Der Großteil des 18. Arrondissements von Paris, dem Montmartre, im späten 19. Jahrhundert war von Armut und Elend geprägt. Schmutz und Baufälligkeit waren deutliche Anzeichen, dass hier die unterste Schicht der aufblühenden Industriegesellschaft lebte beziehungsweise leben musste. Noch wenige Jahrzehnte vorher war der Montmartre nahezu das Gegenteil gewesen, seine später fast vollständig abgerissenen Windmühlen standen noch, statt gepflasterter Straßen und enger, dunkler Gassen zwischen einfachen Häusern prägten blühende Wiesen die Landschaft. Als solche war sie ein beliebtes Ausflugsziel des gehobenen Bürgertums gewesen, Aufenthaltsort für gemütliche Sonntagnachmittage. Wenn eben jene Bevölkerungsschicht sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufmachte, um den Hügel Montmartre zu besuchen, dann um den eisigen Schauer beim Anblick des zelebrierten Elends zu erleben, um aus gesitteten und gezierten Verhaltensnormen heruasgerissen zu werden und sich beleidigen, anpöbeln, verhöhnen zu lassen, um ihre sorgsam gehütete Schamhaftigkeit beim Anblick nackter Schenkel zu überreizen und sich somit am eklatanten Unterschied zwischen ihrer pedantisch gepflegten Alltagswelt und dem dekadenten Exzess am Rande der Stadt zu berauschen. Der ‚gute Bürger’ stieg sauberen Fußes am Freitag Abend in den Fiaker, möglicherweise nach einem Theaterbesuch in der Comédie française oder der Grand Opéra, um von der Kutschenfahrt durchgeschüttelt eben diesen Fuß in den Schmutz des Boulevard Rochechouart zu setzen, wo Aristide Bruant seine Gäste beim Ein- und Hinaustreten als Schweine bezeichnete und sich zwischen seinen Chansons in groben Redensarten erging.
Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum hatten sich die Gutgesitteten und Wohlhabenden in den Cafés concerts eingefunden, als sich diese als Lieblingstreffpunkt der Künstler und als Hochburg des Chansons und der Tanzvergnügungen herausbildeten. Und auch da flüchteten die Künstler mit ihren zahlreichen Vereinigungen und Clubs vor der zunehmenden Zahl der Besucher, die ein kleines Abenteuer zwischendurch und nicht einen anderen Lebensstil suchten. Mit einer solchen Flucht, nämlich der Hydropathen aus dem Café Voltaire in das neugegründete Chat Noir am Boulevard Rouchechouart, hatte auch die große Zeit der Chansonkultur am Montmartre ihren Anfang genommen, von der 1900 kaum mehr als ein touristisches Vergnügungszentrum mit größtenteils erotischen Attraktionen übriggeblieben war. [...]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Vorgeschichte und Rahmenbedingungen
2. Widersprüche im Dasein des Chat Noir
Quellenverzeichnis
Einleitung
Der Großteil des 18. Arrondissements von Paris, dem Montmartre, im späten 19. Jahrhundert war von Armut und Elend geprägt. Schmutz und Baufälligkeit waren deutliche Anzeichen, dass hier die unterste Schicht der aufblühenden Industriegesellschaft lebte beziehungsweise leben musste. Noch wenige Jahrzehnte vorher war der Montmartre nahezu das Gegenteil gewesen, seine später fast vollständig abgerissenen Windmühlen standen noch, statt gepflasterter Straßen und enger, dunkler Gassen zwischen einfachen Häusern prägten blühende Wiesen die Landschaft. Als solche war sie ein beliebtes Ausflugsziel des gehobenen Bürgertums gewesen, Aufenthaltsort für gemütliche Sonntagnachmittage. Wenn eben jene Bevölkerungsschicht sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufmachte, um den Hügel Montmartre zu besuchen, dann um den eisigen Schauer beim Anblick des zelebrierten Elends zu erleben, um aus gesitteten und gezierten Verhaltensnormen heruasgerissen zu werden und sich beleidigen, anpöbeln, verhöhnen zu lassen, um ihre sorgsam gehütete Schamhaftigkeit beim Anblick nackter Schenkel zu überreizen und sich somit am eklatanten Unterschied zwischen ihrer pedantisch gepflegten Alltagswelt und dem dekadenten Exzess am Rande der Stadt zu berauschen. Der ‚gute Bürger’ stieg sauberen Fußes am Freitag Abend in den Fiaker, möglicherweise nach einem Theaterbesuch in der Comédie française oder der Grand Opéra, um von der Kutschenfahrt durchgeschüttelt eben diesen Fuß in den Schmutz des Boulevard Rochechouart zu setzen, wo Aristide Bruant seine Gäste beim Ein- und Hinaustreten als Schweine bezeichnete und sich zwischen seinen Chansons in groben Redensarten erging.
Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum hatten sich die Gutgesitteten und Wohlhabenden in den Cafés concerts eingefunden, als sich diese als Lieblingstreffpunkt der Künstler und als Hochburg des Chansons und der Tanzvergnügungen herausbildeten. Und auch da flüchteten die Künstler mit ihren zahlreichen Vereinigungen und Clubs vor der zunehmenden Zahl der Besucher, die ein kleines Abenteuer zwischendurch und nicht einen anderen Lebensstil suchten. Mit einer solchen Flucht, nämlich der Hydropathen aus dem Café Voltaire in das neugegründete Chat Noir am Boulevard Rouchechouart, hatte auch die große Zeit der Chansonkultur am Montmartre ihren Anfang genommen, von der 1900 kaum mehr als ein touristisches Vergnügungszentrum mit größtenteils erotischen Attraktionen übriggeblieben war.
Das insbesondere von Künstlern oft gezeichnete Bild einer langsam in autonome Künstlergruppen eindringenden Bevölkerungsschicht, die mit ihrer oberflächlichen Abenteuerlust den ‚gesunden Kern’ einer Alternativkultur zersetzen, setzt voraus, dass damit immer ein von vornherein vorsätzlicher und von den Künstlern ungewollter Akt stattfand, dass die vorherigen Kulturträger sich einer sich ausbreitetenden Seuche gegenübersahen, die sie nicht bewältigen konnten und schließlich kapitulierten beziehungsweise flüchteten. Es wird damit unterstellt, es gäbe eine „reine“ Kultur „reiner“ Künstler.
Tatsache ist, dass es ein elitäres Interesse von bestimmten Künstlern, sich von der Allgemeinheit abzugrenzen, insbesondere seit der Aufklärung (den aufgeklärten Künstlern) und erst recht seit der Reaktion auf den Rationalismus der philosophischen Aufklärung, der Romantik (den befreiten Künstlern) gegeben hat. Kreative Abgrenzung wird seitdem nicht selten sogar als wesentlicher Grundzug des Künstlertums angesehen.
Doch hinterfragt man die Realität des Künstlerseins, drängen sich zumindestens zwei Relativierungen dieses Ideals auf: Erstens, dass es die Künstler nicht gibt, zweitens, dass kein Künstler nur Künstler ist. Diese simplen Feststellungen haben weitreichende Folgen, nicht unbedingt für das Künstlertum selbst, wohl aber für seine wissenschaftliche Betrachtung.
Der vorhin beschriebene ‚gute Bürger’, der ein verruchtes Stadtviertel aufsucht, um zu sehen, was die Künstler so treiben, sucht in erster Linie eine temporäre und legitimierte Befreiung von den gesellschaftlichen Zwängen, die er alltäglich erlebt und im Allgemeinen auch subventioniert. Er hat einen ‚ordentlichen Beruf’, er zahlt seine Rechnungen, er ist für Ruhe und Ordnung.
Um das Gefühl zu haben, das alles zeitweilig hinter sich lassen zu können, muss die Vorstellung intakt bleiben, dass das alles in der Welt der Künstler nichts gilt. Der Künstler hat keinen ‚ordentlichen Beruf’, er zahlt nie seine Rechnungen, und er stört Ruhe und Ordnung.
Dabei achtet der ‚Bürger’ gewissenhaft darauf, dass die eine Welt streng von der anderen Welt, gewissermaßen das Licht vom Dunkel streng getrennt bleibt. Jeder Ansatz einer Vermischung ist verwirrend und durch die Exekutive zu unterbinden.
Auf der ‚anderen Seite’ ist dem Künstler diese Zuschreibung recht, wenn sie seinem romantischen Bild vom Künstlertum entspricht und wesentlich zu seiner Sonderstellung beiträgt. Diese Sonderstellung ist historisch gesehen erst seit einer gewissen Loslösung von selbstverständlichen institutionellen Bindungen möglich und diese wiederum erst seit dem Aufstieg einer wirtschaftlich potenten Bourgeoisie. Dass das aufstrebende Bürgertum, letztlich ihre Existenzgrundlage, paradoxerweise sofort Hauptangriffspunkt der ‚freien Künstler’ wird, ja sich die Sympathien sogar ausdrücklich auf die Aristokratie oder das Proletariat beziehen, ist nur ein Widerspruch im beiderseitigen Verhältnis.
Denn das Ideal einer sauberen Zweiteilung der Welt ist für das Gefühl der moralischen Integrität auf der einen Seite und die Legitimierung des quasi unproduktiven Daseins andererseits bedeutsam, verschleiert aber lediglich die komplizierte Realität zwischen Ideal und Wirklichkeit, die durch deren gegenseitige Beeinflussung entsteht.
Die beiden simplen Feststellungen von oben bringen das schöne Bild zweier Welten zum Einsturz: Erstens sind die Künstler keine Gemeinschaft, sondern sich gegenseitig anfeindende oder begünstigende, sich abgrenzende oder verbündende, sich hassende oder sich liebende, sich ausbeutende oder sich haushaltende Individuen und Gruppen.
Zweitens ist der Künstler gleichzeitig Staatsbürger mit einer bestimmten sozialen und biographischen Herkunft, mit gesellschaftlichen Verpflichtungen, ökonomisch und politisch eingebunden und nicht zuletzt von seiner direkten - auch nichtkünstlerischen - Umgebung und Kultur geprägt und abhängig. Alles das bestimmt ihn mehr oder weniger, wie jedes Mitglied der Gesellschaft, doch er ist in Hinsicht auf seine Bedürfnisse und seine Möglichkeiten, sie zu befriedigen, in erster Linie ‚normal’. Ist er es nicht, so zumeist nicht, weil er Künstler ist.
Und in jeder Gemeinschaft, in der er versucht sich einzugliedern, wird er mit dem Anspruch konfrontiert werden, sich ihrem Maßstab entsprechend ‚normal’ zu verhalten. Dass dieser Maßstab in einem Cabaret ein anderer ist als in der Académie française, ergibt sich aus beider Provenienz.
Ist nun also die Berührung zweier Welten zu untersuchen, die zumindestens im Ideal beider existiert, sind es die Widersprüche, die dabei als Leitfaden dienen müssen. Denn sei es das Bild des ‚aufgeklärten Bürgers’, der eine Prostuierte blutig schlägt und sich dann rechtfertigt mit „Sie ist doch bloß ’ne Hure!“ oder das Bild einer ehemaligen Tänzerin, die mit den teuren Geschenken ihres reichen Verehrers bekleidet mit Abscheu auf ihre ehemaligen Kolleginnen blickt, es bleibt die Feststellung, dass man mit den Vergnügungszentren am Montmartre eine Umgebung der Widersprüchlichkeit und Doppelmoral betritt.
