Nach Niklas Luhmann bilden alle formalen Organisationen, „die kontinuierlich spezielle Zwecke verfolgen, [...] ein System offizieller, formal legitimer Erwartungen. [...] Sie geben [...] ein gewisses Grundgerüst der Orientierung.“, (Luhmann 1962: 13). Neben diesen formalen Erwartungen entwickelt sich aber „unter der formalen eine informale Ordnung mit eigenen Rollen, mit individueller geformten, persönlichen Erwartungen, mit kleineren Gruppen und Cliquen, die brauchbare Abweichungen in ihrem Kreis legitimieren.“ (Luhmann 1962: 14)
Luhmann macht die informale Ordnung in seinem Text „Der neue Chef“ daran deutlich, dass er die verschiedenen Vorgänge und Veränderungen in formaler und informaler Hinsicht durch einen Chefwechsel verdeutlicht. Im Folgenden werde ich diesen theoretischen Chefwechsel, den Luhmann in allerlei Varianten durchspielt mit einem echten Beispiel aus einer Feldstudie nachvollziehen.
Vorweg möchte ich daher noch einige Grundzüge einer formalen und informalen Ordnung betrachten. Eine „informale Ordnung ist typisch nicht zweckspezifisch, sondern personal orientiert. Ihre Kristallisationspunkte sind diejenigen Bedürfnisse, welche die formale Organisation nicht befriedigt oder durch ihre Einseitigkeit hervorruft“, (Luhmann 1962: 14). Ein wichtiger Unterschied wird von Luhmann in den unterschiedlichen Änderungsstilen zwischen formaler und informaler Organisation gesehen. Während sich informale Erwartungen „kontinuierlich, langsam und unmerklich“ ändern, ändern sich formale Erwartungen abrupt. „Sie gelten oder gelten nicht.“ (Luhmann 1962: 15)
Daraus schlussfolgert: „ Die informale Organisation kann auf den Chefwechsel nicht sofort angemessen reagieren.“ Ein Chefwechsel bringt eine „Periode der Unsicherheit“ (Luhmann 1962: 15) mit sich. Dies wird sich auch in meiner Feldstudie zeigen.
Als Beobachtungsort wählte ich einen Gastronomiebetrieb, im weiteren „Gastro“ genannt, mit 15 Mitarbeitern, welcher Teil einer großen Kette ist. Da ich selbst Mitarbeiter in diesem Betrieb bin, sind meine Beobachtungen sehr detailliert und über einen langen Zeitraum möglich gewesen. Außerdem ist den „Gastro“-Mitarbeitern ihre Beobachtung nicht bewusst gewesen. Der Chefwechsel ereignete sich Mitte 2006. Meine Beobachtungen erstrecken sich daher auf das gesamte Jahr 2006.
Die formale Struktur vor Ort besteht aus drei Ebenen: ein Betriebsleiter, mehrere Schichtleiter und die restlichen Mitarbeiter ohne Führungsposition. Der Betriebsleiter ist natürlich seinerseits ein Zwischenchef und untersteht dem Bezirksleiter, der wiederum der nächst höheren Hierarchieebene untersteht. Vor dem Chefwechsel lässt sich die informale Ordnung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, im folgenden so beschreiben: aus dem Kreise der Schichtleiter gab es eine Person, im folgenden Jens genannt, die sowohl von den Mitarbeitern als auch vom Betriebsleiter als faktischer stellvertretender Betriebsleiter akzeptiert war. Er besaß das Vertrauen des Chefs und der Mitarbeiterschaft, die sich, bestehend aus den Schichtleitern und restlichen Mitarbeitern, als große informale Gruppe beschreiben ließ. Jens und der damalige Betriebsleiter, im folgenden Tom genannt, waren aus dieser Gruppe teilweise ausgeschlossen, wobei Tom einen gesondert exponierten Status durch seine Chefposition hatte.
Ich möchte mich in meiner weiteren Beobachtung auf die vier Variablen stützen, die Luhmann „für den Fall des Chefwechsels“ aufzählt: „(1) Legitimität des Wechsels nach den informalen Normen und Wertvorstellungen; (2) bürokratische Regulierung der Position und des Wechsels; (3) Herkunft des neuen Chefs aus der Organisation oder von außen; (4) Persönlichkeit des Vorgängers.“(Luhmann 1962: 17)
Ich werde diese Punkte in meiner Beobachtung berücksichtigen, aber dabei nicht nach der, von Luhmann vorgeschlagenen Reihenfolge vorgehen.
„Gastro“ ist Teil einer Kette mit 45 Betrieben und hatte in den 5 Jahren vor 2005 acht Chefwechsel zu verzeichnen. Jedem Mitarbeiter ist deshalb die hohe Variabilität des Betriebsleiterpostens bewusst. Im Falle „Gastro“ hatte es Tom nach Antritt seines Postens im Jahre 2005 geschafft, die Filiale nach vielen Jahren zurück in die Gewinnzone zu bringen. In der ersten Jahreshälfte 2006 hatte es daher schon mehrere Versuche seitens der Firmenleitung gegeben Tom in eine andere Filiale zu versetzen, da sie sich erhofften, dass er auch hier erfolgreich wirken würde. Tom hatte diese Entwicklungen immer an alle Mitarbeiter weiter gegeben und somit war allen bewusst, dass er nicht mehr lange im „Gastro“ bleiben würde.
