch kranken Eltern (Weiß, 2016, S.28 ff.).
Vernachlässigung:
Vernachlässigung ist die am häufigsten vorkommende Form von Kindeswohlgefährdung (Ebd., S.28). Man spricht von Vernachlässigung, wenn Versorgungsleistungen über eine längere Zeitspanne hinweg nicht erbracht werden. Diese Form von Kindeswohlgefährdung kann sämtliche Grundbedürfnisse betreffen, auf deren Versorgung Mädchen und Jungen angewiesen sind. Dementsprechend wird auch zwischen verschiedenen Formen der Vernachlässigung unterschieden. Von körperlicher Vernachlässigung spricht man u.a. dann, wenn Kinder nicht ausreichend Nahrung bekommen, nur unzureichend hygienisch und medizinisch versorgt werden oder keine witterungsangemessene Kleidung erhalten. Von kognitiver bzw. erzieherischer Vernachlässigung sind Kinder betroffen, deren Erziehungs- und Förderungsbedarf komplett ignoriert wird. Ihnen werden keine lernanregenden Angebote (Spielmöglichkeiten) unterbreitet und die schulische Entwicklung findet oftmals auch keine Beachtung. Bei der emotionalen Vernachlässigung werden Signale (weinen, schreien, etc.) der jungen Menschen ignoriert und ihnen wird außerdem keine emotionale Wärme entgegengebracht. Überdies stellt auch eine unzureichende Beaufsichtigung (zu langes Alleinlassen) eine Form von Vernachlässigung dar (Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.104).
Seelischer Missbrauch:
Laut Weiß (2016, S.30 f.) ist der seelische Missbrauch insbesondere durch die Beziehung geprägt. „Bei emotionaler Misshandlung ist eine aktiv feindselige, entwürdigende, einschüchternde und verbal schädigende Interaktion ein durchgehendes Muster der Eltern-Kind-Beziehung“ (Herrmann, 2006, S.88, zitiert nach Weiß, 2016, S.31). Wie bei der Vernachlässigung ist auch die seelische Misshandlung in verschiedene Unterformen unterteilt. So spricht man von feindseliger Ablehnung, wenn Eltern ihre Kinder ständig demütigen oder kritisieren. Unter Ausnutzen bzw. Korrumpieren versteht man, wenn Jugendliche von ihren Eltern dazu gebracht werden, Straftaten zu begehen. Mit Terrorisieren sind Umstände gemeint, in welchen junge Menschen durch ständige Drohungen permanent in Angst versetzt werden. Das Isolieren umfasst Verhaltensweisen seitens der Eltern, die darauf ausgerichtet sind, ihre Kinder von Gleichaltrigen fernzuhalten. Darüber hinaus belastet auch Gewalt, welche zwischen Eltern stattfindet, das seelische Wohlbefinden der Kinder. Werden Kinder Zeugen von häuslicher Gewalt, dann verspüren sie u.a. intensive Gefühle der Angst, Traurigkeit oder Ohnmacht. Viele Kinder werden auch häufig von ihren Eltern instrumentalisiert, wenn diese sich trennen. Tragen Eltern ihre Streitigkeiten über ihre Kinder aus, so geraten diese in Loyalitätskonflikte, welche ebenfalls eine starke psychische Belastung darstellen (Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.97 ff.).
Körperlicher Missbrauch:
Dem Kinderschutz-Zentrum Berlin zufolge umfasst der körperliche Kindesmissbrauch sämtliche Arten von Handlungen, egal ob bewusst oder unbewusst, welche „zu nicht zufälligen körperlichen Schmerzen, Verletzungen oder gar zum Tode führen“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin, 2009, S.38, zitiert nach Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.96). Körperlicher Missbrauch kann auf verschiedene Weisen durchgeführt werden. So kann es sich um Schläge mit der bloßen Hand aber auch um Prügel mit Gegenständen, wie bspw. einem Gürtel, handeln. Ebenso gehören das Beißen, Schütteln und Würgen sowie das Beifügen von Schnittverletzungen, Verbrennungen und Unterkühlungen zu Formen der körperlichen Misshandlung (Biesel & UrbanStahl, 2018, S.96). Laut Weiß (2016, S.32) sind meistens emotionale Willens- und Bedürfnisäußerungen von Säuglingen bzw. sehr jungen Kindern, in Form von Weinen, Schreien, Nachfragen, etc., Auslösersolcher Misshandlungen.