Methodologischer Nachtrag:
Auch wenn die Berührung allgemeiner soziologischer, ökonomischer, moralischer u.a. Gesichtspunkte nicht ausbleiben kann, ist doch der Tenor ein phänomenologischer, der versucht, Widersprüche zusammenzustellen und im Ansatz zu analysieren. Daraus ergibt sich, dass eine Diskussion der verwendeten Begrifflichkeiten ebenso entfallen muss, wie eine Diskussion der Thesen unter den angesprochenen Gesichtspunkten.
1. Vorgeschichte und Rahmenbedingungen
Im 17. und 18. Jahrhundert nichts weiter als ein Hügel mit Windmühlen vor den Toren der Stadt Paris, Ziel für Wochenendausflüge wohlhabender Bürger auf der Suche nach ländlicher Idylle und durch die Überlieferung des Martyriums vom Heiligen Dionysius als „butte sacrée“ daher in zweierlei Hinsicht als religiöser Ort empfunden, entfaltet sich spätestens am 15. Juli 1789 die Zwiespältigkeit des Montmartre, als antiroyalistische Nationalgarden ihre Kanonen dort platzieren, um der Revolution einen strategischen Vorteil zu verschaffen. Als etwa 80 Jahre später, am 18. März 1871, erneut Kanonen auf den Hügel gezogen wurden, diesmal von der Commune de Paris, die für zehn Tage gegen die französische Regierung aufbegehrte, war von der Ländlichkeit schon nichts mehr übrig. Geleert von den Windmühlen, die zum größten Teil zwischen 1828 und 1858 abgerissen wurden, wurde das Bild des Stadtteils jetzt von Mietskasernen und Neubauten geprägt, in denen das neue Proletariat der Industrialisierung versuchte zu leben. Die Weltausstellung 1900 sah den Montmartre schließlich als ein Zentrum touristischer Vergnügungen, in dem sich eine Peepshow an die andere reihte, in dem das diffuse rote Licht keinen Zweifel am vorherrschenden Gewerbe ließ und in dem schließlich das Cabaret kaum etwas anderes als Fleischbeschau war.
Jedoch während die gerade die Kriegsniederlage verdauende Dritte Republik unter großen Anstrengungen und Repressalien versuchte, Paris und danach den Rest des Landes zu kontrollieren, und während auf dem Montmartre u.a. als Zeichen für den Sieg über die Aufständischen von 1871 die Basilika Sacré-Cœur von 1875 an erbaut wurde, fanden sich zuerst an einem, dann an mehreren verschiedenen Orte Künstler zusammen, um das Dasein in der und für die Kunst auszuleben, um sich von den ‚Philistern’ abzugrenzen, eine Enklave der Kreativität zu schaffen. Der Traum von der Bohème, so wie sie Henri Murger 1847-49 in „Scènes de la vie de Bohème“ beschreibt, sollte hier einen neuen Höhepunkt finden, auf dem Hügel Montmartre, der gleichsam erobert wurde und nicht nur topographisch gesehen über das restliche Paris hinauszuragen hatte.
Diese Zeit ist neben der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts der Hauptbrennpunkt, wenn auf die großartigen Zeiten Pariser Künstlertums fokussiert wird. Schon allein die pathetischen Selbstdarstellungen, in denen sich die damaligen Künstler im Hochgefühl der Unantastbarkeit äußerten, geben fantasievollen Romantisierungen ihres Lebens genug Stoff. Doch ebenso oft brachten intellektueller Zweifel, der seit den Fünfzigern aufblühende Realismus, sowie Selbstironie und Spott eine ebenso große Anzahl an Gegendarstellungen hervor; ob in Zeitschriften, Zeitungen, Romanen, Novellen oder Ähnlichem, die schriftliche Veräußerung hatte in Paris, wohl einer der ersten Hochburgen der Presse, Hochkonjunktur.
Fast noch umfangreicher blieb das Bild als Zeitdokument in Massen erhalten, vor allem in den zu allen Gelegenheiten genutzten Plakaten, den zahlreichen Abbildungen der - größtenteils unbekannten - Maler, Daguerrographien und frühen Fotographien, oft auf Postkarten gebracht. Im ständigen Wandel an Etablissements, die von Künstlern auf- und zugemacht, aufgebaut und abgerissen, benannt und umbenannt wurden, ist die Zahl an erhalten gebliebenen Gebäuden ziemlich gering. Doch auch sie unterlagen, neben dem bildlichen Festhalten, der Darstellungswut der Pariser Künstlerwelt.
Neben verschiedenen Dokumenten, in der vorliegenden Gegend vor allem Polizeiakten, wird der Bestand an Quellen zudem erweitert durch die große Anzahl an indirekten Hinweisen und Beschreibungen, den von Zeitgenossen überlieferten Legenden und Erinnerungen, den künstlerischen Programmen, den sich selbst projizierenden Vorstellungen, die sich die Nachwelt macht, den Existenzbedingungen, die die ökonomische, politische und kulturelle Zeitgeschichte produzierte.
Da nur ein minimaler Teil an Primärquellen genutzt werden konnten, soll letztere zu Beginn für die Zeit des Daseins des Chat Noir (1881-1897) im Groben skizziert werden, um Weiteres einordnen zu können.
Nach Beendigung den Nachkriegsunruhen von 1871 (Commune de Paris) versuchte der Präsident der Dritten Republik, Adolphe Thiers, mit Krediten die finanzielle Situation zu retten. Nachdem die royalistische Mehrheit in der Nationalversammlung ihn abgesetzt hatte, war sie nahe daran, ein neues Königtum zu gründen, als das scheiterte, fanden sie doch in Marie-Edme-Patrice-Maurice Mac-Mahon, dem Herzog von Magenta, einen Präsidenten, der sich an den Interessen der reichen Kaufleute orientierte und der als ehemaliger Kommandant der Niederschlagung der Commune ein deutliches Symbol für die Pariser Bevölkerung war.
Als überzeugter Republikaner war Léon Gambetta sein politischer Gegenspieler und Hoffnungsträger der ärmeren Schichten. Mit der neuen Verfassung von 1875 waren die Royalisten und damit auch Mac-Mahon jedoch wesentlich aus der Politik vertrieben worden, als neuer Präsident geht Jules Grévy, gestützt von den gemäßigten Republikanern, hervor. Die nächsten Jahre wurden von Laizismus und Antisemitismus geprägt, Grévy trat zurück, Sadi Carnot wurde Präsident. Nach einem Mordversuch auf Jules Ferry, der 1880-81 und 1883-85 Premier sowie 1883-85 Außenminister war und wesentlich zu Erweiterung des französischen Kolonialreiches beigetragen hatte, blühte der Nationalismus auf, geführt von General Boulanger. Von einem Großteil der Pariser Bevölkerung begeistert unterstützt, entging er doch nicht der Anklage auf Veruntreuung öffentlicher Gelder und beging Selbstmord. Mit der Verhaftung des Herzogs von Orleans, dem zweiten Sohn von Louis-Philippe, der versucht hatte, militärisch eine Restauration einzuleiten, hörte der politische Einfluss der Royalisten endgültig auf.
Die darauffolgende Anarchie brachte mehrere Gewalttaten und Anschläge mit sich, wovon weder Cafés, noch die Nationalversammlung, noch der Präsident, der in Lyon ermordet wurde, verschont blieben. Öffentliche Bekenntnisse zur Commune zeigten die rebellische Stimmung.
Die Dreyfus-Affäre mit der Verurteilung des jüdischen Offiziers am 22. Dezember 1894 teilte die Hauptstadt und entzündete eine Welle an öffentlichen Diskussionen, die letztlich zum Rücktritt des Justizministers und zur Verurteilung des Kommandanten Esterhazys wegen Falschaussage führten, ohne die selbst im Privaten geführten Streitigkeiten auf allen Ebenen zu besänftigen. Gerichtsverhandlungen hatten Hochkunjunktur, die Gewaltbereitschaft war enorm. Nach Felix Faure wurde ein Dreyfus-Anhänger, Emile Loubet, Präsident, und nach weiteren Auseinandersetzungen und Verurteilungen mehrerer antisemitischer Anführer nahm die Affäre erst am 22. September 1899 mit der Begnadigung von Dreyfus ein Ende. Daraufhin bestimmen die Vorbereitungen auf die Weltausstellung das Tagesgeschehen.
Während dieser politischen Ereignisse hat Paris mehrere Umgestaltungen erfahren, darunter den Bau des Eiffelturms bis zur Weltausstellung 1889, der heftige Diskussionen entfachte, Erweiterungen der Universität, allgemeine Auflockerung der Innenstadt mit breiten Straßen, sowie die Einführung von Abfalleimern, was den Zusammenbruch des Lumpensammlergewerbes verursachte.
Während dieser Zeit hatte sich die Industrialisierung in Frankreich fest etabliert, sowohl in den technologischen als auch den sozial-ökonomischen Aspekten. Paris war dabei zum industriellen Zentrum geworden, in dem alle wichtigen Branchen vertreten waren. Dementsprechend fand ein großer Zuzug statt, der die Wohnviertel erheblich ausdehnte und dazu führte, dass vorherige Vororte Teil der Stadt wurden. Bis in die 60er Jahre bestehende Zollschranken wurden abgebaut.
Die Pariser Gesamtbevölkerung wuchs dabei von etwa 600.000 Einwohnern um 1810 auf etwa 2.500.000 um 1890. Der darin enthaltene Zuzug kam vor allem von Ausländern, so Engländer, Amerikaner und Holländer, die als Handels- und eschäftsleute vor allem im Zentrum wohnten, Belgier, die als Tagelöhner und Handwerker die äußeren Quartiers bezogen, sowie Italiener, Deutsche und Österreicher, von denen die meisten als Künstler oder Kunstindustrielle, Buchhalter, Handwerker oder Kommis in die Stadt kamen.
Ein überwiegender Teil der Bevölkerung zu dieser Zeit war katholisch.
Vor allem vom Bevölkerungswachstum betroffen war das Quartier Montmartre, das um 1900 von den 20 Arrondissements allein etwa 250.000 Einwohner fasste. Hier siedelten sich kleine Rentiers, Beamte und Künstler an, hier lebten jedoch ebenso mehrere tausend Lumpensammler. Massen an Bahnarbeitern, hauptsächlich das Proletariat bildend, wohnten in La Chapelle, Batignolles und Clichy-La Garenne.
Der zunehmenden Armut wurde gesetzlich seit 1849 begegnet. Die Einrichtung von Krankenhäusern, Hospizen, Maisons de retraite, Fondations, Depots u. Ä. konnte mit ihren etwa 40.000 Betten jedoch kaum die fast 500.000 Bedürftigen angemessen unterstützen. Und doch war 1896 von dem Gesamtbudget von 337 Millionen Francs ein Betrag von etwa 50 Millionen Francs der Armenpflege zugedacht - Paris galt als die gesündeste Stadt Europas.
Im eklatanten Unterschied zur Massenarmut, teilweise jedoch auch damit verwoben war der massenhafte Anstieg an Massenvergnügungsstätten vor der Jahrhundertwende. Abgehoben vom ‚gemeinen Volk’ organisierten sich die oberen Schichten in einer Vielzahl von Clubs, Sociétés professionelles ouvrières und Logen.
