„Wenn die Treppe hinab nicht so breit wäre, könnte man meinen, es ginge in eine Gruft aus Beton. Links und rechts ragen die Stelen des neuen Mahnmals auf. Um die Aura des Feldes als einem "symbolischen Friedhof" für die ermordeten sechs Millionen Juden Europas nicht zu stören, wurde der "Ort der Information" in den Untergrund verlegt. Das, was oben an Erklärung fehlt, soll unten nachgeliefert werden.“ (Den Opfern ein Gesicht geben, Bönningheimer Zeitung vom 11.05.2005)
Gliederung
1. Chronologie der Planung und Realisierung des„Mahnmals für die ermordeten Juden Europas“
2. Die Entscheidung für einen „Ort der Information“
3. Die Ausstellungsdesignerin Dagmar von Wilcken
3.1. Tabellarische Kurzbiografie
3.2. Dagmar von Wilckens „Referenzprojekt“ ‚Juden in Berlin 1938-1945’
4. Der „Ort der Information“
4.1. Die konzeptionelle Grundidee
4.2. Die Einbindung in den Mahnmal-Entwurf des Architekten Peter Eisenman
5. Die Räume des „Ortes der Information“
5.1. Der Grundriss
5.2. Allgemeine Informationen
5.3. Strukturelle und organisatorische Gesamtübersicht
5.4. Die Foyers
5.5. Der „Raum der Stille“ (Raum 1)
5.6. Der „Raum der Schicksale“ (Raum 2)
5.7. Der „Raum der Namen“ (Raum 3)
5.8. Der „Raum der Orte“ (Raum 4)
6. Didaktischer Kommentar
7. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Chronologie der Planung und Realisierung des„Mahnmals für die ermordeten Juden Europas“
1989
Die Publizistin Lea Rosh und der Historiker Eberhard Jäckel veröffentlichen den ersten Aufruf der Bürgerinitiative "Perspektive Berlin" für die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden.
1990
Der aus der Bürgerinitiative hervorgegangene "Förderkreis" schlägt einen Standort in den ehemaligen Ministergärten vor.
1992
Die CDU/CSU-FDP-geführte Bundesregierung erklärt sich bereit, einen Teil der Ministergärten zur Verfügung zu stellen.
1995
528 Arbeiten nehmen am Wettbewerb für das Denkmal teil. Zwei erste Preise gehen an Simon Ungers und an Christine Jackob-Marks, Hella Rolfes, Hans Scheib und Reinhard Stangl. Deren Entwurf zu realisieren, wie die Auslober empfehlen, scheitert am Widerstand von Bundeskanzler Helmut Kohl.
1997
Nach einem dreistufigem Colloquium werden die Ministergärten als Ort bestätigt und 25 Architekten und Bildhauer zu einem neuen Wettbewerb eingeladen. Im November empfiehlt die Findungskommission die Entwürfe von Peter Eisenman/Richard Serra und Gesine Weinmiller. Die Auslober ergänzen dies durch die Vorschläge von Jochen Gerz und Daniel Libeskind.
1998
Auf Anregung von Bundeskanzler Kohl wird der Entwurf von Eisenman/Serra überarbeitet. Serra zieht sich zurück. Die neugewählte Bundesregierung aus SPD und Grünen vereinbart im Herbst, die Entscheidung über das Denkmal vom Bundestag fällen zu lassen.
1999
Nach mehreren Anhörungen beschließt der Bundestag am 25. Juni, Eisenmans Entwurf, erweitert um einen "Ort der Information" über die Opfer und die Stätten des Gedenkens, in den Ministergärten zu errichten.
2000
Am 27. Januar wird symbolisch mit dem Bau begonnen. Gründung der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas". Im November bewillig der Bundestag 27,6 Millionen Euro für Bauten und Erstausstattung.
2001
Die Ausstellungsmacherin Dagmar von Wilcken erhält den Auftrag für das Gestaltungskonzepts.
2003
Baubeginn. Im Herbst führt die Verwendung von Produkten der Firma Degussa zu einer Diskussion über deren Rolle im Dritten Reich. Das Kuratorium entscheidet, den Bau mit Degussa-Produkten fortzuführen.
2004
Im Dezember steht die letzte der 2711 Stelen.