Sexuelle Gewalt:
Sexuelle Gewalt umfasst sämtliche sexuelle Aktivitäten, die an oder vor einem Kind ausgeübt werden. Hierzu zählen „Belästigung und Masturbation, oraler, analer oder genitaler Verkehr, aber auch die sexuelle Ausbeutung durch Einbeziehung von Minderjährigen in pornographische Aktivitäten und Prostitution“ (Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.107 f.).
Traumatische Trennung:
Trennungen von wichtigen Bezugspersonen stellen insbesondere für junge Kinder ein hohes Traumarisiko dar. Je jünger Kinder sind, desto schwerer fällt es ihnen, eine Trennung zu verarbeiten und umso höher ist das Risiko einer Traumatisierung. Dies trifft selbst auf Kinder zu, die von ihren engsten Bezugspersonen auf extreme Weise misshandelt worden sind. Infolge von Trennungen entwickeln Kinder zudem häufig noch Schuldgefühle, da sie glauben, dass sie dafür verantwortlich sind, dass ihre Eltern sie weggegeben haben bzw. weggeben mussten (Weiß, 2016, S.40).
Aufwachsen bei psychisch kranken Eltern:
Das Aufwachsen bei psychisch kranken Eltern stellt für Kinder i.d.R. extreme psychische Belastungen dar. Vernachlässigung sowie seelische Misshandlungen sind typische Begleiterscheinungen einer solchen Situation. Die Eltern sind oftmals aufgrund ihrer Erkrankung nicht (mehr) in der Lage, sich um ihre Kinder zu kümmern. Viele Jungen und Mädchen werden deshalb in eine Elternrolle gedrängt, welche nicht ihrem jeweiligen Entwicklungsstand entspricht. So fungieren sie als Ansprechpartner nach außen, kümmern sich um den erkrankten Elternteil und übernehmen sämtliche Haushaltstätigkeiten. Darüber hinaus machen psychisch kranke Eltern ihre Kinder häufig für die miserablen Umstände, in denen sie leben, verantwortlich. Das wirre Verhalten der Erwachsenen löst in den jungen Menschen meistens Angst- und Schuldgefühle aus (Ebd., S.42 f.). Die Kinder sorgen sich, dass ihr erkranktes Elternteil Suizid begehen könnte und sie schließlich allein dastehen. Außerdem werden sie oftmals unter Druck gesetzt, den Zustand der Mutter bzw. des Vaters geheim zu halten, was wiederum häufig in einen Zustand der sozialen Isolation mündet (Biesel & Urban-Stahl, 2018, S.114).
2.4 Traumafolgestörungen im Kindes- und Jugendalter
Wie in Kapitel 2.3 bereits erwähnt worden ist, ist in der neuesten Ausgabe des ICD- Klassifikationssystems, dem ICD-11, mit der KPTBS eine weitere Diagnose im Bereich der Belastungsstörungen hinzugefügt worden. Mittels dieser neuen Diagnose sollen zukünftig insbesondere die psychischen Auswirkungen von Typ-Il-Traumata abgebildet werden (Maercker, 2019, S.48). Bislang wurden Typ-Il-Traumata, wenn überhaupt, mit der PTBS-Diagnose abgedeckt, die jedoch die Symptome chronisch traumatisierter Menschen nicht vollständig abbildet (Schmid et al., 2010, S.54; Maercker, 2019, S.51 f.). Es hat sich gezeigt, dass fortandauernde Kindesmisshandlung zu weitaus umfassenderen Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen führt, als es das Störungsbild der klassischen PTBS suggeriert (Hecker & Maercker, 2015, S.547 ff.; Hensel, 2017, S.31). Im Gegensatz zur einfachen PTBS erfasst die KPTBS vielmehr auch „die unter den Symptomen liegende traumabedingte Dynamik“ (Hensel, 2017, S.32) und stellt somit ein weitaus vielfältigeres und komplexeres Krankheitsbild dar (Ebd.). Das Störungsbild der KPTBS berücksichtigt u.a. Untersuchungen, die festgestellt haben, dass komplexe Traumatisierungen, die bereits in der frühen Kindheit entstanden sind, zum einen, meistens bis ins Erwachsenenalter hinein fortdauern und zum anderen, sich in unterschiedlichen Entwicklungsaltersstufen verschiedenartig auf der Symptomebene auswirken (Schmid et al., 2010, S.48).