Neben den subventionierten Kulturhäusern (Grand Opéra, Comédie français, Théâtre-Français, Odéon) gab es mehrere hundert kleinere Theater, mehrere Konzertunternehmen, Cafés-Concerts, Ball-Lokale, Zirkusse, Panoramen und zahlreiche andere Vergnügungsstätten wie Pferderennbahnen, Eisbahnen usw.
Insgesamt herrschte ein für Paris nicht unübliches großes Konfliktpotential. Um den relativ häufigen großen Unruhen (1789 / 1830 / 1848 / 1871) vorzubeugen, galt zur Restaurationszeit (nach 1815), unter Napoleon III. (1851-1871) und in den Anfangszeiten der Dritten Republik (nach 1871) die Politik der Entpolitisierung, die versuchte, durch Zensur und Repression politische Aktivität im kulturellen Sektor zu unterbinden. Dass diese Entpolitisierung mehr als das ‚normale’ Interesse von Machthabern an politischer Nichtbeteiligung der Anderen war, zeigt eine Untersuchung von Concetta Condemi zur Zensurpolitik gegenüber dem Chanson des Café-concert[1].
Condemi beschreibt darin die Formen der repressiven und präventiven Zensur. Letztere wurde vom Bureau des Théâtres ausgeführt, indem es den gewöhnlichen Vergnügungsstätten, das heißt, den nicht subventionierten, verschiedene Auflagen machte.
Im Falle der Cafés-concerts waren dies das Vorlegen der Programme 12 Stunden vor Aufführungsbeginn mit allen noch nicht genehmigten Chanson- und anderen Texten bzw. den Titeln der bereits genehmigten. Entsprach die Programmgestaltung nicht den Vorstellungen der Zensurbeamten, wurde den Direktoren bis Dienstschluss der Beamten, 16 Uhr, Zeit zur Revision gegeben. Kam dabei nichts Erlaubbares heraus, wurde das Etablissement für den Abend geschlossen. Durch Geschäfts- und Prestigeverluste gaben meist mehrere Tage Schließzeit den Ausschlag zum Konkurs. Dem wurde meist mit einer Verlegung und Wiedereröffnung unter anderem Namen begegnet. Demgegenüber waren bei den Abenden selbst nicht selten Polizeibeamten anwesend, die durchaus auch auf repressive Zensur schon genehmigter Programme zurückgreifen konnten und dann das Lokal schließen ließen.
Die Intensität der Überprüfung war natürlich abhängig von der politischen Lage und der Zahl von Etablissements. Letztere stieg in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sprunghaft an; waren es 1872 noch 145, entwickelte sich die Zahl 1882-92 auf über 800. Parallel dazu führten auch verschiedene Gesetze 1881 zu einer Lockerung der Situation.
Zur späteren Betrachtung ist noch hinzuzufügen, dass sich beim Künstler, auf den die Repression letztlich übertragen wurde, wie unter allen Zensursystemen ein hohes Maß an nonverbaler Aussagekraft und Symbolismus ausprägte.
Wie sehr diese Form der Vergnügungskultur jedoch dem Kulturbegriff der künstlerischen Elite widersprach, kann an Romain Rolland und seinem Begriff von Musikkultur gezeigt werden.
Romain Rolland schildert in seinem Buch „Paris als Musikstadt“ die Pariser Musikszene von 1870 bis 1904. So groß der Aufschluss durch das wird, was er schreibt, so kennzeichnend ist auch das, was er nicht schreibt. Schon die Kapitelüberschriften (Die Académie des Beaux-Arts und die Conservatoire national de Musique; Die Oper und die komische Oper; La Société Nationale de Musique; Die Colonne- und Lamoureux-Konzerte; Die Schola cantorum; Die Gesellschaften der Kammermusik; Die Kritik und die Musikgeschichte, Die Pariser Universität und die Musik) geben einen klaren Umriss der Elitekultur und damit seines Begriffes von Musikkultur.
Auch das folgende Kapitel mit dem Titel „Die Musik und das Volk in Paris“ beginnt mit der Feststellung: „So hat die Musik einen bedeutenden Platz im Leben der geistigen Elite, der mondainen Gesellschaft und des gebildeten Bürgertums von Paris eingenommen. Es ist eines noch nötig: daß sie ins Volk eindringt.“ Es ist dies nicht überraschend, schreibt Rolland doch schon im folgenden Satz: „Das ist eine schwierige Aufgabe für Frankreich, wo die Kunst immer einen sehr aristokratischen Charakter gehabt hat.“[2]
Der selektive Charakter dieser Darstellung wird deutlich angesichts all der Cafés concerts, Cabarets, Kneipen und anderen klingenden Orte, ebenso der Straßenmusik, aber selbst auch der unzähligen kleinen Theater als Orte der Musik, die das Pariser Musikleben in gleichem Maße, und für die Mehrheit der Bevölkerung sogar in wesentlich höherem Maße prägten.
In diesem Sinne befand sich das Chat-Noir ‚zwischen allen Stühlen’.
2. Widersprüche im Dasein des Chat Noir
Am 18.11.1881 strömten etwa 100 Menschen in den kleinen Saal des Boulevard Rochechouart 84. Sie bildeteten ein buntes Gemisch aus verschiedensten Provenienzen: Maurice Boukay, Poet und Professor an der Sorbonne; Coppée, ein Mitglied der Académie française; Villain, Schauspieler in der Comédie française; MacNab, der als Polizeibeamter in Chansons die Unfähigkeit der Polizei besang; Gabriel Montoya, ein ehemaliger Schiffsarzt usw.
Die Genannten waren sämtlich Nicht-Professionelle, zu ihnen kamen unzählige ‚hauptberufliche’ Literaten, Chansonniers, Maler und Zeichner, Bildhauer, Komponisten, von denen nur die einige zu nennen sind: Emile Goudeau, der Präsident im 1878 gegründeten Club der Hydropathen gewesen war und jetzt mit dieser Gemeinschaft aus Studenten und Künstlern aus dem angestammten Keller des Café Voltaire in der Rue Cujas vor den immer mehr eindringenden, gelangweilten Neureichen ins Chat Noir flüchtete; Franc Nohain, der später Ravels „L’Heure espagnol“ dichtete; Maurice Donnay, der zusammen mit Adolphe Willette und Henri Rivière die Kunst der Laterna magica-Spiele perfektionierte; Theophile Steinlen, der den typischen „Schwarzen Kater“ des von einer Kurzgeschichte Edgar Allan Poes inspirierten Namens des Cabarets kreierte. Abgesehen von diesen Personen wären noch zahlreiche als wesentlich anzuführen.
Als integrative Gestalt dieser Menge galt Rodolphe Salis, der auch Inhaber und Geschäftsführer des Chat Noir war und sich selbst als „Seigneur von Chatnoir-Ville“[3] sah. Er war Sohn eines Likörfabrikanten und Brauers in Châtellerault, der dem Versprechen auf die neuesten künstlerischen Errungenschaften nach Paris folgte. Während er sich im tradionellen Studenten- und Künstlerviertel Quartier latin als mittelmäßiger Karikaturist betätigte, gründete er in der Rue de Seine eine Akademie von Malern, Bildhauern und Dichtern und zeigte sich der Öffentlichkeit in wunderlichen Kostümen, z.B. als Räuber verkleidet.
Wie verschiedene Andere, die sich als Maler versuchen wollen, ging er nach Montmartre als Stadtmaler und Buchillustrator. Auf Bedrängen seines Vaters suchte er nach eine Möglichkeit, dessen Gewerbe mit seinen eigenen künstlerischen Neigungen zu vereinen und gründete darum das „Chat Noir“, in dem er auch selbst destillierte.
Seine Funktion, die Brücke zu schlagen zwischen scheinbaren Anarchismen der Künstler und den Gesetzen des Geschäftsganges, ist ähnlich der Zidlers im „Moulin Rouge“, einem Tanzsaal, oder Aristise Bruants im „Mirliton“, einem Café-chantant im neueren Sinn, das heißt die Verbindung der gastronomischen Struktur des Café-concert mit der Abtrennung Publikum und Chanteuse und der Struktur des Cabarets à la Chat Noir mit flüssigen Übergängen zwischen ‚Moderation’ und Chanson. Im Resultat dieser Betätigung spiegelte sich die ganze Widersprüchlichkeit der Situation: Sowohl als eiskalter Geschäftsmann als auch als genialer Schöpfer des ursprünglichen Chat-Noir-Geistes betrachtet, findet sich die Polarität zwischen ökonomischem Effizienzdenken auf der einen und verschwenderischem Kreativgeist auf der anderen Seite, die das Idealdenken der beteiligten Künstler prägte. Es ist dahingehend jedoch nahezu unmöglich, die Einordnung Salis’ von Seiten der nichttätigen Besucher nachzuvollziehen und damit durch die Gegenseite zu relativieren.
Bevor zur Klärung von Formulierungen wie „scheinbare Anarchismen“ und „nichttätige Besucher“ der innere Ablauf im Cabaret zu skizzieren ist, kann ein Blick auf die Inneneinrichtung der beiden „Chat-Noir“ bestimmte Aspekte dieser teils sehr wirren Gestaltungswelt verdeutlichen.
Die Geschichte des „Chat-Noir“ ist gewissermaßen eine zweigeteilte. Denn nach einiger Zeit ergaben sich Streitigkeiten mit den vorherigen ‚Machthabern’ des Boulevard Rochechouart, den Zuhältern, die ihr Geschäft durch den gestiegenen Zuspruch gefährdet sahen. Außerdem führte der Besucherüberlauf im alten Quartier, der durch das vergnügte Treiben im Innern hervorgerufen wurde und durch den versuchten Ausschluss der Öffentlichkeit zu mehreren Gewaltausbrüchen mit darauffolgendem Polizeieinsatz führte.
So wurde Salis schließlich durch die Pariser Polizeipräfektur vor die Alternative gestellt, entweder zu schließen oder das Cabaret vollständig zugänglich zu machen. Nachdem Salis bei einer Saal- und Straßenschlacht verwundet wurde, bezog man daher 1885 ein neues Quartier der Villa des verstorbenen Kunstmalers Stefens in der Rue Victor Massé, die zwar parallel zum Boulevard Rochechouart liegt, aber bei weitem nicht gleichermaßen offen lag.
Dass die Rue Victor Massé schon im 9ème Arrondissement und nicht mehr am Montmartre liegt, wirft angesichts der Tatsache, dass die tatsächlich legendäre Zeit des „Chat Noir“ jetzt erst begann, ein interessantes Licht auf das Konstrukt „Montmartre“. Denn die Zuordnung zum Montmartre blieb ohne Zweifel, mit dem Auszug aus dem Quartier Montmartre, in dem danach „Moulin Rouge und „Mirliton“ das Vergnügungsmonopol übernahmen, verschob sich, gleichsam parallel zur topographischen Diskrepanz, das Ideal „Montmartre“ und „Chat-Noir-Ville“ ins Legendenhafte.
