Inhaltsverzeichnis
1 Allgemeines
1.1 Phasen der Studentenbewegung
2 Dokumente zum 2. Juni
2.1 Die Befreiung der Sprache und ihre Ausdrucksformen
2.2 Exemplarische Reden und Stellungnahmen der Studentenseite
2.2.1 Rede von Dr. Rolf Tiedemann vor Berliner Studenten
2.2.2 Rede von Wolfgang Kotzold (Sozialdemokratischer Hochschulbund - SHB) am 6. Juni
2.2.3 Flugblatt des Allgemeinen Studentenausschusses - AStA - der FU vom 5. Juni
2.3 Exemplarische Reden und Stellungnahmen der offiziellen Seite
2.3.1 Stellungnahme und Erklärung von Heinrich Albertz
2.3.2 Erklärung des Geschäftsführenden Landesvorstandes der CDU Berlin am 3. Juni
3 Schlußbetrachtungen
4 Abschließende Begriffssammlung
5 Bibliographie
1 Allgemeines
1968 ist zu einer Chiffre geworden, die eine ganze Generation und Bewegung beschreibt. Oft mystifiziert und gerne diffamiert - im besten Falle analysiert - als eine Zeit des Umbruchs in einer noch sehr jungen und ungeübten Demokratie. So ist die Jahreszahl 1968 zum Symbol einer Zäsur innerhalb der Bundesrepublik Deutschland geworden, gesellschaftspolitisch wie sprachlich. Eng mit der Jahreszahl verknüpft ist die Bewegung, die heute meist Studentenbewegung, Studentenrevolte oder Studentenrebellion genannt wird. Diese Arbeit beschäftigt sich mit den „Dokumenten zu den Ereignissen des Schah-Besuchs”. Zentrales Thema ist, herauszufiltern, was die wichtigsten Themen, Begriffe und Ausdrücke sind und wie sie sich innerhalb der Texte je nach Redner manifestieren. Welches sind die Schlagwörter der Studentenbewegung und ihrer Zeit und wie werden sie kontextualisiert? Gibt es Neologismen oder Neudefinitionen von vorhandenen Begriffen? Was an der Sprache ist „typisch 68er”? Hierzu ist es zunächst wichtig, zu umreißen, in welcher Zeit die Dokumente veröffentlicht wurden.
1.1 Phasen der Studentenbewegung
Das Jahr 1968 wird oft als Hochzeit und gleichzeitiger Niedergang der Studentenbewegung bezeichnet. Dabei beginnt die eigentliche große aktive Phase, die ganz Westdeutschland ergreift, am 2.Juni 1967 mit der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorgs. Eine grobe Übereinstimmung im Aufzeigen von Phasen innerhalb der Bewegung findet sich bei Habermas / Rolke / Müller / Langgut[1]:
Die Vorphase der Studentenbewegung: Sommer 1965 - Juni 1967
Die Studentenbewegung beschränkt sich zunächst auf die Freie Universität Berlin. Die wichtigsten Themen und Reibungspunkte liegen innerhalb der Hochschule: der Protest richtet sich vor allem gegen alte, überholte und autoritäre Strukturen und auch gegen die nicht thematisierte Rolle der Hochschulen während des Nationalsozialismus. Hinzu kommen innenpolitische Themen, wie die Große Koalition, insbesondere in Bezug auf die
Notstandsgesetze und internationale Konflikte in Vietnam, Südafrika und Persien (Kritik am diktatorischen Schahregime).[2]
Die antiautoritäre Phase: Juni 1967 - 1968
Mit der Erschießung Benno Ohnesorgs auf einer Demonstration gegen den Schahbesuch greift der Protest auf ganz Westdeutschland über, vor allem bezogen „auf die Intensität des Engagements Studierender, der Präsenz des Themas Studentenproteste in den Medien und die Beschäftigung weiter Teile der westdeutschen Bevölkerung mit den studentischen Protesten und deren Inhalten.”[3] Eine Phase zahlreicher und vielfältiger Protestaktionen und -formen beginnt, welche alle Themen und Konflikte, die schon vorher da waren komprimiert und verschärft.