In einer Übersicht (siehe Abb.1) haben Schmid et al. (2010, S.49) die typischen Entwicklungsverläufe komplex traumatisierter junger Menschen dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Entwicklungsheterotopie von Traumafolgen (übernommen aus Schmid et al., 2010, S.49).
Weitere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Symptomatik umso schwerwiegender wiegt, je jünger die Person zum Zeitpunkt der Traumatisierung gewesen ist (Ebd.). Außerdem hat man feststellen können, dass sich die Symptomatik bei Mädchen vornehmlich in Form von internalisierenden Störungen und bei Jungen hingegen eher in externalisierenden Verhaltensmustern äußert (Hensel, 2017, S32). Insgesamt lässt sich festhalten, dass „das Ausmaß der Belastung durch traumatische Erfahrungen [...] abhängig von der Art, den Umständen und der Dauer des Ereignisses, vom Entwicklungsstand des Opfers zum Zeitpunkt der Traumatisierungen und eventuell vorhandenen protektiven Faktoren bzw. Risikofaktoren [ist]“ (Kreiner et al., 2015, S.86).
Im Folgenden wird das Störungsbild der KPTBS ausführlich vorgestellt. Zum einen beinhaltet es die typischen PTBS-Symptome Wiedererleben, Vermeidung und Übererregung und zum anderen umfasst es Störungen der Selbstorganisation. Zum letztgenannten Punkt zählen Emotionsregulationsprobleme (inklusiver Dissoziationsneigung), selbstherabsetzende Überzeugungen sowie Beziehungsschwierigkeiten (Maercker, 2019, S.49). In der Gesamtsymptomatik dieses Störungsbildes stehen die Belastungen aus dem Spektrum der gestörten Selbstorganisation deutlich im Vordergrund, während hingegen die typischen PTBS-Symptome nicht in voller Ausprägung vorliegen müssen. Darüber hinaus führt das Störungsbild der KPTBS zu Teilhabebeeinträchtigungen in unterschiedlichen Lebensbereichen der Betroffenen (Ebd., S.50). Schmid et al. (2010, S.51) nennen bspw. Leistungs- und DisziplinProbleme im Bereich Schule, Konflikte und verletzendes Verhalten im Bereich Familie sowie Isolation oder Beteiligung an Straftaten in der Gruppe mit Gleichaltrigen.
PTBS-Svmptome:
Wiedererleben (Intrusionen)
Als Intrusion bezeichnet man das bruchstückhafte oder vollständige Wiedererleben des traumatischen Vorfalls in Form von bildhaften Gedanken und Alpträumen. Bei diesem psychologischen Phänomen, welches auch Flashback genannt wird, verwechselt das Bewusstsein die aktuelle Lage mit dem traumatisierenden Ereignis (Scherwath & Friedrich, 2020, S.28). Kommt es beim Betroffenen zu einem kompletten Verlust des Gegenwartsbezugs, dann hat der Flashback einen dissoziativen Zustand herbeigeführt, welcher einige Sekunden bis mehrere Stunden andauern kann (Dittmar, 2013b, S.43). Ein Flashback wird i.d.R. durch einen sogenannten Trigger ausgelöst. Bei Trigger handelt es sich wiederum um Schlüsselreize, die mit Aspekten des Traumas Zusammenhängen und über neuronale Verknüpfungen, Zustände und Alarmreaktionen der ursprünglich traumatischen Ausgangslage herbeiführen (Scherwath & Friedrich, 2020, S.28). Solche Trigger können „durch Gerüche, Bilder, Orte, Bewegungen, bestimmte Worte, Berührungen, Empfindungen [und] Verhaltensweisen [...] ausgelöst werden“ (Ebd.). Im Gegensatz zu einfachen Erinnerungen unterscheiden sich Flashbacks dadurch, dass sie nicht absichtlich abgespielt oder abgebrochen werden können und somit nicht steuerbar sind. Flashbacks werden zudem von extrem unangenehmen Gefühlen begleitet. Die Betroffenen geraten, wie in der belastenden Situation, u.a. in Panikzustände oder erleiden Schwindelgefühle und Übelkeit. Ein Flashback stellt also eine Retraumatisierung dar, in welcher der Betroffene die traumatische Situation mit den dazugehörigen Gefühlen nochmals erfährt (Ebd., S.29 f.).