Das erste Domizil am Boulevard war von außen ein einfaches Fachwerkhaus und bestand im Wesentlichen aus einem schmalen Saal mit Podium, der zu einer Hintertreppe zu einem abgetrennten Raum führte. Letztere war für interne Tagungen bestimmt, der Hauptteil der Veranstaltungen fanden im Saal statt. Dieser Aufbau folgt dem Vorbild der Cafés-concerts.
Die Ausgestaltung beschreibt der zeitgenössische Maler Erich Klossowski: „Salis bevorzugt den Stil Louis XIII. Die Holzverkleidung der Wände bildeten in der That alte Schrankthüren aus der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts, die mit ihren grosszügigen Ornamenten, ihren geschliffenen Einlagen einen artigen Hintergrund abgaben. Alte Kirchenampeln, Waffen, ein unheizbarer Renaissancekamin, dessen Sims ein buntes bric-à brac füllte, sind weitere Zierstücke.“[4] Dazu kamen unzählige Wappen, Krüge und nachgemachte Antiquitäten. Diese Fülle steigerte sich mit der Zeit, denn die Wände waren die Museen der sonst unbeachteten Maler, Bildhauer und Zeichner, die ihre Skizzen, Gemälde und Statuetten hier ausstellten. Die Ausstattung entsprach somit dem Ateliergeschmack, der verschiedenste Stile wie Gotik, Renaissance, Barock und Grande Pinte zu vereinen suchte.
Auch für das zweite Domizil ist Klossowski eine Hauptquelle: „Die Butzenscheiben, die Holzdächer über Thür und Fenstern, das Weingerank dazwischen, die riesigen bunten Ampeln an schmiedeeisernen Armen [...] das Zeichen des Hauses: die in Blech geschnittene Silhouette des Katers, der von einer Mondsichel herab nächstens den verschlafenen Passanten erschreckte [...]; und im ersten Stock noch einmal die plastische Figur des diabloischen Tieres, umgeben von einer glänzenden Aureole - alles dies gab eine ergötzliche, phantasische Stimmung, eine absonderliche Mischung aus Spitzweg und Edgar Poe. Über der Eingangspforte stand im Innern die strenge Mahnung: Homme! sois moderne![5] Dennoch auch hier die wildeste Stilromantik. Die Diana von Houdon[6] schmückt die Treppe, auf der, mit seiner Hellebarde gerüstet, ein Schweizer[7] die Wache hält. Dann der Saal der Garden: das riesige Glasfenster in seinen glühenden blutigen Farben ist ein Meisterwerk Willettes[8]. Es stellt das goldene Kalb dar, mit einem Purpurmantel bedeckt auf einer eisernen Truhe hochend, stumpfsinnig vor sich hinbrütend. Hinter ihm erhebt sich mit blutbefleckten Armen die Guillotine. Das Volk umdrängt es, in den Fäusten, die ihre Fesseln zersprengt haben, droht das Werkzeug der Arbeit, Hammer und Axt und Spaten. Der Himmel flammt und das Blut trieft. Eine Mutter erwürgt ihr Kind, ein bildschönes junges Mädchen tritt mit den Füssen ihre Lilien[9] in den Kot. Die Poesie an den Beinen gefesselt von dem scheusäligen Elend (dargestellt durch einen widerlichen Krüppel) singt und deklamiert noch immer, trotz allem. Die Schönheit, eine moderne Salome, bietet zum Verkauf ihre Liebe und präsentiert auf einer Schüssel das bleiche Haupt ihres Freundes Pierrot[10]. Und im Vordergrund steht der Tod un schlägt den akt einem unsichtbaren Orchester, dessen Instrumente hervorlugen und einen infernalischen Tanz aufspielen mögen. Die Wände schmücken, von derselben Hand entworfen, vier Bilder „Le Moulin de la Galette“[11], „le cavalier de la Mort“[12], „Robespierre“ und „la chasse d’amour“[13]. Dazwischen von Steinlen[14] eine groteske Katzenapotheose; dem Eingang gegenüber ein romantischer Prunkkamin, den Grasset[15] entworfen hat und dessen Säulen ebenfalls das diesem Orte heilige Tier[16] tragen. Ein schönes Chorpult, von einem riesigen holzgeschnitzten Adler gekrönt, war dazu bestimmt, für einige Tage das neueste Meisterwerk der Karikatur auszustellen, ehe es der Chat noir-Sammlung einverleibt wurde. und Waffen und japanische Masken und ein Kristallglas, aus dem Voltaire getrunken hatte, und der Schädel und die Flöte François Villons[17]. Im ersten Stock lag ein Sitzungssaal in ähnlichem Sinne dekoriert. Das Hauptinteresse aber konzentriert sich auf den Festsaal des zweiten Stocks, der das kleine Schattentheater enthält. Ein phantastischer Goldrahmen umschloss die Scene, der als Aufsatz einen plastischen geflügelten Kater trug, auf der Erdkugel festgekrallt, und mit einem Schlag der Hinterpranke die Gans des Spiessbürgertums verscheuchend.“[18]
Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, auf die Vielzahl an Querbezügen und Symboliken einzugehen, die allein in dieser kurzen Skizze sichtbar wird, geschweige denn, sie in die umfangreiche fin de siècle-Symbolistik einzuordnen. Daher seien nur die in den Anmerkungen angedeuteten Assoziationen zusammengefasst: Zum Ersten die von Walter Benjamin bei Baudelaire festgestellte Identifikationsgestalt des „Verbrecherhelden“ mit im Ergebnis teils paradoxen moralischen Maßstäben und die im Pierrot manifestierte Identifikationsgestalt des von seiner Umwelt zu Grunde gerichteten, empfindsamen Künstlers; zum Zweiten die „Mischung aus Spitzweg und Poe“, also aus (feinsinniger!) ironischer Betrachtung des Spiessbürgertums und der bei seiner radikalen Negierung entstehenden Verwirrtheit; zum Dritten der „stilromantische“ Kosmopolitismus, der seine Nahrung u.a. aus den Weltausstellungen und der antiken Vergangenheit bezieht; zum Vierten die überwiegend anklagende, aber nicht sozialkritisch-aktionistische Auseinandersetzung mit dem sozialen Elend wie Prostitution (als Elend per se) und Armut als Feinde der Kunst und Schönheit sowie damit verbunden ein Hang zur Aristokratisierung mit katholizistischem Schwerpunkt und zum Fünften verschiedene Bezugsgestalten und -ereignisse der Philosophie, Geschichte und Kunst aus der Aufklärung, der Französischen Revolution und der Pariser Vergangenheit und Gegenwart.
Neben der äußeren Gestaltung lässt sich das Selbstverständnis dieser Kunstgemeinde weiterhin durch die Inhalte des oft zitierten Eröffnungsabends am 18.11.1881 verdeutlichen. Dazu muss vorher die Voraussetzung geklärt werden, unter der man in das neue Haus am Montmartre einzog.
Das ‚Cabaret artistique’ als das es postuliert wurde, ist zuerst abzugrenzen von den großen Vergnügungsstätten der Boulevards und seine vielschichtige Zusammensetzung aus Cafés chantant, Cafés concerts, Ausschank, Straßenmusik und freien Künstlergruppen. Außer den Cabarets reihten sich Revuen, Spektakelstücke, Entkleidungsorgien, Tanzabende, Kostümbälle verschiedenster Thematik, Salonabende usw. in die Suche der Vergnügungsdurstigen ein.[19]
Doch muss deutlich die Intention unterschieden werden, mit der Vergnügen gesucht wurde. Wie sich in der Beschreibung der Etikettenformen und des Selbstbildes der Chat-Noir-Mitglieder zeigen wird, gehörte das Chat Noir nicht dem beginnenden Konsumrausch im Sinne von Verschwendung und radikaler Entfeierung gesellschaftlicher Bindungen als Ausdruck eines elementaren Macht- und Wertewandels in der Gesellschaft. Es war nicht die laissez-faire-Haltung des ungebremst ausgelebten Kapitalismus und seiner kulturellen Auswirkungen in der Überlagerung von Fortschrittsglaube und Timokratie, die dem Besitz und seiner Verschleuderung das moralische Primat überließ - das Phänomen „Moulin Rouge“ - die gesucht wurde, sondern die Herrschaft des kreativen Geistes. Dass sich auch hier keineswegs schwarzweiß trennen läßt, ist selbstverständlich - auch die geschäftsführerischen Fähigkeiten Salis’ wurden erwähnt.
Das Chanson des Cabarets artistique lässt sich ebenfalls nicht gleichsetzen mit dem Chanson des Café-Concert, in dem auf einem Podest durch Coupletsänger, Komiker, Musiker u.a. zur Unterhaltung bei der gastronomischen Verpflegung beitrugen und die neuesten Gassenhauer, bei denen es meist um Vergnügen bei Wein, Weib und Gesang ging. Die Ausrichtung lag hier in der Belustigung der Massen, selbst zu Zeiten Boulangers, wo politische Satire um sich griff.
Dabei reichte die Spannweite von gutbürgerlichen Stätten mit gefeierten Diven und etablierten Schauspielerinnen wie Thérésa, bei denen die erwähnte Kunst der hintergründigen Gestik auch aus Gründen des Anstandes gepflegt wurde, bis zu kleinen Cafés-Chantants, die in ihrem Tingeltangel-Betrieb den fließenden Übergang zur Prostitution pflegten.
Die bei Richard (siehe Anmerkung 20) zitierte Definition eines französischen Wörterbuchs von 1975 (Trésor de la langue française), bringt die Andersartigkeit des Cabaret auf den Punkt: „kleine Lokalität mit Aufführung, wo man mitunter auch Mahlzeiten und Getränke zu sich nehmen und tanzen konnte“[20].
Der Grund, warum man diese Etablissements besucht, ist die Aufführung, nicht das Essen. Es entspricht der Herkunft des Begriffes cabaret für eine Versammlung von Literaten nach getaner Arbeit, dass mit „Aufführung“ eben nicht in erster Linie Massenunterhaltung gemeint ist.
Aus der vielschichtigen Vorgeschichte des Cabaret seien nur verschiedene Traditionslinien herausgestellt: Die Goguettes und Caveaus, kleinbürgerliche und proletarische Chansongesellschaften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, für deren Mitgliedschaft der Nachweis von musischem Talent gefordert wurde; die in der Französischen Revolution politisierten und im Second Empire wieder auflebenden Kaffeehäuser; die Bierlokale deutscher Art, in denen das mondäne Künstler- und Studentenleben, wie es Daudet und Murger beschrieben, lautstark gesucht wurde; und schließlich die Café-Kneipen und reinen Cafés mit spezifischen Ausformungen wie Mode-Cafés und Künstler-Cafés.
Es war dabei neben der Grundausstattung oft vom Zufall abhängig, welche Stammgruppe sich wo niederließ und damit das Etablissement prägte. Die Orte, denen das Chat-Noir nachfolgte, waren aber jedenfalls, wie die Brüder Goncourt es ausdrückten, „eine Schenke und eine Höhle lauter Großer ohne Namen“[21], Geburtsstätten der „Bohème“.
Der anfangs beschriebene Vorgang, bei dem sich die neureiche Bourgeosie aus den ihre Vorherrschaft verlierenden Salons in diese Brutstätten des Lebens drängten, um vorsichtig an verbotener Ausschweifung zu nippen, kam nun in den Augen dieser „Zigeuner“ ihrer Entwertung gleich.