2 Dokumente zum 2. Juni
Der Tod Benno Ohnesorgs löste eine Welle der Empörung an allen Universitäten aus. Fast überall wurden sofort Trauerkundgebungen veranstaltet und Solidaritätsbekundungen verfaßt: „Für den Morgen danach hatte der Allgemeine Studentenausschuß der Freien Universität eine Protestversammlung einberufen. Sie galt dem Beschluß des Akademischen Senats, der dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) die Förderungswürdigkeit abgesprochen hatte. Angesichts der Ereignisse vom Vorabend war nun anderes wichtig geworden: die Sammlung von Augenzeugenberichten, eine Diskussion der Lage, Promulierung von Protesten gegen die Stadtregierung und Polizei.”[4] Die Materialsammlung „der 2. Juni 1967. Studenten zwischen Notstand und Demokratie. Dokumente zu den Ereignissen des Schah-Besuchs” umfaßt gesammelte Dokumente aus der Woche unmittelbar nach dem Tod Benno Ohnesorgs. Herausgeber sind Knut Ne- vermann und der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS). Ziel der Sammlung war es, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und die Ereignisse des 2. Juni zu rekonstruieren und dokumentieren, vor allem sollte aber auch der Umgang der Öffentlichkeit mit den Studenten demonstriert werden und gegen ein Klima der Repressionen und Diffamierungen zu protestieren. „Die hier abgedruckten Reden, Stellungnahmen und Erklärungen sind Dokumente des Protests gegen die inhaltliche Aushöhlung der Grundrechte in der Bundesrepublik und in Westberlin. Die Reden und Erklärungen zeigen, daß ein Eintreten für das Grundgesetz von 1949 wieder beginnt notwendig zu werden.”[5] Weiter heißt es im Vorwort zum Selbstverständnis der Studenten: „Die vorliegende Broschüre ist ein Dokument für den Prozeß einer wachsenden Bewußtseinsbildung und Entwicklung des politischen Problembewußtseins in der Studentenschaft, aber auch bei Assistenten, Dozenten und Professoren.”[6] Allein in diesem Auszug zeigen sich zentrale Begriffe und Anliegen der Studentenschaft: Grundrechte, Grundgesetz, Protest, Prozeß, Bewußtseinsbildung, Entwicklung des politischen Problembewußtseins.
Die Materialsammlung ist wie folgt unterteilt:
- Vorwort[7] von Hans Joachim Haubold, Vorsitzender des Verbands deutscher Studentenschaften. Das Vorwort liefert eine kurze Stellungnahme und Einschätzung der Ereignisse: „Der Tod unseres Kommilitonen Benno Ohnesorg ist ein politischer Tatbestand. Benno Ohnesorg ist das zufällige Opfer eines planmäßigen Versuchs zur Unterdrückung einer außerparlamentarischen Opposition.”[8] Sehr interessant ist hier die bewußte Gegenüberstellung zufälliges Opfer und planmäßiger Versuch.
- Einführung von Knut Nevermann, Vorsitzender des Ausschusses für politische Bildung des VDS. Die Einführung liefert sowohl eine inhaltliche, ideologische wie auch eine metasprachliche Zusammenfassung der Ereignisse und Dokumente.
Die Dokumente:
1. Berichte: Augenzeugenberichte und Zeugenaussagen zu den Schahbesuchen in Berlin, Hamburg, München und Bonn
2. Reden: verschiedene Redner von Studenten bis Professoren bei verschiedenen Trauerkundgebungen
3. Stellungnahmen: verschiedene Textsorten wie Presseerklärungen, Briefe, Resolutionen, Flugblätter sowie eine schriftlich fixierte Fernsehdiskussion
4. Anhang: Stellungnahmen, Erklärungen und Redeauszüge von offizieller Seite: Bürgermeister Heinrich Albertz, Gewerkschaft der Polizei, Politiker der CDU und SPD - am Ende finden sich noch Literaturhinweise und eine Legende, der in den Dokumenten vorkommenden Abkürzungen
2.1 Die Befreiung der Sprache und ihre Ausdrucksformen
Ein wichtiges Merkmal der Studentenbewegung war die Gesellschafts- und Sprachkritik. Ausgehend von der Sprachherrschaftsthese wurden vermeintlich allgemeingültige Begriffe in Frage gestellt, teilweise neu besetzt und semantisch umgedeutet. Man versuchte, sich und die Sprache selbst zu befreien. Es entstanden Neudefinitionen schon vorhandener Begriffe. „Neben der Beeinflussung des allgemeinen Wortschatzes durch diese Terminologie, die aus gesellschaftstheoretischen Zusammenhängen kommt, besteht der Einfluß der Kritischen Theorie in der grundsätzlichen Kritik der herrschenden Sprache als Herrschaftssprache.”[9] Was an der Sprache ist „typisch achtundsechzig”? Es „sind hauptsächlich drei verschiedene Varietäten, die schon von den Zeitgenossen als „typisch Achtundsechziger” angesehen wurden: der Politjargon, die Spontisprache und die dirty speech.”[10] In den Materialien zum 2. Juni findet sich von diesen dreien nur der Politjargon. Weder dirty speech, noch Spontisprache sind hier zu finden, was vor allem auf die verwendeten Textformen wie Reden und Stellungnahmen zurückzuführen ist. Weitere sprachliche Merkmale sind wortbildnerische Aspekte, Neudefinitionen, Präsuppositionen, Appellfunktionen, Intertextualität und eine stark ideologisierte Sprache. Typische Ausdrucks- und Protestformen der Studentenbewegung waren die Rede, Flugblätter (Flugis), sit-ins, teach- ins, go-ins...(Lehnwörter aus dem Englischen, Übernahme der Begriffe und Formen der Stundentenbewegung und Anti-Vietnamkrieg-Bewegung der USA), AgitProp, Demonstrationen und Happenings.