Vermeidung (Konstriktion)
Die Betroffenen meiden willentlich jegliche Umstände, welche Trigger auslösen könnten, die zu Intrusionen führen. Dies zieht eine Einschränkung in der Lebensführung nach sich, da die traumatisierten Personen u.U. bestimmte Situationen bewusst umgehen und womöglich auch Gesprächen ausweichen. Als Vermeidungsstrategie konsumieren einige auch Drogen, weil durch die betäubende Wirkung, Abstand zu den traumatischen Gedanken und den damit einhergehenden Gefühlen herbeigeführt werden kann. Andererseits gehört zum Symptom der Konstriktion auch das unwillkürliche Abdriften in dissoziative Zustände. Wie während der traumatischen Situation, dient dieser veränderte Bewusstseinszustand auch im Nachhinein als Notfallprogramm, um einer Übererregung vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken. Dies hat zur Folge, dass die Betroffenen oftmals nicht bei vollem Bewusstsein sind, sondern sich situativ als abgespalten von der eigenen Person und den im aktuellen Moment stattfindenden Ereignis erleben. Bemerkbar macht sich dieses Phänomen schließlich durch verzögerte bzw. ausbleibende Reaktionen der traumatisierten Menschen. Die Betroffenen wissen im Nachhinein dementsprechend oftmals gar nicht, was während ihres dissoziativen Zustandes alles vorgefallen ist bzw. was sie währenddessen getan haben (Ebd., S.31). Darüber hinaus gehört zur Symptomkategorie der Konstriktion auch ein emotionales Betäubtsein, was zu Folge hat, dass die Betroffenen nicht mehr fähig sind, positive Gefühle zu erleben. Ihre Begeisterungsfähigkeit und Interessen nehmen ab und damit einhergehend verringern sich auch ihre Zukunftsaussichten (Dittmar, 2013b, S.45 f.).
Übererregung (Bedrohungsgefühl)
Bei traumatisierten Menschen sinkt die Erregungsschwelle des vegetativen Nervensystems oftmals auf ein sehr niedriges Level ab, wodurch der Organismus in ständige Alarmbereitschaft versetzt wird (Ebd., S.46). Die Betroffenen sind innerlich permanent darauf eingestellt, in den Kampf- bzw. Fluchtmodus übergehen zu müssen. Dementsprechend ist der Zustand der Übererregung auch von einer fortlaufend erhöhten Wachsamkeit (Hypervigilanz) geprägt. Durch die erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen werden oftmals auch gewöhnliche Alltagsbelastungen als bedrohliche Situationen eingestuft, was zu einem andauernden Bedrohungsgefühl oder einer extremen Stresssensibilität führt (Scherwath & Friedrich, 2020, S.27). Der Zustand der Überregung macht sich in vielen Fällen auch durch Schlafstörungen, „allgemeine Unruhe, Konzentrations- und Leistungsschwächen, plötzliche aggressive Impulsdurchbrüche [und] Überschusshandlungen oder Orientierungslosigkeit [bemerkbar]“ (Ebd.). Eine solche Symptomatik, welche die Betroffenen aggressiv und unberechenbar erscheinen lässt, bereitet den traumatisierten Menschen häufig enorme Probleme im sozialen Miteinander (Ebd., S.28).
Störungen der Selbstorganisation:
Emotionsregulationsprobleme (inkl. Dissoziationsneigung)
Kindesmissbrauch macht sich bei vielen Kindern und Jugendlichen durch problembehaftete Entwicklungsverläufe in der Affektregulation und der Impulskontrolle bemerkbar. Affekte von Ohnmacht, Wut, Scham, Trauer und Hass werden regelrecht als guälende körperliche Spannungszustände erlebt und nicht bloß als isolierte Gefühlszustände wahrgenommen. Häufig haben die Betroffenen enorme Schwierigkeiten, mit diesen Affektzuständen umzugehen und sind nicht in der Lage, sich selbst zu beruhigen, was wiederum gelegentlich zu Wutausbrüchen führt. Andere Versuche der Selbstregulierung äußern sich u.a. in Form von selbstverletzendem Verhalten, dem Konsum von Alkohol und Drogen, übermäßigem Fressen oder zwanghaftem Masturbieren (Beckrath-Wilking, 2013a, S.102; DeGPT, 2020, online). Darüber hinaus driften viele traumatisierte Kinder und Jugendliche bei Stresssituationen unbeabsichtigt in dissoziative Zustände ab und verlieren in diesen Phasen die Kontrolle über ihr Denken und Handeln. Währenddessen können sie weder Appelle des Gegenübers aufnehmen, noch sind sie in der Lage sich an Regeln zu erinnern oder ihre Handlungen zu unterbrechen (Scherwath & Friedrich, 2020, S.45).