Es gehört zur Tradition auch des Chat Noir, dass in der Massenunterhaltung, die gleichzeitig auch Demokratisierung der Kultur bedeutet, ein Angriff auf die Ehre der Kunst gesehen wird. Die Vorläufer des Chat Noir, etwa die Hydropathen, versammelten sich dementsprechend in Untergeschossen von Cafés, um die Reinheit der Kunst zu schützen. Abgesehen davon ist es der Eindruck von Subversivität und Alternativität, der auch nach außen hin gezeigt werden sollte - das hier aufscheinende Paradox von Abgrenzung und Öffentlichkeit bestimmt auch die Realität des Chat Noir.
Dazu gehörte auch die mythologische Selbsterhöhung, die man in erfundene Entstehungsgeschichten verpackte. Dabei sollte zum Einen der Anteil an Selbstironie nicht unterschätzt werden, zum Anderen jedoch ebenso nicht das daraus hervorgehende Dilemma: Man rekrutierte sich aus, von der elitären Académie her gesehen, unbekannten Künstlern, marxistisch gesehen, aus den unproduktiven Arbeitskräften der kapitalistischen Überproduktion, die in ihrer Masse z.B. als Unterhalter oder Repräsentanten nicht verwertet werden konnten und von den zentralen Kulturorganen ausgeschlossen wurden.
Daraus schöpfte man das Kritikpotential gegenüber den Etablierten. Da man aber gleichzeitig in der Bourgeosie die zu bekämpfenden Philister sah, neigte man sich dem Aristokratischen und dem Proletariat zu. Meist erschöpfte sich das in Äußerlichkeiten und Koketterien, wie etwa der Einsatz des Pariser Argot oder den an Militär und Académie orientierten Kostümierungen. Da aber die Aristokratie traditionellerweise in der Kunst mit der Académie verbunden war - und als Alternativen auch nunmehr ‚Académien’ gegründet wurden -, die zu bekämpfende Massenunterhaltung ihre Grundlage gerade durch den Konsum des Proletariats bekam und schließlich das Bürgertum überwiegend die finanzielle Grundlage für das ‚freie Künstlertum’ bot, ergibt sich hier ein charakteristischer Kreis der Orientierungen, der Ursprung für viele Widersprüchlichkeiten ist.
Es sind hier in den Ansichten viele feine Abstufungen zu sehen, so etwa zwischen aristokratisch und Aristokratie (Sympathie zu aristokratische Formen muss nicht Sympathie zur Aristokratie heißen), zwischen Zuschreibung und Realitätsnähe (gerade Philister ist ein Begriff von oft klischeehaftem Inhalt), die die mühsame Trennung von äußerlicher Repräsentation und tatsächlicher Realität des Repräsentanten erfordert. Auch die anfangs angedeutete Heterogenität der Künstlergruppen und ihrer Provenienz ist dabei zu bedenken.
Nachdem Salis nun 1881 auf der Suche nach einem geschäftlichen Zugpferd für sein Etablissement eher zufällig auf Goudeau getroffen war und beide im Grand d’Pinte (heute Auberge du clou) die gemeinsame Eröffnung des Chat-Noir beschlossen hatten, strömten die bisherigen „Hydropathen“ und Weitere am 18.11. in den kleinen Saal und schworen sich: „[...] diese Herberge sollte nicht den Philistern ausgeliefert werden, Künstler und Sänger würden die Kundschaft bilden.“[22]
„Jean Moréas, der griechische Poet, erklärte in seinem Toast, Montmartre, ein zweiter Helikon[23] hätte den Hufschlag des Pegasus[24] empfangen, der die heilige Quelle hervorgezaubert. Die Musen nahten im Tanzschritt dem Ufer und diese demi-vierges würden in den Strömen des kühlen blonden Nass die Frische ihres Teints verjüngen.“[25]
Ihr publizistisches Organ wurde das kurz darauf gegründete Journal „Chat Noir“, dessen Redakteur Goudeau wurde und das bis zum Ende des Cabarets (1897) bestand, „in welchem in Wort und Bild die Idee von Montmartre verkündigt wird, dem „Gehirn der Welt“, der „granitnen Brust“, an der die Völker der Erde sich laben kommen“.[26]
Das Manifest von Rodolphe Salis lautete: „Wir werden politische Ereignisse persiflieren, die Menschheit belehren, ihr ihre Dummheit vorhalten, dem Mucker die schlechte Laune abgewöhnen, dem Philister die Sonnenseite des Lebens zeigen, dem Hypochonder die heuchlerische Maske abnehmen, und um Material für diese literarischen Unterhaltungen werden wir lauschen und herumschleichen, wie es nachts die Katzen auf den Dächern tun.“[27]
Dementsprechend bildete sich der Kodex der Gemeinschaft, wie ihn Pierre d’Anjou beschreibt: „Im „Chat noir“ empfahl man uns „wellenförmig und vielfältig“ zu sein. Wir waren wellenförmig, obschon Feinde des Wassers, und vielfältig, das heißt nacheinander oder sogar gleichzeitig: lyrisch, realistisch, melancholisch, satirisch, ernst, seiltänzerisch, mittelalterlich, fin de siècle, Zeitgenossen Pindars[28] und der Pompadour[29], republikanisch, aristokratisch, chauvinistisch, anarchistisch, pariserisch, provinzlerisch, exotisch, ungarisch, Bewohner des Morvan[30] oder der Bretagne [...]“[31]
Stellte für viele Mittellose diese informelle Gemeinschaft oft die einzige Basis zur Überlebenssicherung und Quelle von Anerkennung dar, großartig waren die Geschichten, die ihre ‚eigentliche’ Grundlage darlegten: „Es gibt auf dieser wunderlichen Erde einen höchst seltsamen Ort. Rätselhaft klingt schon sein Name: Montmartre ist er genannt. Gewisse Archäologen behaupten, daß hier die eigentliche Heimat, die Wiege der Menschheit zu suchen sei. Denn Montmartre - das heißt nichts anderes als Mont Ararat oder Mont m’arrête - jene Stelle, wo nach der Sintflut Noah mit seiner Arche anlegte. Hier wurde die erst Stadt der Welt gegründet - lächerlich scheint es, Theben, Ninive oder Babel in einem Atem zu nennen -,und noch heute ist sie in Wahrheit die Metropole, das geistige Centrum des Universums. Alles andere ist Provinz, Paris nur der erste vorgeschobene Posten, der voll Neugier immer näher herangerückt ist und dessen hohe Türme und Gebäude nichts weiter sind denn Beobachtungsstationen, von denen man nach dem Gipfel des Berges visiert.“[32]
Diese Art der Verklärung war spätestens seit Murgers „Scènes de la Vie de Bohème“ (1847-1849) Hauptton der Selbstbetrachtung, auch wenn die Gegendarstellungen, ob bei Michael G. Conrad („Das Elend ist nirgends lustig, der Hunger nirgends kreuzfidel, der leere Magen nirgends ein unermüdlicher Souffleur entzückender Bonmots [...]“[33] ) oder bei den Realisten wie Zola, auch von Künstlern stammen.
Hier ist aber die angesprochene Trennung von Repräsentation und Repräsentant anzusetzen. Balzac etwa schrieb über diese Art der Subkultur: „Diese Bohème hat der Gesellschaft nicht den Rücken gekehrt, sondern erwartet und sucht die Chance des Aufstiegs [...]“[34] Marx leitet sie her aus dem Lumpenproletariat, das die Privatarmee Louis Bonapartes bildete: „Neben zerrütteten Roués mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen [...]“[35]
Die schon angedeutete Herkunft einer großen Anzahl an ‚freien Künstlern’ aus dem Überschuss eines übersättigten Kunstmarktes ist aber als Absolutheit anzuzweifeln, denn bei genauerer Betrachtung etwa des Chat Noir ergibt sich die Perspektive einer beidseitigen Durchlässigkeit. Es zwang niemanden den Polizeipräfekten, sich regelmäßig ins Cabaret zu gehen und mit seinem Beifall zu Spottliedern auf die Polizei die Struktur zu negieren, die er selbst vertritt. So sehr dies auch als Varianz in einem festgefügten Machtsystem gesehen werden kann, was angesichts der damaligen Situation in Paris allerdings fragwürdig ist, geht es doch gerade um Kunstausübung, die aus Varianzen scheinbar undurchlässiger Bevölkerungsschichten entstehen.
Stellt man beispielsweise den ehemaligen Rollkutscher Bruant und den Fabrikantensohn Salis gegenüber, so lassen sich leicht vorrangiges Interesse am Lumpenproletariat bzw. vorrangiges Interesse am Aristokratischen sehen. Beides begründet sich jedoch auf der ostenativen Ablehnung der philistren Bourgeosie, deren Plattform jeweils die gleiche war. Dass diese Plattform aber letztlich in ihrem Dasein eine zutiefst bürgerliche Einrichtung mit gleichem administrativem und ökonomischem Rahmen wie jede andere war und zudem durch ihre Existenz die jeweiligen Künstler, zumindestens zeitweise, aus der vorherrschenden Situation des Lumpenproletariats herausholte bzw. davor bewahrte als gleichsam soziales Netz mit informellen Absicherungen, gibt der Bohème eine andere Ausrichtung:
Als Gemeinsamkeit der Bohème lässt sich nicht ihre Herkunft aus den unterprivilegierten Schichten bzw. ihre kreative Überwindung dieser Situation sehen, sondern eine, in sich natürlich nicht völlig integre, Zweckgemeinschaft, die besser für die Grundbedürfnisse ihrer (nicht ins kapitalistische Arbeitswesen eingebundenen) Mitglieder sorgen kann, als diese selbst oder auch als das schwache Gesundheitswesen der Stadt, und die große Anstrengungen unternimmt, um diesen Status zu legitimieren. Dass es dabei an Bedeutungszuschreibungen kaum Grenzen gibt, ist aus den zeitgenössischen Äußerungen leicht ersichtlich.
Die Besonderheit des Chat Noir lag nun darin, die gewollte Überwindung finanzieller Zwänge bei der Ausübung der Kunst in besonderem Maße ermöglicht zu haben. Das hängt insbesondere mit den Fähigkeiten von Salis zusammen, der es verstand, erfolgreiche Geschäftsführung und tatsächlich ‚freies Künstlertum’ ohne ausdrückliches Mäzenentum oder verpflichtende Subventionierung durchzuführen.