2.2 Exemplarische Reden und Stellungnahmen der Studentenseite
Wie bereits oben erwähnt war eine beliebte Ausdrucksform der 68er die Rede, aufgrund ihres persuasorischen und appellativen Charakters. Diese zeigt sich jedoch als ambivalente Textform bei der Untersuchung der Sprache der Studentenbewegung, denn, obwohl mündlich geäußert, ist sie schriftlich vorformuliert. Es handelt sich somit um konzeptionelle Mündlichkeit. Dies läßt wenig Rückschlüsse zu, wie sich die Studenten frei untereinander unterhalten haben, zeigt jedoch zentrale Wortfelder, Forderungen und Schlagwörter, die innerhalb der Bewegung kursierten und zum Vokabular gehörten.
2.2.1 Rede von Dr. Rolf Tiedemann vor Berliner Studenten
Die Rede von Dr. Rolf Tiedemann ist eine Zusammenfassung mehrerer Reden. Sie folgt den typischen Merkmalen einer klassischen Rede, mit immer wiederkehrenden Fragen, Thesen, Erläuterungen und Gegenüberstellungen, also einem argumentativen Aufbau. Sprecher und Adressat sind am Anfang der Rede durch die Ereignisse noch identisch, d.h. er spricht von wir und uns. Erst in seiner Analyse der sprachlichen Rezeption der Ereignisse in der Presse und von offizieller Seite, spricht er von ,,[...] ihre[r] Behandlung in der Presse und in den Verlautbarungen der der politischen Instanzen Berlins[...].” Mit ihre meint er die Studenten. Er bezieht sich auf jüngste Äußerungen in Zeitungen und offizielle Stellungnahmen:
„Wir kennen sie aus der Ideologie des autoritären Charakters. Es sind das immer wieder analysierte Stereotype des faschistoiden Denkens. Die Soziologen und Publizistikwissenschaftler unter Ihnen kennen genügend Inhaltsanalysen von rechtsradikalen Zeitungen und Propagandatexten; Sie finden da eine ganze Reihe von Kategoriensystemen, die Sie ohne große Modifikationen auf all diese Äußerungen vor allem der letzten zwei Tage anwenden können. Was sich da mittlerweile uns zu nähern scheint, tut das oft nur, indem es, wenn nicht inhaltlich, so doch formal Kategorien faschistischen Denkens erfüllt.”[11]
Schon in dieser kurzen Passage finden sich Begriffe zentraler Diskurse jener Zeit: die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dessen Sprache und die Forderung nach Aufarbeitung der Vergangenheit. So finden sich aus diesem Bereich immer wieder Begriffe wie faschistoid, faschistisch, rechtsradikal, Faschisierungstendenzen. Ein weiteres großes Anliegen der Studentenbewegung ist die Enthierarchierung der Gesellschaft. Zentraler Begriff ist hier: antiautoritär. Demgegenüber steht, wie oben bezeichnet, die Ideologie des autoritären Charakters. Dies gibt einen Hinweis auf die ideologischen Qellen der Studentenbewegung. Hier bezieht sich Tiedemann auf die „Studie zum autoritären Charakter”, die von Horkheimer und Adorno im Exil ausgearbeitet wurde.[12] Durch die Verwendung dieser Begriffe gibt er einen Hinweis auf die Fachrichtungen, aus denen die Studentenbewegung ihr Vokabular und ihre Ideen speist: die Soziologie, hier vor allem die Frankfurter Schule mit ihrer Kritischen Theorie. Die Kritische Theorie wiederum basiert auf den Theorien von Karl Marx und Sigmund Freud, d.h. die Fachsprache bzw. gewisse Begriffe werden aus der Psychologie übernommen. Die Ideen der Bewegung beziehen sich „auf den Freudo-Marxismus, der sich vor allem auf die Schriften von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse stützte”.[13] In der folgenden Tabelle sollen die wichtigsten Wortfelder mit ihren jeweils zentralen Begriffen aufgezeigt werden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese Gegenüberstellung zeigt die tiefe Kluft zwischen der Studentenbewegung und der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit reagiert vorwiegend mit Euphemismen und vermeidet das Wort Tod.