Selbstherabsetzende Überzeugungen
Traumatisierende Umstände, wie Vernachlässigung, physische, psychische oder sexuelle Gewalt, führen bei Kindern und Jugendlichen zu einer starken Beschädigung ihres Identitätsgefühls (Maercker, 2019, S.50). Infolge von Kindesmisshandlungen bilden sich viele junge Menschen ein, einen Anlass für solche Grausamkeiten gegeben zu haben und somit selbst für das Geschehene verantwortlich zu sein. Auf diese Weise entwickeln die meisten Betroffenen häufig Schuld- und Schamgefühle. Oftmals werden solche emotionalen Besetzungen auch durch die Täter noch zusätzlich verstärkt, indem sie bspw. ihren sexuellen Missbrauch dem Opfer gegenüber dadurch rechtfertigen, dass dieses sie verführt habe. Physische und psychische Misshandlungen werden hingegen häufig mit der Dummheit, Hässlichkeit oder Wertlosigkeit des jeweiligen Opfers begründet. Extremste Herabwürdigungen dieser Art führen bei den Betroffenen i.d.R. zu einem negativen Selbstbild. Nicht induzierte Schuldgefühle können allerdings auch eine schützende Funktion haben. Sie implizieren, dass ein anderes Verhalten den Vorfall hätte abwenden können und wirken somit den traumatischen Ohnmachtserfahrungen entgegen (Scherwath & Friedrich, 2020, S.42 f.). Traumatisierte Kinder und Jugendliche, die von Schuldgefühlen verschont bleiben, entwickeln hingegen oftmals intensive Gefühle der Hilf- und Hoffnungslosigkeit (Beckrath-Wilking, 2013a, S.103). Eine weitere Funktion von Schuldgefühlen besteht darin, dass Kinder auf diese Weise eine positive Bindung zu den missbrauchenden Bezugspersonen aufrechterhalten können und dadurch das emotionale Überleben gesichert wird (Scherwath & Friedrich, 2020, S.43). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Kindesmissbrauch in all seinen Facetten nachhaltig auf die Persönlichkeitsstruktur der Opfer auswirkt. Diese entwickeln in aller Regel ein negatives Selbstbild, welches von Überzeugungen der Minderwertigkeit, Hilflosigkeit und Unterlegenheit geprägt ist (Beckrath-Wilking, 2013a, S.100 ff., Maercker, 2019, S.50).
Beziehungsschwierigkeiten
Vernachlässigung und Kindesmissbrauch wirken sich äußerst negativ auf die Entwicklung der Bindungsfähigkeit von Opfern aus (Beckrath-Wilking, 2013a, S.100). Aufgrund der destruktiven Vorerfahrungen mit engen Bezugspersonen fällt es traumatisierten Kindern und Jugendlichen schwer, anderen Menschen Vertrauen entgegenzubringen (DeGPT, 2020, online). Einige Betroffene haben infolgedessen auch eine überspannte Erwartungshaltung an eine Beziehung (Maercker, 2019, S.50). So fällt es ihnen bspw. schwer, kurzzeitige Trennungen von Bezugspersonen zu akzeptieren und wollen ununterbrochen in deren Nähe sein (Schmid et al., 2010, S.50). Ist dies der Fall, besteht auch häufig die Gefahr, dass sie wiederkehrend in Situationen gelangen, in denen sie von einer nahestehenden Person missbraucht werden (DeGPT, 2020, online). Vor allem sexuell missbrauchte Jugendliche zeigen häufig sexualisiertes Verhalten und versuchen unangemessene, intime Kontakte herzustellen (Schmid et al., 2010, S.50). Andere komplex traumatisierte Kinder wiederum werden anderen Menschen gegenüber gewalttätig und schlüpfen somit selbst in die Täterrolle (DeGPT, 2020, online). Da sie in ihrer Vergangenheit menschenunwürdig behandelt wurden, hat sich die Empathiefähigkeit bei Ihnen nur eingeschränkt bzw. gar nicht entwickeln können (Scherwath & Friedrich, 2020, S.38).