2005
Anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung vom NS-Regime ist „...am 10. Mai die feierliche Eröffnung. Zwei Tage später werden das Denkmal und der "Ort der Information" der Öffentlichkeit übergeben.[1]
2. Die Entscheidung für einen „Ort der Information“
Michael Naumann, Kulturbeauftragter der Bundesregierung ergänzt im Januar den sog. „Eisenman I“-Entwurf, durch ein großes, an der Nordseite des Stelenfeldes platziertes „Haus der Erinnerung“. „Für das mit 13000 m2 und sieben Geschossen sehr voluminöse „Haus der Erinnerung“ schlug er ein Museum, eine Bibliothek, eine Forschungsabteilung und so illustre Nutzer wie das Leo-Baeck-Institut, die Shoah-Foundation oder das Genocide-Watch-Institut vor.“[2] Das Stelenfeld selbst soll um mehrere hundert Stelen verkleinert werden.
Dagegen beschließt der Bundestag am 25.06.1999 die Realisierung des sogenannten „Eisenman II“-Entwurfs. Gleichzeitig legte der Beschluss fest, das Mahnmal um einen „Ort der Information“ zu ergänzen. „Die Idee eines die kognitiven Fähigkeiten ansprechenden, über Anlass und Widmung aufklärenden Zusatzelements“ findet breite Unterstützung.[3]
„Eine Historikerarbeitsgruppe bestehend aus Eberhard Jäckel, Andreas Nachama, Reinhard Rürup und der Stiftungsgeschäftsführerin Sibylle Quack hatte dem Kuratorium der Stiftung im Juli 2000 ein Grundkonzept für den „Ort der Information“ vorgelegt.
Die Ausstellung im „Ort der Information“ soll demzufolge drei Aufgaben erfüllen:
- sie soll das künstlerisch gestaltete Denkmal durch historische Inhalte ergänzen,
- eine „Personalisierung und Individualisierung“ der Thematik leisten,
- sowie auf sonstige Institutionen des Gedenkens verweisen.
Angeregt wurden ein Foyer und vier weitere Bereiche:
- ein „Raum der Stille“ mit knappen Basisinformationen zur Ermordung der Juden,
- ein „Raum der Schicksale“ mit „ausgewählten Familiengeschichten
oder Biographien“,
- ein „Raum der Namen“ mit einer Datenbank aller ermittelbaren Opfer und
- ein „Raum der Orte“ mit näheren Angaben zur europäischen Dimension
der Verbrechen.
Das Kuratorium stimmte diesem Ansatz zu und beschließt gleichzeitig, aus architektonischen und Platzgründen (Anm.d.V.), den „Ort der Information“ unterirdisch zu realisieren (an der südöstlichen Ecke des Stelenfeldes).“[4]
3. Die Ausstellungsdesignerin Dagmar von Wilcken
3.1. Tabellarische Kurzbiografie
- Dagmar von Wilcken, geb. 1958:
- Studium des Objektdesigns und der visuellen Kommunikation
- 1987 Diplom an der Hochschule der Künste in Berlin
- freiberufliche Ausstellungsgestalterin
- Ausstellungsgestaltungen für das Bauhaus-Archiv in Berlin
- 1995-2004: „Spuren des Unrechts“: Gestaltung der Dauerausstellung des DIZ
(Dokumentations- und Informationszentrums) in Torgau
- Ausstellungsgestalterin für die Stiftung Neue Synagoge - Centrum Judaicum Berlin
2001-2005 gestalterisches Gesamtkonzept des Ortes der Information zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas[5]
3.2. Dagmar von Wilckens „Referenzprojekt“ ‚Juden in Berlin 1938-1945’
Zum 55. Jahrestag der Befreiung eröffnete die Stiftung »Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum« am 8. Mai 2000 eine Sonderausstellung über Politik und Praxis des Judenmords im Zeitraum 1938 bis 1945.
Berlin steht im Mittelpunkt dieser sehr persönlichen und vor allem durch ihre Details wirkenden Präsentation. Aus der Perspektive von Juden selbst erlebt der Besucher am authentischen Ort des Geschehens das Grauen der Jahre von 1938 bis zum Mai 1945.
„Das heißt, dass in der Ausstellung individuelle Schicksale vorgestellt werden, dass nur solche Geschichten erzählt und durch Exponate veranschaulicht werden, die in irgendeiner Form persönlich überliefert sind.“[6]
Die intensive Wirkung der Ausstellung auf den Betrachter entsteht hier nicht aus den Zahlen oder Begleittexten. „Sie entsteht aus den kleinen Originalen: aus Schulheften, Einkaufsscheinen, Zeugnissen aller Art, den 6 x 6-Fotos mit gezacktem Rand, den Pässen und amtlichen Dokumenten, den Poesiealben der Kinder, Lebensmittelkarten, Einkaufsscheine, Hörerkarten von Schulen, den Arbeitsbüchern, handgeschriebenen Lebensläufen, Gestapo- Akten.“[7]
Wie die verschiedenen Räume in der späteren Gestaltung des „Ortes der Information“ entwirft Dagmar von Wilcken in dieser Ausstellung verschiedene sog. Stationen.