Prof. Dr. Tiedemann übernimmt in seiner Rede viele für die Studentenbewegung typische wortbildnerische Aspekte. Hier werden vor allem wissenschaftssprachliche und umgangssprachliche Begriffe gemischt. Die Zusammensetzung zweier Adjektive ist dabei auch ein Phänomen der Sprachökonomie.
das radikal- oder realdemokratische Konzept allgemein-politisches Mandat real-demokratisch real-autonom
Einerseits werden Begriffe kategoriesiert, andererseits werten sie und sind als Präsuppositionen zu betrachten. So steht z. B. das real-demokratische Konzept dem formal-demokratischen System Bundesrepublik gegenüber. Doch oft wurden sowohl von der Bewegung als auch von den Institutionen die gleichen Wörter benutzt - jedoch unter verschiedenen Vorzeichen: Demokratisierung ist eines der Wörter, die für Verwirrung unter Politikern und Offiziellen gesorgt haben, denn: Lebten nicht schon alle in der Staatsform der Demokratie? Erst durch die Differenzierung durch die zusammengesetzten Begriffe real-demokratisch vs. formal-demokratisch wird die Bewertung der Studentenbewegung deutlich: die BRD ist für die Bewegung nur offiziell eine Demokratie, die aber nicht real umgesetzt wird und somit einer Demokratisierung bedarf. So erfahren Wörter aufgrund der Gesellschafts- und Sprachkritik der Studentenbewegung eine Neudefinition und werden semantisch aufgeladen. Dies geschieht auch mit dem Wort autoritär. Das System wird nicht nur als formal-demokratisch, sondern auch als autoritär bezeichnet oder zumindest als ein System mit autoritären Strukturen, d.h. ,,[...] 1. (abwertend) a) totalitär, diktatorisch b) unbedingten Gehorsam fordernd; Ggs. antiautoritär. 2. (veraltend) a) auf Autorität beruhend b) mit Autorität herrschendf...]”[14] Die Bewegung verwendet das Wort im abwertenden, negativen Sinn. Das Wort autoritär wird vor allem auf die staatlichen Institutionen und die Erziehung bezogen. Da die Enthierarchisierung eines der Ideale der Bewegung ist, fordert sie z. B. in der Pädagogik eine antiautoritäre Erziehung oder eine selbstregu lative (äußerst basisdemokratische) Erziehung wie sie etwa in Summerhill damals wie heute praktiziert wird.