Über die innere Fügung geben Zeitgenossen aufschlussreiche Auskunft. So spricht George Auriol[36] von der „Schule des Chat Noir“: „Ich sage die ‚Schule’ des Chat Noir, und ich bleibe dabei, nicht wie man sagt die Schule von Barbizon[37] für die Maler oder diejenige von Arcueil für die Satelliten des köstlichen Erik Satie, um Gruppierungen mit ähnlichen Tendenzen zu etikettieren. Ich gebrauche das Wort ‚Schule’ im eigentlichen Sinn.“[38]
Noch interessanter ist dazu Contamine de Latour[39]: „Diejenigen, die das Chat Noir zu dieser Zeit nicht gekannt haben, können nicht ahnen, welch berühmtes Lokal es gewesen ist. Es hat nichts von dem, was man heute ‚boîte de Montmartre’ nennt. Der Stil war sarkastisch, schlagfertig, überschritt aber nie gewisse Grenzen. Wenn man Kunstpäpste aufspießte, so geschah es im Namen der Unabhängigkeit der Kunst; wenn die Kellner die Tracht der Mitglieder der Académie Française trugen, so fügten sie keinen Klimbim hinzu, um sie lächerlich zu machen, wie es später der Hauptmann Lisbonne und der Académicide Tournadre taten. Man machte sich über Leute lustig, man führte sie an der Nase herum, aber ohne ihnen lästig zu fallen. Im Gegenteil, man hielt sich an eine amüsante Etikette. Ein prächtiger Schweizer kündigte die Gäste mit drei Schlägen seiner glänzenden Hellebarde an, Rodolphe Salis ging ihnen entgegen und titulierte sie feierlich mit Gnädiger Herr und Edle Dame.“[40]
Tatsächlich wird das Chat Noir und dabei speziell Salis als Initialzündung neuer Talente angesehen, die in die Gemeinschaft aufgenommen werden, sich darin bewähren und schließlich in die Welt hinaustreten. Das schon angesprochene Legendenhafte dieses Cabarets bestand in dieser ‚Erziehungsfunktion’.
Zum Anderen wirft de Latours Aussage wenigstens ein kleines Licht auf die Grundlage der Autonomie des Hauses. Es ist eine gewisse Form von Respekt vor denen, die die finanzielle Grundlage geben konnten, anders gesagt, die geschäftstragende Doppelmoral, die sich in Salis als satirisch gegen das Kapitalbürgertum vorgehendem Geschäftsmann widerspiegelt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Etablissements, wie dem „Mirliton“ von Bruant, war die Situation für eventuell eintretende ‚Geldgeber’ nicht die eines waghalsigen Abenteuers, nicht eine Reise in der Geisterbahn, wo alle Gruselgestalten aufmarschierten, allen voran der pöbelhafte Chansonnier, der einem ins Gesicht schrie und alles, was man darstellte verhöhnte.
Was Bruant geschaffen hatte, war tatsächlich das „Gruselkabinett des Legras“, von dem Zola in seinem Roman „Paris“ spricht. Dieses ist jedoch nicht als Stätte der Ausbeutung der Bourgeoisie zu sehen, Bruant hatte nicht im Griff, was er tat, sondern die Konfrontation mit der größten Angst, die ein Bourgeoise im damaligen Paris hatte, nämlich die vor dem entfesselten Proletariat, wurde von Bruant inszeniert, zelebriert, aber nicht ausgeführt. Er und all die anarchistischen ‚Cabarets’, die den Montmartre nach und nach füllten, erfüllten für die betuchten Besucher die Funktion des Vorfühlens, des Austestens dieser Angst, das morbide Interesse am Erleben an der eigenen Dekadenz trieb das Bürgertum dahin. Solange diese Erwartung erfüllt wurde, zahlten sie auch.
Im Chat Noir, so scheint, zahlte man, weil man alles haben konnte: Angenehme Freizeitgestaltung, Repräsentation und Abenteuer.
De Latour schildert die Szene, die für das Chat Noir üblich war: „[...] neben Chansonniers wie Mac-Nab, Xaproff, Victor Meusy, Jules Jouy, die außer dem letzten keine Professionellen waren, deren Schmiß aber nie überboten worden ist, kam eine Menge langhaariger Ästheten, zukünftiger Literaten, unwahrscheinlicher Gelegenheitsmaler, Bohemiens von einem Typ, den es nicht mehr gibt, dorthin. In den dichten Wolken des Pfeifenrauchs gab es an den Tischen voller Seidel[41] erregte Diskussionen, in denen man sich gegenseitig den Abscheu vor dem Banalen, Konventionellen, den Klischees bestätigte, wobei mancher gute Ruf aufgebaut und wieder zerstört wurde, und in denen sich die kühnsten Theorien auftürmten. Jeder überbot den anderen, um noch fortschrittlicher zu erscheinen. Aber das ganze war temperamentvoll, enthusiastisch und verschwenderisch.“[42]
Hinzuzufügen ist noch die Ausstaffierung der Kellner, die in Rokoko-Kniehosen, taillierten Schoßröcken, Schnallenschuhen, gepuderten Perücken und Zweispitz herumliefen.
Nach der Ersteröffnung dauerte es nur wenige Wochen, bis weit über tausend Mitglieder das Chat Noir besuchten. Die Folge waren bunt durcheinandergehende Debatten und unendliche Abfolgen von Rezitationen. Es bildeten sich mehrere kleinere Gruppen, etwa der Kreis um Charles de Sivry, einem Schwager von Verlaine, in denen über Dichtung und Musiker diskutiert wurde und in dem der bekannte Chansonnier Maurice Donnay humoristische Stegfreiffabeln von sich gab. Erzählt wird auch von Debussy, der einen Chor mit der Blechgabel dirigierte.
In der Anfangszeit sang auch Bruant hier, neben den schon erwähnten Chansonniers, die nur selten nur Chansonniers waren. Dabei gab es keine festen Programme, sondern gerade entstandene Verse und Chansons, alte Volkslieder in freier Abfolge, wobei Salis oft als Conferencier brillierte. Dabei hatte jeder seinen eigenen Stil entwickelt, Mac-Nab sang aus seinen Erfahrungen als Polizist, Xanrof beschrieb Sittenbilder aus dem Pariser Leben, Jacques Ferry sang als Witzbold der Gemeinschaft am liebsten schräg.
Ein bekannter Höhepunkt, der auch im Wesentlichen die Einzigartigkeit im künstlerischen Sinne ausmachte, war das Schattentheater im zweiten Stock. Die gezeigten Werke zeichneten sich durch ausgefeilte Abläufe und Entwicklung von Perspektive aus, am annerkanntesten in ihrer Gestaltung war Henri Rivière, als Komponist und Texter betätigte sich u.a. Georges Fragerolle, während Salis als Sprecher hinzutrat (seine Paraderolle, das sei auf Grund der Charakteristik erwähnt, war Napoleon Bonaparte).
Bevor das Chanson als künstlerisches Mittel näher betrachtet werden soll, muss die Frage der Besucher behandelt werden. Es ist in einem Etablissement, das anders als Konzerthäuser oder ähnliche Einrichtungen nicht auf die Dokumentation seiner Besucher - schon aus Gründen der Buchführung - ausgerichtet ist, nahezu unmöglich, sich Besucherstrukturen anders als ebenso informell, wie sie entstehen, zu rekonstruieren. Als Ansatzpunkt können nur Beschreibungen und Bilder dienen.
Es gab im Chat Noir freien Eintritt, nach und nach angehoben wurden jedoch die Getränkepreise (ohne Zweifel war Salis eigene Destillation dem Geschäft sehr einträglich), Werbung fand über das Journal statt. Hinweise auf das Publikum gibt Klossowski: „Nimmt man dazu den glänzenden Aufschwung, den die chanson an dieser Stätte erlebte, wo die Stimme der Leidenschaft mit einer zärtlichen Romanze, das prasselnde Feuerwerk diabolischer Ironie mit dem Notschrei des Elends wechselte; wo Salis selbst, unerschöpflich, unermüdlich seine groteske suada über das Publikum ergoss, das so oft, wenn nicht ein Parkett von Königen, so doch europäischer Elite bildete; diese von Witz, Laune, Geist und Übermut geschwängerte Atmosphäre, die von Hirn zu Hirn übersprühenden Funken, die gegenseitige Erregung, das Verlangen, mit dabei zu sein, die Fascination der bunten, excentrischen Umgebung: so hat man das Milieu, in dem diese künstlerische Jugend sich ihre Impressionen, ihre Stimmungen, ihre Ideen und Vorstellungen holte.“[43]
Ein weiterer Hinweis liegt in einer Zeichnung, die Paul Merwart 1886 vom Festsaal in der Rue Victor Massé anfertigte. Sie zeigt an Personen (zu den bekannten folgen Informationen in den Anmerkungen): Francisque Saray, Félia Litvinne[44], Marguerite Syamour-Gagneur[45], Paul Merwart[46], Mac-Nab, Auguste Holmès, Ernest Renan[47], Rodolphe Salis, Henri Rochefort[48], Clovis Hugues[49], Coquelin Cadet[50], Edmond Silvester, Alphonse Daudet[51], Emile Zola, Juliette Adam[52], Albert Wolff[53], Caroline Dusan, Ferdinand de Lesseps[54], General Boulanger, Reichemberg, Coquelin ainé[55].
So sehr in Zweifel gezogen werden muss, ob diese Szene so geschehen ist, zieht man beide Quellen zusammen, so ergibt sich ein klares Bild: Im Chat Noir versammelten sich Größen aus den Bereichen der Politik, Kunst und Philosophie, wobei sich unter der politischen Orientierung vom radikalen Nationalisten bis zum gemäßigten Republikaner alles vertreten ist.
So fasst es auch Cœuroy zusammen: „Aber diese Schule (des Chat Noir) hatte nicht das Volk zu Schülern, sondern ausschließlich das ‚Tout Paris’, die mondäne Pariser Gesellschaft. Dort bildete sich wieder ein Kunst- und Literaturstil, sehr kostbar, aber ohne Ausstrahlung auf die Nation, wie früher in der Brasseries des Martyrs der Parnassiens, im Haschischclub Baudelaires und in der Impasse du Doyen von Gérard de Nerval und Théophile Gautier. Das alles sehr anziehend, sehr subtil und sehr französisch, aber nur für Schriftsteller, Maler, Musiker, gebildete Bürger.“[56]
Schließlich bleibt noch, an Hand eines der verwendeten künstlerischen Medien das Bild weiter zu vervollständigen, und zwar am Beispiel des Chansons. Dieses hat als Markstein der französischen Geschichte von einer derart komplexen Herkunft, dass selbst von einer Skizze Abstand genommen werden muss. Auch auf die Bandbreite seiner Thematiken im vorliegenden Betrachtungszeitraum einzugehen, ist nur sehr unzureichend möglich. Vielmehr ist es seine musikalische Substanz, die in Augenschein genommen werden soll.
Nur soviel sei zum Hintergrund gesagt: Durch seine Spontanität und enge Bindung an den Chansonnier, der oft Dichter, Komponist und Darsteller in Einem ist, ist das Chanson eng an seine direkte Umgebung gebunden. Sein Wert als künstlerische Form liegt in dieser Eingebundenheit, indem es selbst wieder direktes Abbild seiner Bedingung ist.
Als solches erscheint es in seiner Geschichte unter verschiedensten Funktionen: Als Mitteilungsmedium bei den Troubadours, als gesellschaftskritisches Spottlied bei François Villon, als emotionelles Aufputschmittel in der Französischen Revolution, als Massenunterhaltung in den Cafés-concerts. Es ist ein Spezifikum des Chansons, niemals nur eins dieser Elemente zu beinhalten; als größtenteils spontan entstehendes Massenprodukt - in Massen, nicht unbedingt für Massen - zeigt es ein erhebliches Maß an Ausdruckflexibilität.
So ist die Prinzipienlosigkeit, die den Rest der Programme prägte, ihre Heterogenität, was Anspruch und Publikum anging, das ewige Schwanken der Themen und Positionierungen auch in der musikalischen Gestaltung wiederzufinden, ebenso wie bestimmte Kernbereiche, die ihre Quellen bieten.