3 Traumatisierte Kinder und Jugendliche in der stationären Jugendhilfe
In diesem Kapitel wird zunächst der einzuschlagende juristische Weg beschrieben, der junge Menschen in die stationäre Kinder- und Jugendhilfe führt. Darüber hinaus werden auch die Zielsetzungen stationärer Einrichtungen kurz aufgegriffen, um ein erweitertes Verständnis davon zu bekommen, worauf die Arbeit der dort tätigen pädagogischen Fachkräfte abzielen soll. Im Anschluss daran werden die Verhältnisse, aus denen die stationär untergebrachten Kinder und Jugendlichen stammen, grob dargestellt. Nachfolgend wird die Ulmer Heimkinderstudie, in der festgestellt wurde, wie groß der Anteil an Heimkindern ist, der eine oder mehrere psychische Störungen aufweist, vorgestellt. Diese Studie ist die einzige, die im Zuge der Literaturrecherche zu dieser Thematik erfasst werden konnte. Abschließend werden die problematischen Beziehungsdynamiken, die zwischen den komplex traumatisierten Klienten und den pädagogischen Fachkräften stattfinden, thematisiert.
3.1 Gesetzliche Einordnung nach §34 und §35a SGB VIII
Gesetzliche Einordnung nach §34 SGB VIII
Die Heimerziehung nach §34 SGB VIII gehört neben der Vollzeitpflege (§33 SGB VIII) und der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung (§35 SGB VIII) zu den stationären Erziehungshilfen (Bernzen & Bruder, 2018, S. 144).
„Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht (Heimerziehung) oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern“ (§34 SGB VIII).
An dieser Stelle wird im Gesetzestext u.a. deutlich gemacht, dass Heimerziehung heutzutage in sehr unterschiedlichen Einrichtungsformen stattfindet (Günder & No- wacki, 2020, S.56). Günder und Nowacki (Ebd., S.75 ff.) zählen in diesem Zusammenhang (Außen)-Wohngruppen, Erziehungsstellen und das Betreute Wohnen auf. Im Rahmen dieser Ausarbeitung sind insbesondere die Erziehungsstellen hervorzuheben, da in dieser stationären Hilfeform vorrangig komplex traumatisierte Kinder und Jugendliche mit gravierenden Entwicklungsdefiziten und heftigen Verhaltensstörungen aufgenommen werden. Aufgrund ihrer speziellen pädagogischen Bedürfnisse werden die Mädchen und Jungen in dieser Hilfeform sehr engmaschig betreut. In der Regel werden pro Erziehungsstelle nur ein bis zwei, in Ausnahmefällen bis zu drei, Klienten aufgenommen (Ebd., S.77). Auch Struck und Trenczek betonen die Vielzahl unterschiedlicher Heimkonzeptionen. Aus ihrer Auflistung sind im Kontext dieser Ausarbeitung insbesondere die heilpädagogischen und therapeutischen Heime hervorzuheben, die, so wie auch die Erziehungsstellen, in der Lage sind, gezielt auf die speziellen pädagogischen Bedürfnisse komplex traumatisierter junger Menschen einzugehen (Struck & Trenczek, 2019, §34 Rn.2).
Neben der Entwicklungsförderung der jungen Menschen soll die Hilfe nach §34 SGB VIII außerdem
„1. eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder
2. die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder
3. eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten“ (§34 SGB VIII).
Hieran erkennt man, dass eine Hilfe nach §34 SGB VIII im Normalfall langfristig angelegt ist. Ein Großteil der Jungen und Mädchen bleibt für bis zu drei Jahren in dieser Hilfeform. Ist eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie und auch die Vermittlung in eine andere Familie nicht möglich, dann bleiben die jungen Menschen sogar bis zu ihrer Verselbstständigung in einem Heim bzw. in einer sonstigen betreuten Wohnform (Günder & Nowacki, 2020, S.67).