2.2.2 Rede von Wolfgang Kotzold (Sozialdemokratischer Hochschulbund - SHB) am 6. Juni
Auch in der Rede von Wolfgang Kotzold vom Sozialdemokratischen Hochschulbund finden sich wieder Begriffe und Einschätzungen zum Selbstverständnis der Studenten. Die Einleitung beginnt mit einer Bewertung und einer Analyse der Ereignisse des 2. Juni:
„Der Sozialdemokratische Hochschulbund der Universität Heidelberg sieht den Mord an dem Berliner Studenten nicht als Tat überlasteter oder in Notwehr geratener Polizeibeamten an. Vielmehr ist darin ein vorläufiger Höhepunkt jener Entwicklung zu sehen, die nicht nur für Berlin, sondern für die ganze Bundesrepublik symptomatisch ist.”[15]
Sprecher ist hier der Sozialdemokratische Hochschulbund. Adressaten sind die Studenten, insbesondere aber auch die SPD. Gefordert wird der Rücktritt von Bürgermeister Albertz, des Polizeipräsidenten Duensing und des Innensenators Büsch. An die Studenten wird appelliert, sich „in anderen politischen Studentenorganisationen” für „den demokratischen Sozialismus”[16] einzusetzen. Auf der metasprachlichen Ebene ist hier sehr deutlich ein Vokabular aus der Nazi-Zeit zu erkennen: die von Teilen der Öffentlichkeit verwendeten Wörter „parasitäre Untermenschen” und „zersetzende Elemente” sind eindeutig Nazi-Jargon. Es ist daher nicht verwunderlich, daß daraus Rückschlüsse auf die Gesinnung der Bevölkerung gezogen wurden, die dann von Studentenseite als faschistoid und faschistisch bezeichnet wurde. Klare Dichotomien stellen in dieser Rede erneut die Bezeichnungen des Todes von Benno Ohnesorg dar. Während die Studentenseite von Mord spricht, das heißt dem Staat und der Exekutive eine klare Absicht unterstellt, spricht die offizielle Seite von einer „Tat überlasteter oder in Notwehr geratener Polizeibeamten”. Beide Bezeichnungen kommen aus dem Bereich der Rechtssprechung - auf der einen Seite steht das Kapitalverbrechen, auf der anderen Seite die „Tat” als allgemeiner Begriff und die „Notwehr”, die sogar den Tod legitimiert. Diese Umkehr des Täter-OpferVerhältnisses findet sich in offiziellen Stellungnahmen von Presse und Politikern jener Zeit des öfteren (siehe auch Kap. 2. 3. 2.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.2.3 Flugblatt des Allgemeinen Studentenausschusses - AStA - der FU vom 5. Juni
In diesem Flugblatt richtet sich der AStA direkt an die Öffentlichkeit - an die „Anderen”. Adressat sind die Berliner Arbeiter: „An die Berliner Arbeiter! Man will Sie verschaukeln!”[17] Sprachlich typisch für die Textform Flugblatt sind kurze und knappe Informationen, Aufrufe und Appelle. In dem Satz „Man will Sie verschaukeln!”[18] steckt eine Warnung an die Arbeiter, die im Laufe des Flugblattes erläutert und mit anderen Worten wiederholt wird - nicht nur durch klare Warnungen, sondern auch durch rhetorische Fragen wie: „Was blüht Ihnen, wenn [...]?”[19] Das Flugblatt wechselt zwischen Information und Agitation. „Der erschossene Benno Oh- nesorg war das erste Opfer!”[20] impliziert, daß das nächste Opfer aus der Arbeiterschaft kommen könnte. Diese Warnungen werden verbunden mit Appellen: „Geben Sie der Polzei eine deutliche Warnung,[...].’’„Denken Sie immer daran, daß der Schah bereits dreihundert Millionen Entwicklungshilfe erhalten hat, die auch Sie mit erwirtschaftet haben.”[21]
2.3 Exemplarische Reden und Stellungnahmen der offiziellen Seite
Als letztes sind die Stellungnahmen der bürgerlichen Parteien zu betrachten. Auffällig ist die parteiübergreifende Einigkeit der Bewertung der Ereignisse und die gemeinsamen Befürchtungen. Bereits in den bisher vorgestellten Auszügen wurden die prägnantesten Äußerungen der offiziellen Seite auf metasprachlicher Ebene oder in Zitaten ausgedrückt:
Bezeichnungen für den Tod Benno Ohnesorgs (Presse, (Öffentlichkeit:
Fall von Notwehr (S.19), bedauerlicher Zwischenfall (S.40), Mißgriff im Rahmen notwendiger staatlicher Ordnungsmaßnahmen (S.40), bedauerlicher Unglücksfall (S. 46)