Die Musik ist, wie es sich aus dem synkretischen Kunstverständnis von selbst ergibt, von den anderen Künsten nicht zu trennen. Ebenso wie die anderen Bereichen setzte sie sich aus verschiedensten Quellen zusammen: Das klassische Orchester - ohne die romantische Ausweitung des Instrumentariums - wurde geführt von einem Konzertmeister, der teilweise mit dem Klavierkorrepetitor identisch war, der wiederum hauptsächlich die Begleitung der Chansons übernahm.
Wie auch bei den Chansons war der musikalische Inhalt stark vom Komponisten und seiner Vorbildung abhängig. So schrieb etwa Georges Fragerolle als Texter von Laterna-magica-Aufführungen zu einem Drama über die biblische Parabel vom verlorenen Sohn, in der auch Figuren der Commedia dell’arte wie der Pierrot auftraten, karikierende, brüske Modulationen und vulgäre Wendungen, die von einem verstimmten Klavier gespielt wurden. Oft entstanden, wie bei Satie und Debussy zu beobachten, in diesem Umfeld Einflüsse, die als Grundlage der klassischen Moderne gesehen werden können (in diesem Zusammenhang sei auch an die Auseinandersetzung Schönbergs mit dem Pierrot lunaire von Renaud erinnert).
Durch seine musikgeschichtliche Herkunft aus den Cafés-concerts war die Musik in den Cabarets an deren Quellen gebunden: Operettenrefrains (Offenbach), Gassenhauer, Schlager. Neben der Verbreitung durch die Straßenmusik waren es die Massen an sogenannten „Sociétés chantantes“ (Singgesellschaften, Liedertafeln), in Tradition der schon erwähnten Goguettes, die nicht selten in Zechgelagen ausarteten und dementsprechend oft das Essen und Trinken thematisierten. So gab es 1857 ungefähr 500 solcher Sociétés, die sich badines, bachiques, chantantes und littéraires nannten.
Ein weitere wichtige Quelle, vor allem für die Begleitungsformen, waren die verschiedenen Tanzstile, die Paris im 19. Jahrhundert bewegten: Walzer (Dreiertakt mit schwerer Eins), Polka (Zweiertakt mit Sechzehntelauftakt und unterteilter Zwei), Quadrille (ursprünglich Doppelpaar-Tanz mit bis zu fünf Touren), Furiant (häufiger Taktwechsel zwischen Zweier und Dreier) und Galopp (häufig punktierter Zweiertakt), letzterer als Pariser Galopp vor allem als Cancan oder Chahut bekannt.
Während der Walzer noch vom 18. Jahrhundert her bis in die 20er Jahre alleinige Zustimmung fand, erlebte die Polka Anfang der 40er in Paris (über Prag) eine überwältigende Zusage, die sogar zu seiner Bestimmung als französischer Nationaltanz führte; eng damit verbunden ist die Einführung des schnelleren Furiant. Die Quadrille ist ein seit dem Mittelalter verbreiteter Tanz, dem auch noch nach seiner Loslösung aus dem fürstlichen Umfeld immer etwas Höfisches anhaftete - z.B. der erst in Paris und ab 1870 in Berlin verbreiteten Quadrille à la Cour.
Der Galopp schließlich taucht außer in Tanzlokalen und -sälen ebenso häufig in Pariser Operetten und sogar Opern auf - z.B. in Aubers Maskenball - war aber vor allem Gegenstand der Umarbeitung bekannter Melodien. Übergreifenden Eigenwert erhielt er als Cancan nach seiner ‚Neuerfindung’ in Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“. Der Cancan ist durch seine vielschichtige Geschichte in seinem Komplex aus Affentanz des Komikers Masarié, Import von Soldaten aus algerischen Häfen erst in die Pariser Vororte, dann in bürgerliche Ballsäle, Gegenstand polizeilicher Verbote, Verlagerung in Varietés und schließlich Baletteinlage in Operetten, Opern und Filmen eine wichtige Quelle für die Suche nach dem Unakademischen.
Letzteres wurde im Zuge der Art Nouveau in einer starken Affinität zur Gebrauchskunst umgesetzt. Gewünscht war alles, was unvergeistigt, direkt und emotionell hervorgebracht wurde. Das fand man in Plakaten, in Bühnenmalerei, in Karikaturen, in Stegfreifversen, im Argot und eben auch im Chanson.
Cocteau fasst in „La Jeunesse“ dieses Bedürfnis in Bezug auf den Montmartre zusammen mit: „Gerettet durch Montmartre! Gerettet durch Witzeleien. Witzelein sind nicht meine Stärke. Aber ich mag auch keine Medikamente. ein schweres Leiden bedurfte jedoch eines starken Mittels, und Witzeleien waren das einzige, was einen Menschen aus dem Geist sublimer Künstlichkeit herausholen konnte.“[57]
So versuchte man sich auch in der Musik vom Akademischen abzusetzen. Gerade den Pathos der Wagneriana galt es zu überwinden, etwa bei Jean Huré[58]: „Ich liebe die kleinen Melodien des Café-concert mehr als jene großen, mühsamen, schweren, sehr schlecht gemachten Sinfonien, die man heute durchweg hört, und denen man in gewissen Kreisen Dank dafür weiß, daß sie langweilig und häßlich und abstoßend sind. Die kleinen Melodien des Café-concert dagegen sind sehr gut gemacht - meistens jedenfalls -, mit ausgezeichneter musikalischer Technik [...]“[59]
Nicht zuletzt als Anachronismus, ebenso aber auch aus dem Katholizismus der meisten Künstler heraus, wuchsen viele der Melodien aus dem Vorbild der Gregorianik. Teilweise in der Neogregorianik zur Mode stilisiert, war es die Kindheitsschule der französischen Passionslieder, die da nachwirkte. Zu denken ist zum Beispiel an das hoch gefeierte Gemälde von Willette, das mit dem Titel „Parce Domine“ Bezug nimmt auf das Antiphon „Parce, Domine, parce populo tuo: et ne claudas ora canentium te, Domine“ aus Joel 2, 17, das zum Aschermittwoch intoniert wird. Nur kurz ist in diesem Zusammenhang auf die Parallelität zwischen dem noch heute im Fernsehen übertragenen „Aschermittwoch der Künstler“, der aus Frankreich stammt, und der fin de siècle-Aussage des erwähnten Bildes zu verweisen.
Abschließend ist noch der spätestens seit der Weltausstellung 1889 einziehende Exotismus einzubeziehen, da der dortige Auftritt des Gamelan-Orchester aus Bali, sowie der königlichen Tänzerinnen aus Kambodscha mindestens oberflächlich auf die Rhythmik, Harmonik und im Bereich des Tanzes auf die Gestik und Mimik der diese Einflüsse begierig aufnehmenden Künstler gehabt hat.
Es lässt sich schwer sagen, was das Chat Noir zurückließ, als es mit Salis’ Tod 1897 geschlossen wurde. Zu diesem Zeitpunkt repräsentierte es eine Mittelstellung zwischen gesellschaftlicher und kultureller Elite und künstlerischen Ausdrucksformen, wie vordem kaum mehr als subkulturell vorhanden waren.
Ihm deswegen sozialreformerische Qualitäten zuzusprechen, wäre unangemessen. Wohl aber ebnete sich hier ein weg, der das 20. Jahrhundert in kultureller Hinsicht einige traditionelle Schranken kostete, die in den Jahrhunderten davor fein säuberlich aufgestellt worden waren.
Indem nach außen hin die Unantastbarkeit und Hochherrschaftlichkeit der Kunst in unzähligen Publikationen und Werken dargestellt wurde, gestattete man durch die Einbeziehung dessen, was man als „unakademisch“ empfand, was aus Bereichen stammte, die von ‚Kunstsinnigen’ vorher kaum als Kunst bemerkt wurde. Die folgende Zeit der klassischen Moderne in Kunst und Musik, hat auf diese Entwicklung immer wieder zurückgegriffen, hat sich auf sie als eine ihrer Hauptquellen berufen.
Blickt man auf dieses Phänomen des frühen Cabarets am Montmartre, ergibt es sich als weiterer Baustein für die ‚Bourgeoisierung’ der Welt. Zwar ist die große Zeit des ‚freien Künstlers’ in dieser Enklave der finanziellen Unabhängigkeit - die nach den Gesetzen des Marktes erkauft worden war - zu diesem Zeitpunkt schon lange vorbei, doch zeigten sich in ihr die Bedingungen, unter der etwas wie eine uneingeschränkte Existenz als ‚Künstler’ möglich wird: Nicht die Brüskierung, die Herabwürdigung, die Konfrontation mit dem ‚Bürger’ ermöglichte es, außerhalb seiner funktionalen Netze künstlerisch tätig zu sein, sondern im Gegenteil, sich mit ihm zu arrangieren, Zugeständnisse an die Rahmenbedingungen zu machen, ihm als Künstler zu begegnen mit dem Respekt, der ihm als ökonomisch Überlegenen gebührt, brachte - von der Kunst aus betrachtet - den größeren Erfolg.
Eine Bewertung der künstlerischen Ergebnisse unter diesen oder jenen Strategien vorzunehmen, ist bei Gebrauchskunst müßig, da diese darauf ausgelegt ist, sich den momentanen Bedürfnissen des Publikums anzupassen, selbst wenn das Publikum selbst auch Künstler ist. Die Diskussion, ob insofern jede Kunst grundsätzlich, wenn auch nicht nur Gebrauchskunst ist, ist hier nicht zu führen.
Als Erfolg ist hier zu werten, dass das Chat Noir im Gegensatz zu den anarchisierenden Nachfolgern, die mit ihrem Davonstreben vom bürgerlichen Zentrum sich funktional nur enger an sie banden, letztlich das sein konnte, was es sein wollte: Eine frische Quelle für die ermüdeten Musen, die das Ende des Jahrhunderts überwanden und ein neues begannen - une belle epoque.
Quellenverzeichnis
Brockhaus’ Konversations-Lexikon, Band 12 (Moria-Pes), Leipzig: Brockhaus, 141908.
Condemi, Concetta: La chanson de café-concert en France (1848-1920). Censure et liberté d’expression d’un loisir de masse. In: Schneider, Herbert (Hrsg.): Chanson und Vaudeville. Gesellschaftliches Singen und unterhaltende Kommunikation im 18. und 19. Jahrhundert, (Schriften der saarländischen Universitäts- und Landesbibliothek, Band 6), St. Ingbert: Röhrig UniversitätsVerlag, 1999, 233-260.
Courthion, Pierre: Paris. Geschichte einer Weltstadt, Paris: Aimery Somogy, 1974.
Hanke, Helmut: Yvette Guilbert. Die Muse vom Montmartre, Berlin: Henschel, 1974.
Hirsbrunner, Theo: Claude Debussy und seine Zeit, Laaber: Laaber, 2002.
Hösch, Rudolf: Kabarett von gestern nach zeitgenössischen Berichten, Kritiken und Erinnerungen. Band I 1900-1933, Berlin: Henschel, 1967.
Klossowski, Erich: Die Maler vom Montmartre, Berlin: Bard, Marquardt & Co., 1903.