Auch hier wird man nicht „genötigt, dem Ablauf der Stationen zu folgen. Das »Seiteneinsteigen« nach Raumgefühl bringt keine Nachteile, ist sogar hilfreich bei der Fülle der Exponate und Assoziationen. Jederzeit ist es möglich, mittels der handlichen und bedienerfreundlichen Elektronik relevante Hörtexte und Begleitinformationen abzurufen.“[8]
Von den Kritikern wird als überaus positiv gewürdigt, dass die aufbauende Wirkung der Stationen zur sukzessiven Personalisierung des Geschehens unmittelbar beiträgt.
Station 1
Das Jahr 1938 - das Jahr der »Juni-Aktion«, das Jahr der »Polen-Aktion« und das Jahr des November-Pogroms.
Station 2
Rechtzeitige Emigration
Station 3
Schicksal der jüdische Fabrikantenfamilie Garbàty
Station 4/5
Die systematischen Maßnahmen zur Entrechtung, Ausplünderung und Kennzeichnung der Berliner Juden
Station 6
Das Wirken der zionistischen Organisationen und Einrichtungen in Berlin am Beispiel der Familie Levin aus Berlin
Station 7
Zwangsarbeit und geschlossener Arbeitseinsatz
Station 8
Der Massenprotest von Berliner Frauen in der Rosenstraße im März 1943
Station 9
Schicksale der Deportierten
Station 10
Die jüdischen »Greifer«
Station 11
Das versteckte Überleben
4. Der „Ort der Information“
4.1. Die konzeptionelle Grundidee
Im März 2001 billigte das Stiftungskuratorium einen Gestaltungsentwurf von Wilkens.
„Erwarten Sie kein Holocaust-Museum! Wir haben keine Originale, wir stellen nichts aus, sondern stellen nur dar, um mit Bildern und Texten das Mahnmal zu ergänzen.“[9]
„Das Mahnmal sei eben kein authentischer Ort, nicht vergleichbar mit einer Gedenkstätte auf dem Gelände eines früheren Konzentrationslagers. Weder von Opfern noch von Tätern wurden deshalb Gegenstände zusammengetragen. Stattdessen setzen die Macher auf die Wirkung von Bild, Schrift, Sprache, Licht und Raum.“[10]
Drei miteinander zu verbindende Bereiche bilden das Grundgerüst zur Konzeptionalisierung des „Ortes der Information“:
Architektur und Kunstgeschichte
Geschichte und historische Konzeption
Rezeption und Vermittlung
Dagmar von Wilcken hofft, dass dieser Ort "bei den Menschen etwas in Bewegung setzt und sie ihn anders verlassen, als sie gekommen sind.“[11]
Um eine „Konkurrenz“ zu vorhandenen Gedenkstätten zu vermeiden stellen Wolfgang Thierse als Kuratoriumsvorsitzender und Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin klar, dass der „Ort der Information“ als „Portal“ dient. Im sog. „Drehbuchentwurf“ zur Grundkonzeption der Stiftungsgeschäftsstelle wird die „konsequente inhaltliche Fokussierung auf die Perspektive der Opfer“ festgelegt, aber auch vorgeschlagen, „Täter und Zuschauer im Hintergrund einzubeziehen“.[12]
Zum Konzeptbereich ‚Architektur und Kunstgeschichte’ wird verdeutlicht, dass der „Ort der Information“ „als neutraler Hintergrund für die Sprache der Dokumente“ dienen soll. Eine ‘reine’ Dokumentation ohne jeden Inszenierungscharakter kann und wird es allerdings nicht geben. Zu empfehlen sei eine möglichst zurückhaltende Art der Gestaltung. Eine „Gefühlsüberwältigung“ und die „Nähe zu sakraler Architektur“ werden abgelehnt.[13]
Zum Konzeptbereich‚ ‚Geschichte und historische Konzeption’ werden drei „Kernelemente vorgeschlagen:
Darstellung der ermordeten Juden selbst, d.h. ihres Lebens vor dem Zweiten
Weltkrieg, ihres Leidens und Sterbens während der Kriegsjahre sowie – im Fall des
Überlebens – ihres Umgangs mit der Erinnerung
Veranschaulichung der europäischen Dimension des Judenmords
Einbeziehung der nationalsozialistischen Politik und der deutschen
Tätergesellschaft
Durch den dritten Aspekt sei es möglich, die Verfolgung und Ermordung nichtjüdischer Gruppen ebenfalls in den Blick zu bringen.“[14]
Der Historiker Eberhard Jäckel stimmt als Kommentator weitgehend zu, will die Präsentation der Opfernamen im Sinne einer symbolischen, virtuellen Grabinschrift aber aufgewertet sehen. Dieser Gedanke wird vom von Jäckel mitbegründete Förderkreis seit den Anfängen des Projekts verfolgt, immer mit dem Hinweis auf Yad Vashem als Vorbild.