Bezeichnung für die Studenten/Demonstranten:
Mob, Krawall-Radikale, FU-Chinesen, demonstrierende Minderheit, linksradikale Demonstranten, studentische Extremisten (S. Ί), lebensgefährliche Minderheit, Terroristen, Rudel, radikale Elemente, Randalierer, Radikale (S.9), Gammler (S.19), Störer (S. 20), die dreckigen Studentinnen (S.21), Schlampen, Radaumacher, kleine radikale Clique (S. 22), Rowdies, wirrköpfige Radaumacher, Kriminelle (S.32)
Bezeichnung für die Protestaktionen/Demonstrationen:
Straßenterror, Krawall, Unruhe, Prügelei, Terror (S.7), unerfreuliche Umtriebe radikaler Elemente, Terror radikaler Minderheitsgruppen, Verhaltensweisen einer Minderheit Wirrköpfiger (S. 9)
2.3.1 Stellungnahme und Erklärung von Heinrich Albertz
Auch die Politiker reagieren schnell mit Erklärungen. Der SPD - Bürgermeister Heinrich Albertz reagiert schon in der Nacht vom 2. auf den 3. Juni, und am 3. Juni wendet er sich über den Sender Freies Berlin an die Bevölkerung. „Die Geduld der Stadt ist am Ende.”22 beginnt er seine Stellungnahme. Dies präsupponiert, daß die Stadt vorher Geduld hatte und die Studenten sie ausgenutzt und überspannt haben. Die Demonstrationen gegen den Schah beschreibt er wie folgt: „Einige Demonstranten, [...], haben sich das traurige Verdienst erworben, nicht nur einen Gast der Bundesrepublik Deutschland in der deutschen Hauptstadt beschimpft und beleidigt zu haben, sondern auf ihr Konto gehen auch ein Toter und zahlreiche Verletzte - Polizeibeamte und Demonstranten.” 23 Die Umkehrung des Täter-OpferVerhältnisses findet sich in vielen Stellungnahmen von Politikern und der Presse. Aus den Heden des Bürgermeisters ergeben sich folgende Dichotomien zwischen den Zuschreibungen für die „Taten” der Studenten und die Maßnahmen, die darauf folgen sollen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.3.2 Erklärung des Geschäftsführenden Landesvorstandes der CDU Berlin am 3. Juni
Besonders auffällig in dieser Erklärung sowie den Reden von Albertz ist die Kriminalisierung der Studenten bzw. Demonstranten, vor allem durch Häufung von Begriffen aus den Wortfeldern Judikative und Legislative. Des weiteren bedient sich auch diese Seite einer ideologisierten Sprache - dies trifft zumindest auf den CDU-Politiker zu. Feindbilder sind hier: Kommunismus und Radikalität.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie bereits angemerkt, findet man das Phänomen der Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses sowohl in den Stellungnahmen der bürgerlichen Parteien als auch in der Presse. Die Bestürzung der Demonstranten über diese Stellungnahmen werden in der Einführung der Materialsammlung thematisiert: „Man will es nicht glauben. Augenzeugen stehen fassungslos herum, einige weinen. Aber dpa bestätigt die Meldung. Die Opfer sind schuldig.”[22] Knut Nevermann bezieht sich vor allem auf die schon oben erwähnten Äußerungen von Bürgermeister Albertz:
,,[...] auf ihr Konto gehen auch ein Toter und zahlreiche Verletzte - Polizeibeamte und Demonstranten.”[23] - Heinrich Albertz SPD
Aber auch andere Politker und Zeitungen unterstützen diese Haltung:
„Benno Ohnesorg ist nicht Märtyrer der FU-Chinesen, sondern ihr Opfer.” (Morgenpost, 4.6.)[24]
„Und ich bleibe dabei, diese Zwischenfälle gehen auf deren Konto. Sie haben die Auseinandersetzung verursacht, der ein Student zum Opfer gefallen ist.”[25] - Heinrich Albertz SPD
„Die Verantwortung für die Krawalle bei denen auch eine Reihe von Polizisten durch Messerstiche verletzt worden ist, tragen die Kreise, die jede Gelegenheit benutzen, um angeblich ihr verfassungsmäßiges Recht zu Demonstrationen wahrzunehmen, [...].”[26] - CDU
„Der tote Student ist das hoffentlich letzte Opfer einer Entwicklung, die von einer extremistischen Minderheit ausgelöst worden ist, [...]”[27] - Heinrich Albertz SPD
,,[...] so sehr sollte dieser Tod aber auch eine Mahnung eigentlich an die sein, die die Ursachen zu einer solchen Auseinandersetzung gelegt haben.”[28] - Herbert Theis SPD