Die Tatbestandsvoraussetzungen, die für den Rechtsanspruch auf §34 SGB VIII sowie auch für die anderen Erziehungshilfen erfüllt sein müssen, regelt §27 Abs.1 SGB VIII (Bernzen & Bruder, 2018, S. 143). Gemäß §27 Abs. 1 SGB VIII hat der Personensorgeberechtigte eines Kindes bzw. eines Jugendlichen dann einen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung, „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§27 Abs.1 SGB VIII). Liegt eine Kindeswohlgefährdung (siehe Kapitel 2.3) vor und sind die Personensorgeberechtigten nicht gewillt, die Gefahr für ihr Kind abzuwenden, beispielsweise indem sie eine Hilfe zur Erziehung gern. §§ 27 ff. SGB VIII in Anspruch nehmen, dann obliegt es dem zuständigen Jugendamt den Entzug eines Teilbereichs der elterlichen Sorge beim zuständigen Familiengericht zu beantragen. Stimmt das Gericht dem Antrag zu, dann wird ein sog. Pfleger bestellt, welcher schließlich anstelle der Personensorgeberechtigten die Hilfe zur Erziehung nach §27 SGB VIII i.V.m. §34 SGB VIII beantragt (Günder & Nowacki, 2020, S.67 f.).
Gesetzliche Einordnung nach §35a SGB VIII
Neben der Heimerziehung nach §34 SGB VIII besteht für bestimmte Personengruppen auch die Möglichkeit in einer stationären Einrichtung der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach §35a Abs.2 Nr.4 SGB VIII aufgenommen zu werden. Einrichtungen dieser Art sind darauf spezialisiert, Kinder und Jugendliche, die an einer psychischen Störung leiden und in ihrer Teilhabe eingeschränkt sind, bedarfsgerecht zu versorgen. Ziel dieser Hilfeform ist zum einen, junge Menschen mit einer (drohenden) seelischen Behinderung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung sowie Selbstständigkeit zu fördern und sie zu einer strukturierten Lebensführung unter Einbezug schulischer Bildung bzw. beruflicher Teilhabe zu befähigen. Zum anderen zielt diese Hilfeform darauf ab, die Klienten mittels psychotherapeutischer Elemente dabei zu unterstützen, ihre seelische Problematik zu bewältigen und zu verbessern (Boetticher & Meysen, 2019, Rn.61).
Anspruchsinhaber für diese spezialisierte Hilfeform sind nach §35a Abs.1 SGB VIII, anders als bei der Heimerziehung nach §34 SGB VIII, nicht die Personensorgeberechtigten, sondern die Kinder und Jugendlichen selbst. Die Geltendmachung des Anspruchs erfolgt bei Kindern jedoch ausschließlich durch die Personensorgebe- rechtigten (Boetticher & Meysen, 2019, Rn.15). Erst Jugendliche, die das 15. Lebensjahrvollendet haben, sind nach §36 Abs.1 SGB I sozialrechtlich handlungsfähig und können die Leistung selbst beantragen. Tatbestandvoraussetzung für diese Hilfeform ist zum einen, „eine relevante Abweichung der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand“ (Finke, 2019, S.13). Diese muss gern. §35a Abs.1 Nr.1 SGB VIII mit hoher Wahrscheinlichkeit für mindestens 6 Monate anhalten und gern. §35a Abs.la S.2 SGB VIII auf Grundlage der aktuell geltenden ICD-Version festzustellen sein. Zum anderen muss sich aus der Abweichung der seelischen Gesundheit auch eine Beeinträchtigung der Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen des jungen Menschen ergeben, um diese Hilfe in Anspruch nehmen zu können (§35 Abs.1 Nr.2 SGB VIII). Wie in Kapitel 2.4 bereits erwähnt wurde, ist die KPTBS mittlerweile im ICD-11 aufgenommen worden. Zudem ist auch dargelegt worden, dass eines der Diagnosekriterien eine Teilhabebeeinträchtigung in unterschiedlichen Lebensbereichen des Betroffenen voraussetzt. Bezogen auf Kinder und Jugendliche, die an einer KPTBS leiden, bedeutet dies, dass sie (zukünftig) einen Anspruch auf diese Hilfeform haben und somit auch in stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche aufgenommen werden können.