Das Kuratorium entscheidet, die Namenssammlung in den „Ort der Information“ aufzunehmen; sie soll jedoch nicht sein alleiniges Zentrum bilden.
Im Konzeptbereich ‚Rezeption und Vermittlung’ wird der Stellenwert des „Orts der Information“ für die deutsche Erinnerungslandschaft beschrieben. Die Autoren würdigen die dezentrale Erinnerungskultur und hoffen, dass das Denkmal für die ermordeten Juden Europas die Gedenkstätten an den historischen Orten eher stärken als schwächen wird. Der „Ort der Information“ soll zu keiner „Theologisierung des Holocaust“ führen, sondern als „Denkstätte“ wirken, als „Ort der Artikulation und Präzisierung von Fragen“. Die Besucher und ihre mitgebrachten „Imaginationen“ seien ernst zu nehmen.
„So lückenhaft das Wissen um den Holocaust bei großen Teilen der potentiellen Besucher sein mag, so sicher kann davon ausgegangen werden, dass die Besucher schon eine Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Holocaust mitbringen.“ Deshalb sei es sinnvoll, im Sinne einer „flexibilisierten Formen der Informationsvermittlung“ einen der vier Räume für Wechselausstellungen zu nutzen, „um auf veränderte Orientierungsbedürfnisse der Besucher reagieren zu können“.[15] Im Kuratorium rechnet man damit, dass jährlich von
300000 bis zu einer Million Besucher kommen.
[...]
[1] N.N., 16 Jahre Planung, in: Die Welt v. 10.05.2005
[2] Schlusche, Günter, Ein Denkmal wird gebaut, in: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Materialien zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, 2005, S. 24
[3] ebd., S. 24
[4] Kirsch, Jan-Holger, Auf dem Weg zur Realisierung. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Ort der Information. Architektur und historisches Konzept, in: Quack, Sibylle, Das Denkmal für die ermordeten Juden, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 2002, S. 249 ff
[5] aus: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Hrsg.), Materialien zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, 2005, S. 176
[6] Thieme, Bernhard, Sie hatten alle einen Namen, Ausstellung »Juden in Berlin 1938-1945«, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2000
[7] ebd.
[8] ebd.
[9] Dagmar von Wilken, in: Peter von Becker , Im Labyrinth der rechten Winkel, Der Tagesspiegel (06.05.2005 )
[10] Berg, Stefan/Emcke, Carolin, Sinn aus der Tiefe, DER SPIEGEL 18/2005, 02.Mai2005
[11] Müller, Volker, An den Wurzeln der Eisenmanschen Stelen, Berliner Zeitung vom 31.03.2001
[12] Kirsch, Jan-Holger, Architektur und historisches Konzept, in: Quack, Sibylle (Hrsg.): Auf dem Weg zur Realisierung. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Ort der Information. Stuttgart 2002.
[13] Winfried Nerdinger, Architektur und Kunstgeschichte, in: Quack, Sibylle (Hrsg.): Auf dem Weg zur Realisierung. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Ort der Information,
Stuttgart 2002, S. 67
[14] Ulrich Herbert, Geschichte und historische Konzeption, in: Quack, Sibylle (Hrsg.): Auf dem Weg zur Realisierung. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Ort der Information,
Stuttgart 2002, S. 78ff
[15] Peter Steinbach / Reinhard Rürup, Rezeption und Vermittlung, in: Quack, Sibylle (Hrsg.): Auf dem Weg zur Realisierung. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Ort der Information, Stuttgart 2002, S. 122ff
- Citation du texte
- Frieda Fredeweß Hagemann (Auteur), 2006, "Tropfsteinhöhle der Erinnerung", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111760
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