Faschismusvergleiche - Faschismusvorwurf Spätestens seit den sechziger Jahren hatten gegenseitige Faschismusvorwürfe Konjunktur. Der Studentenbewegung wird Faschismus nicht im eigentlichen Sinne vorgeworfen, vielmehr werden ihr ähnliche Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele vorgeworfen. Vorwiegend wird das Schlagwort Linksfaschismus verwendet, von bürgerlicher Seite wie auch aus den eigenen Reihen. „Es gehört nicht mit zur geistigen Auseinandersetzung, wenn man mit Hilfe von Wurfgeschossen seine politische Meinung anderen Menschen sozusagen aufdrängen will. Diese Form haben wir schon einmal erlebt. Alle unter uns, die die Zeit vor 1933 miterlebt haben, wissen wie so etwas anfängt und wo so etwas enden kann.”[29]
„Genauso wie Hitler seine Theorien und Praktiken in „Mein Kampf” umschrieben hat, haben es diese Studenten seit langem geschrieben,[...].”[30]
Das Feinbild der bürgerlichen Parteien ist hier wieder: Kommunismus (oft gleichgesetzt mit Stalinismus) und auch Anarchismus[31] (siehe Bezugnahme auf „Herrn Agnoli”)[32]
3 Schlußbetrachtungen
Abschließend ist zu sagen, daß die Merkmale dieser Materialien eine stark politisierte und ideologisierte Sprache zeigen. Aufgrund der Tendenz zum Fachjargon, also der Verwendung einer Sprache mit wissenschaftlichen Duktus, entsteht ein neues sprachliches Phänomen, eine Ingroup-Sprache, die niemand versteht, der sich nicht mit Soziologie, Politik, Psychologie, Philosophie und Gesellschaftskritik auseinandergesetzt hat. Dies wird sicherlich bewußt inszeniert, auch um sich abzugrenzen und eine Gegen Öffentlichkeit zu schaffen, und um sich sprachlich selbst zu positionieren. Die politische Haltung ist links und der gemeinschaftliche Kanon bezieht sich auf Schriften von Marx, Engels, Horkheimer, Adorno, Marcuse, Rosa Luxemburg, um nur ein paar zu nennen. Auffällig ist hier die Sensibilisierung für autoritäre Strukturen, Benachteiligungen und Unterdrückung Einzelner, Minderheiten und Länder (in Bezug auf die Ausbeuteung der Dritten Welt oder Entstehung von totalitären Systemen, wie zu jener Zeit in Griechenland Zeit). Die hier dokumentierte Studentenschaft ist politisch informiert und interessiert und setzt dieses Interesse mit ihren Forderungen sprachlich um. Der Polit- und Psycho-Jargon hält Einzug in die deutsche Standardsprache, wodurch Begriffe wie Emanzipation oder Demokratie nicht mehr als Fremdwörter aus Politik und Philosophie verwendet werden, sondern sich zu Schlagwörtern einer angestrebten Veränderung und Entwicklung innerhalb der Gesellschaft entwickelten.
4 Abschließende Begriffssammlung
Diese Begriffssammlung greift nur die häufigsten und wichtigsten Begriffe der Studentenschaft aus den Materialien heraus:
A
antiautoritär
Ausnahmezustand
außerparlamentarische Opposition
Autonomie
autoritär
B
Bewegung
Bewußtsein
Bewußtwerdungsprozeß
D
Demokratie
Demokratisierung
demokratisch
demokratischer Sozialismus
Demonstration
Demonstrationsfreiheit
Demonstrationsverbot
Diskussion
E
Erschießung
F
Faschismus
Faschisierung
Faschisierungstendenzen
faschistoid
faschistisch
formal-demokratisch
Freiheit
G
Grundrechte
Grundgesetz
H
Hetze
K
Kommune
Kritik
kritisch
M
Massaker
Meinungsäußerung
Mißhandlung
Mord
Minderheit [enj agd]
N
Notstand
Notstandsgesetze
O
Obrigkeit
Opposition
P
Pogrom
Pogromstimmung
politisch
Problembewußtsein
Protest
Prozeß
R
radikal
radikal-demokratisch
Rationalität
rational
real-autonom
real-demokratisch
S
Selbstbesinnung
Selbstbestimmung
Selbstverwaltung
sozialdemokratisch
Sozialismus
sozialistisch
Springer-Presse/Springerpresse
Studentenorganisation
System
T
totalitär
totalitäres System U
Unruhe
Unterdrückung
V
Verantwortung
Verfolgung
Verhetzung
Verketzerung
W
Willensbildung
Z
Zwangsexmatrikulation
5 Bibliographie
Primärliteratur
Knut Nevermann/Verband Deutscher Studentenschaften (vds) (Hrg.): der 2. juni 1967. Studenten zwischen Notstand und Demokratie. Dokumente zu den Ereignissen anläßlich des Schah-Besuchs. Köln 1967.