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15 (Öhmichen bis Plakatschriften), Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 61906.
Müller, Hans Carl (Hrsg.): Lieder vom Montmartre, Berlin: Rütten & Loening, 1958.
Otto, Rainer und Walter Rösler: Kabarettgeschichte. Abriß des deutschsprachigen Kabaretts, Berlin: Henschel, 1977.
Richard, Lionel: Cabaret Kabarett. Von Paris nach Europa, Leipzig: Reclam, 1993.
Rolland, Romain: Paris als Musikstadt, (Die Musik. Sammlung illustrierter Einzeldarstellungen, hrsg. von Richard Strauss, Band 11), Berlin: Bard, Marquardt & Co., o. J.
Rösler, Walter (Hrsg.): Aristide Bruant - Am Montmartre. Chansons und Monologe, Berlin: Henschel, 1986.
Wehmeyer, Grete: Erik Satie, Regensburg: Gustav Bosse, 1974.
Wittkop, Gabrielle und Justus Franz: Paris. Prisma einer Stadt, Zürich. Atlantis, 1978.
[...]
[1] Schneider 1999, 233-260.
[2] Romain o.J., 55.
[3] Klossowski 1903, 2.
[4] Klossowski 1903, 7.
[5] Oft zitierter Ausspruch von Baudelaire: „Passant! sois moderne!“ Wahrscheinlich hieß es so auch im Chat Noir.
[6] Bekannteste mythologische Skulptur von Jean-Antoine Houdon (1741-1828), französischer Porträtskulpteur des Rokoko, der wegen seiner hohen Technik der lebendigen Darstellung religiöser, mythologischer und zeitgenössischer Figuren mit verschiedenen Materialien als einer der größten Künstler seines Metiers gilt. Zu seinen Modellen gehörten Voltaire und Rousseau, er verkehrte viel in aristokratischen Salons. Seine Ausbildung erhielt er an der Académie Royale.
[7] Die Schweizer Gardisten sind seit 1505 (Papst Julius II.) für den persönlichen Schutz des Papstes verantwortlich. Ihre Uniformen werden auf Michelangelo zurückgeführt.
[8] Adolphe Willette (1857-1926): Zeichner, Illustrator und Schriftsteller des ‚fin de siècle’. Eine der Hauptgestalter im Chat Noir.
[9] Wappenzeichen des französischen Königshauses der Bourbonen (u.a. Ludwig-Linie).
[10] Zentrale Symbolfigur des Fin de Siècle nach dem Mimen Jean-Gaspard Debureau (1796-1846), einer der berühmtesten Pierrots als Baptiste, Gestalt des Perino aus der italienischen Commedia dell’arte. Als melancholischer Spaßmacher bei Baudelaire „le vrai pierrot actuel, le pierrot de l’histoire moderne“ (Baudelaire: Oeuvres complettes, Paris 1961, S. 909). Er versucht die Feindlichkeit und Gleichgültigkeit seiner Umwelt durch Dandytum und geistreiche Ironie zu bewältigen, wofür er gleichermaßen geliebt und gehasst wird. Verbunden mit verschiedenen Farbsymboliken wie Weiß / Mond / Reinheit, Klarheit sowie Rot / Blut / Liebe und Tod.
[11] Bekannter Bürgerball vor der Stadt, beliebtes Objekt für Maler (z.B. Renoir, Toulouse-Lautrec, Steinlen, Picasso).
[12] Einer der apokalyptischen Reiter, nach Jean Colombes Darstellung in den „Très riches heures du duc de Berry“ (angefangen von den Limbourg-Brüdern um 1400, von Colombe 1485 beendet) oft der Krieg in rotem Gewand.
[13] Häufiges Motiv, meist Bezug zu Adonis, der nach einer Entscheidung von Zeus ein Drittel des Jahres mit Persephone, Königin der Unterwelt und ein Drittel mit Aphrodite zubringen sollte und in seiner ‚Freizeit’ zu einem begeisterten Jäger wurde.
[14] Théophile Steinlen (1859-1923): Maler, Zeichner und Skulpteur, einer der Hauptgestalter des Chat Noir, vor allem im gleichnamigen Journal.
[15] Eugène Grasset (1841-1917): Zeichner, vor allem als Gestalter von Art Nouveau-Postern bekannt.
[16] Der schwarze Kater stammt zum Einen von einem nicht genau belegtem Tier, das im ersten Domizil lebte, als Salis es mietete, zum Anderen von Poes Kurzgeschichte „Der schwarze Kater“, die Salis illustriert hatte. Darin beschreibt ein empfindsamer Mann, der durch Alkoholismus zum Gewalttäter wird, seinen Mord an einem geliebten Kater, sowie dessen Nachfolger, der als Mahnmal des Verbrechens schließlich einen Affektmord des Erzählers an seiner Frau entlarvt. Zum Symbolgehalt gehört aber ebenso die Funktion als Begleittier von Osiris und Wächter der Unterwelt bei den antiken Ägyptern und die Eigenwilligkeit / Nichtdressierbarkeit der Katze.
[17] François Villon (1431- nach 1463): Einer der größten französischen Poeten, Dichtung von Balladen, Chansons und Rondeaux, wegen verschiedener krimineller Exzesse im mittelalterlichen Paris häufig inhaftiert.
[18] Klossowski 1903, 8f.
[19] Das Begriffsdurcheinander, das in Bezug auf diese Vergnügungs- und Gastronomiestätten herrschte und herrscht - von Richard 1993 ausführlich behandelt - erschwerte und erschwert es, Etablissements dahingehend von vornherein einzuordnen.
[20] Richard 1993, 12.
[21] Lemaire, Gérard-Georges: Les Cafés littéraires, Verlag Adrien Maeght, Paris 1989, 14, zit. nach Richard 1993, 20.
[22] Klossowski 1903, 5.
[23] Helikon: Bergkette in Boeotien, Griechenland; in der klassischen Literatur als Lieblingsort der Musen gefeiert.
[24] Pegasus: in der griechischen Mythologie geflügeltes Pferd, das aus dem Blut des von Perseus abgeschlagenen Kopfes der Medusa entsprang. Als häufiges Motiv in der griechischen Literatur steht es für die Unsterblichkeit der Seele, in späterer Zeit für poetische Inspiration.
[25] Klossowski 1903, 5.
[26] Klossowski 1903, 5.
[27] Hösch 1967, 19.
[28] Pindaros: 518/522 v. Chr. (Cynoscephalae, Boeotia, Griechenland) - ca. 440 v. Chr. (Argos); größter lyrischer Poet des antiken Griechenland vor allem von Siegeshymnen der Pythischen, Olympischen, Isthmianischen und Nemischen Spiele.
[29] Pompadour, Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de: 29. Dez. 1721 (Paris) - 15. April 1764 (Versailles); auch Madame de Pompadour, einflussreiche Maitresse von Louis XV., Mäzenin für Literatur und Kunst.
[30] Gegend in Frankreich.
[31] zit. nach Hirsbrunner 2002, 48.
[32] Klossowski 1903, 17.
[33] Michael G. Conrad: Madame Lutetia, Berlin 1897, S. 378f; zit. nach Rösler 1986, 32.
[34] Les Fantaisies de Claudine, 1840; zit. nach Rösler 1986, 32.
[35] Der achtzehnte Brumaire de Louis Bonaparte, MEWA 8; zit. nach Rösler 1986, 32.
[36] George Hulot Auriol (1863-1938): Illustrator, Designer, Schriftsteller, Druckgraphiker und Chansonnier, seit 1883 im Chat Noir.
[37] Französische Schule von Naturalisten Mitte des 19. Jahrhunderts (Théodore Rousseau, Jean-François Millet).
[38] Wehmeyer 1974, 158.
[39] J. P. Contamine de Latour (1867-1926): eigentlich Jose Maria Vicente Ferrer Francisco de Paula Patricio Manuel Contamine, katalanischer Dichter, bekannt durch Freundschaft mit Erik Satie (dieser ab 1888 im Chat Noir).
[40] Wehmeyer 1974, 158.
[41] Biergläser.
[42] Wehmeyer 1974, 158f.
[43] Klossowski 1903, 12f.
[44] Félia Litvinne alias Françoise-Jeanne Schütz (1860-1936): russische Sopranistin, Schülerin von Madame Barth-Banderoli, Debut am Théâtre des Italiens, ab 1890 Rollen an allen großen europäischen Bühnen.
[45] Marguerite Syamour-Gagneur: französische Skulpteurin, Schaffen gréco-latinisch geprägt, vor allem allegorische Glorifikationen der Republik, von 1885-1912 Ausstellung im etablierten Salon des artistes français, sowie im Salon des Champs Elysées, in der Galerie Georges Petit und auf der Weltausstellung 1900.
[46] Paul Merwart (1855-1902): Maler, Bruder des späteren Gouvernors von Benin.
[47] Joseph-Ernest Renan (1823-1892): Philosoph, Historiker, Religionsgelehrter, Hauptvertreter der Schule der kritischen Philosophie in Frankreich.
[48] Victor-Henri Rochefort, Marquis De Rochefort-Iucay (1830-1913): polemischer Journalist, Gegner von Napoleon III., Unterstützer der Pariser Commune, aus Ablehnung der gemäßigten Republikaner dann Unterstützung des rechten General Boulanger, nach dessen Scheitern Übergang zu den radikalen Sozialisten, zur Dreyfus-Affäre wieder extrem rechts.
[49] Clovis Hugues (1851-1907): französischer Poet und Sozialist, in den Achtzigern einziger Sozialist im Parlament.
[50] Ernest Alexandre H. Coquelin alias Coquelin cadet (1848-1909): Schauspieler, Hauptdarsteller im Odéon und am Théâtre Française.
[51] Alphonse Daudet (1840-1897): Schriftsteller von Kurzgeschichten und Romanen, vor allem bekannt durch sentimentale Beschreibungen des Lebens in Südfrankreich und als Porträtist des Pariser Künstlerlebens.
[52] Juliette Adam-Lamber (1836-1936): Schriftstellerin, seit 1871 Inhaberin eines Salons, bekannt geworden als „Grande Française“, Gründerin der Zeitschrift „La Nouvelle Revue“
[53] Albert Wolff (1835-1891): Journalist, ab 1868 führender Kunstkritiker von Le Figaro, eng mit den Impressionisten verbunden.
[54] Ferdinand de Lesseps (1805-1894): Diplomat, als Konsul von Kairo für den Bau des Suezkanals veranwortlich, 1879 gescheiterter Versuch des Baus des Panamakanals, ab 1884 Mitglied der Académie Française.
[55] Benoit Constant Coquelin alias Coquelin ainé (1841-1909): Bruder von Coquelin cadet und Sohn eines Bäckers, Schauspieler an der Comédie Française.
[56] Wehmeyer 1974, 170.
[57] zit. nach Wehmeyer 1974, 165.
[58] Jean Huré (1877-1930): französischer Organist, Musiklehrer und Komponist, in Paris Bekanntschaft mit C. Widor und C. Koechlin.
[59] Wehmeyer 1974, 164.
- Quote paper
- Enrico Ille (Author), 2004, Der Fall des Chat Noir. Die Begegnung von ‚Künstler’ und ‚Bürger’ in den Cabarets des Pariser Montmartre im späten 19. Jahrhundert, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111505
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