3.2 Die Problemlagen der jungen Menschen aus der stationären Jugendhilfe
Laut Günder und Nowacki (2020, S.39) stammen nahezu alle Heimkinder aus schwierigen Verhältnissen. Die Ursachen hierfür sind jedoch ganz unterschiedlich. Das Statistische Bundesamt hat zuletzt für das Jahr 2016 Daten bzgl. der Gründe für eine Hilfegewährung nach §34 SGB VIII und §35a Abs.2 Nr.4 SGB VIII (stationäre Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche) erhoben. Der Erhebung zufolge nach befanden sich am letzten Tag des Jahres 2016 ca. 92.000 junge Menschen in einer stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung. Bei knapp 32% der Kinder und Jugendlichen lag als Hauptgrund für die stationäre Unterbringung eine Unversorgtheit vor. D.h., dass die Bezugspersonen aus unterschiedlichen Gründen (stationäre Unterbringung wegen Krankheit, Inhaftierung, Tod, Fluchtursachen) komplett ausfielen und die jungen Menschen auf sich allein gestellt waren. Bei weiteren 15% lag als Hauptgrund eine Kindeswohlgefährdung (körperliche, seelische, sexuelle Misshandlung) und bei 11% eine unzureichende Betreuung und Versorgung der jungen Menschen vor (Statistisches Bundesamt, 2018, S.45). Rechnet man bereits diese Zahlen zusammen, so stellt man fest, dass bei mindestens 58% der Betroffenen eine Vernachlässigung (Unversorgtheit bzw. unzureichende Betreuung und Versorgung) bzw. eine anderweitige Kindeswohlgefährdung (körperlicher, seelischer oder sexueller Missbrauch) der Hauptgrund für eine Heimunterbringung gewesen ist. Der Verdacht liegt jedoch nahe, dass weitaus mehr Heimkinder einer Kindeswohlgefährdung, insbesondere in Form von Vernachlässigung und/oder psychischer Misshandlung, ausgesetzt waren, sofern man die Fakten berücksichtigt, dass bei 10% der Heimkinder psychische Belastungen aufgrund der Problemlagen der Eltern (psychische Störungen, geistige Behinderung, etc.) bzw. aufgrund familiärer Streitigkeiten (Partnerkonflikte, Umgangsstreitigkeiten, etc.) und bei weiteren 5% seelische Probleme (Angst- und Zwangsstörungen, suizidale Tendenzen, etc.) die Hauptgründe für eine Heimunterbringung gewesen sind (Ebd., S.46). Diese Zahlen belegen, dass sehr viele junge Menschen aus der stationären Kinder- und Jugendhilfe in ihrer Vergangenheit traumatische Lebensereignisse, wie sie insbesondere in Kapitel 2.3 beschrieben worden sind, durchlebt haben.
Mitte der 2000er Jahre führte Marc Schmid die sog. Ulmer Heimkinderstudie in 28 Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe durch. In der Studie wurde festgestellt, dass ca. 60% der 689 befragten jungen Menschen eine psychische Störung aufweist. Bei knapp 38% der Befragten sind sogar mehrere Störungsbilder festgestellt worden. Diese Ergebnisse wurden später auch in der Ulmer Heimkinderinterventionsstudie bestätigt. Am häufigsten sind Störungen des Sozialverhaltens (aggressiv-impulsives Verhaltens), ADHS und emotionale Störungen, wie bspw. Depressionen und auch Angststörungen, diagnostiziert worden (Schmid, 2013, S.38; Ziegenhain, 2013, S.31; Beck, 2014, S.380). Laut Ziegenhain (2013, S.31) sind vermutlich chronische Traumatisierungen, die ihren Ursprung in der frühen Kindheit haben, der Grund für diese Störungen. Hierfür spräche ihrer Auffassung nach auch eine weitere Studie, die zeigt, dass 60% der jungen Menschen, die in Heimen leben, Misshandlungen jeglicher Art und/oder Vernachlässigung ausgesetzt waren (Ebd.). Ziegenhains Argumentation deckt sich demnach mit den Erkenntnissen zu den Entstehungsursachen von Traumafolgestörungen, die in Kapitel 2.3 dargelegt worden sind, und auch mit den eben vorgestellten Zahlen des Statistischen Bundesamtes hinsichtlich der Gründe für eine Hilfegewährung nach §34 bzw. §35a Abs.2 Nr.4 SGB VIII. Auch Schmid (2013, S.37) kommt zu dem Schluss, dass die meisten Heimkinder chronische Traumatisierungen (Typ-Il-Traumata) in ihren Herkunftsfamilien durchlebt haben und ein Großteil dieser jungen Menschen infolgedessen nun an einer komplexen PTBS leidet.
[...]
1 Im Sinne der besseren Lesbarkeit wird in diesem Text auf die simultane Verwendung von männlichen und weiblichen Sprachformen verzichtet. Die beiden Sprachformen werden stattdessen abwechselnd eingesetzt. Dabei sind stets beide Geschlechter gemeint.
-
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X.