Sekundärliteratur
DUDEN. Das große Fremdwörterbuch. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2000.
Jansa, Axel: Pädagogik, Politik, Ästhetik. Paradigmenwechsel um ’68. Frankfurt am Main 1999.
Nier, Thomas: Schlagwörter im politisch-kulturellen Kontext. Zum öffentlichen Diskurs in der BRD 1966 - 1974. Wiesbaden 1993.
Ott, Ullrich / Luckscheiter, Roman (Hrg.): Belles Lettres / Graffiti. Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechzig er. Göttingen 2001.
Wengeier, Martin: „1968” als sprachgeschichtliche Zäsur. In: Stötzel, Georg / Wengeier, Martin: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin / New York 1995. S. 382-404.
http://www.perlentaucher.de/autoren/16167.html (07.03.2006) http://www.uni-heidelberg.de/uni/presse/RuCa2_98/kiesel.htm (15.01.2006).
[...]
[1] Vgl.: Jansa, Axel: Pädagogik, Politik, Ästhetik. Frankfurt am Main 1999. S. 68.
[2] Vgl. Jansa, Axel: Pädagogik, Politik, Ästhetik. Frankfurt am Main 1999. S. 68.
[3] Ebd. S. 69.
[4] der 2. juni 1967. Köln 1967. S. 6.
[5] der 2. juni 1967. Köln 1967. S. 5.
[6] Ebd. S. 5.
[7] Die fett gedruckten Wörter entsprechen der Einteilung des Inhaltsverzeichnisses der Materialsammlung.
[8] Ebd. S. 5.
[9] Wengeler, Martin: „1968” als sprachgeschichtliche Zäsur. Berlin/New York 1995. S. 384.
[10] Mattheiser, J. Klaus: Protestsprache und Politjargon. Göttingen 2001. S. 87.
[11] der 2. Juni 1967. Köln 1967. S. 40.
[12] Die Studie zum autoritären Charakter stellte eine wichtige Arbeit zur Erklärung der Entstehung von totalitären Regimen dar - bezogen vor allem auf das nationalsozialistische Regime.
[13] http://www.uni-heidelberg.de/uni/presse/RuCa2_98/kiesel.htm (15.01.2006).
[14] DUDEN. Das große FVemdwörterbnch. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2000. S. 166.
[15] der 2. Juni 1967. Köln 1967. S. 75.
[16] Ebd. S. 67.
[17] der 2.Juni. Köln 1967. S. 90.
[18] Ebd. S. 90.
[19] Ebd. S. 90.
[20] der 2. Juni. Köln 1967. S. 90.
[21] Ebd. S. 90.
[22] der 2. Juni 1967. Köln 1967. S. 6.
[23] Ebd. S. 141.
[24] der 2. Juni 1967. Köln 1967. S. 7.
[25] Ebd. S. 141.
[26] Ebd. S. 142.
[27] Ebd. S. 143.
[28] Ebd. S. 145.
[29] Ebd. S. 144.
[30] Ebd. S. 145.
[31] Wobei damals wie heute das Wort Anarchie bedeutungsgleich für Chaos verwendet wird, was im eigentlichen Wortsinne falsch ist und nichts mit dem politischen Begriff Anarchismus zu tun hat.
[32] „Johannes Agnoli, geboren 1925 in Valle di Cadore, war von 1967 bis 1990 Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Als Lehrender und als Autor hatte er großen Einfluss auf die Theoriebildungsprozesse der sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik. Er starb am 4. Mai 2003 in der Nähe von Lucca. Die „Transformation der Demokratie”, Johannes Agnolis erstes Hauptwerk, das er 1967 zusammen mit Peter Brückner im Voltaire Verlag vorlegte, war die einflussreichste und nachhaltigste Staats- und Parlamentarismuskritik für die außerparlamentarische Opposition.’’http://www.perlentaucher.de/autoren/16167.html (07.03.2006)” S. 147.
- Citation du texte
- Miriam Oberle (Auteur), 2005, Die Ereignisse des 2. Juni 1967 in der sprachlichen Rezeption der Studentenbewegung am Beispiel der "Dokumente zu den Ereignissen des Schah-Besuchs", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111692
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