Da sich laut Luhmann „die Billigung oder Mißbilligung des Wechsels [...] leicht auf die Person des Nachfolgers überträgt“ (1962: 17), kann man die informale Legitimität des Wechsels folgern.
„Die formale Legitimität eines Amtswechsels kann im allgemeinen unterstellt werden.“(Luhmann 1962: 17)
Die Billigung des Wechsels wurde dadurch begünstigt, dass Jens, der bisherige informale Stellvertreter, der neue Betriebsleiter wurde, also somit aus der Organisation stammte und nicht von außen oder aus einer anderen Abteilung kam. Es war daher nicht nötig sich erst einmal auf das „formal Vorgeschriebene und dienstlich Notwendige“ (Luhmann 1962: 19) zu beschränken und erst die Gunst der Mitarbeiter gewinnen zu müssen. Diese hatte er bereits inne. „Er (war) [...] schon sozialisiert“, um es mit Luhmanns Worten (1962: 20) zu sagen. Aus seiner vorigen informalen Position ergaben sich aber gleichzeitig die Erwartungen an seinen Führungsstil. Tom hatte klar umrissene Vorstellungen wie die formalen Ansprüche seitens der Firma umzusetzen seien und erinnerte seine Mitarbeiter und Schichtleiter ständig, in meist höflicher Form, und manchmal etwas unfreundlicher und bestimmter, durch klare Forderungen daran. Außerdem legte er hohen Wert auf ein Teamgefühl, welches er durch regelmäßige gemeinsame private Unternehmungen und eine Art Wettbewerb mit den anderen Betrieben der Kette verfestigte. Er wollte mehr Umsatz als die anderen machen und in den, von der Kette regelmäßig durchgeführten Servicetests, den besten Service bieten, was tatsächlich gelang. Das „Gastro“-Team teilte diese „Wettbewerbslust“ und gewann unter Tom sogar den internen Wettbewerb um den besten Service in den 45 Filialen. Es wurde dafür eine Extrabelohnung gezahlt. Die Mitarbeiter waren mit Tom daher sehr zufrieden und auch in der informalen Ordnung ließ sich beobachten, dass sie ein Maximum an Leistung voneinander erwarteten.
Da Jens den Führungsstil von Tom immer mitgetragen und umgesetzt hatte, erwartete die Mitarbeiterschaft auch von ihm einen ähnlichen Führungsstil. Da seine vorherige informale Stellung aber enger zu den restlichen Mitarbeitern war als die exponierte Stellung Toms, hatte er aber auch Angst deutliche und eventuell auch unfreundliche Forderungen zu stellen. Er wollte die bisherige freundschaftsähnliche Beziehung zu den Mitarbeitern nicht gefährden. Hinzu kam eine Überlastung durch die, für ihn, neue Bürokratie, welche Jens zeitlich sehr in Anspruch nahm. Es fehlte ihm also die Bestimmtheit des Vorgängers, die die Mitarbeiter bisher kannten und erwarteten. Da diese Erwartungen nicht erfüllt wurden, kristallisierten sich über mehrere Wochen hinweg zwei verschiedene Arten der Reaktion heraus, die zu einer schleichenden Spaltung der informalen Gruppe führte. Der eine Teil der Gruppe war weiterhin bemüht die Vorgaben des Chefs möglichst optimal umzusetzen, auch wenn sie nicht mehr so regelmäßig und bestimmt kamen. Sie erwartete aber möglichst bald wieder eine Änderung des Führungsstils.
Der andere Teil der Gruppe ließ in seiner Arbeitssorgfalt nach und interpretierte das Unterlassen regelmäßiger und deutlicher Forderungen als eine Absenkung des Leistungsanspruchs. Diese Beobachtungen schlagen sich auch in den oben bereits erwähnten Service-Tests[1] nieder, in denen die Ergebnisse über vier bis sechs Monate hinweg deutlich schlechter waren als unter Toms Führung. Es entstanden Reibereien zwischen einigen Mitarbeitern, da nun zwei sehr unterschiedliche Arbeitshaltungen aufeinander trafen.
Jens reagierte nach etwa drei Monaten darauf, indem er ruckartig seinen Führungsstil änderte und sich den Erwartungen des Teils der Mitarbeiterschaft anpasste, die weiterhin einen klar umrissenen und deutlichen Führungsstil forderte. Dieser abrupte Wechsel des Führungsstils hatte allerdings keine abrupte Rückkehr zu den ursprünglichen informalen Strukturen zur Folge. Erst über einen Zeitraum von mehreren Monaten wurde aus den zwei informalen Gruppen von Mitarbeitern und Schichtleitern wieder eine. Die informale Struktur kehrte nach und nach in einen ähnlichen Zustand zurück, wie er vor dem Chefwechsel bestanden hatte, mit dem Unterschied, dass es keinen informalen stellvertretenden Chef mehr gibt.
Meine Beobachtungen bestätigen Luhmanns Thesen dahingehend, dass informale Organisationen auch auf abrupte Änderungen nur langsam reagieren und ein Chefwechsel eine „Periode der Unsicherheit“ zur Folge hat „bis die informale Ordnung sich umstellt.“,(Luhmann 1962: 15).
Jens kam aus der Organisation und übernahm nach den formal und informal legitimen Wertvorstellungen den Chefposten. Ihm begegnete die informale Erwartung, sich der Persönlichkeit seines Vorgängers, den Führungsstil betreffend, anpassen zu müssen, was er in gewisser Weise nach einer „Periode der Unsicherheit“ (Luhmann 1962: 15) auch tat. Die informale Struktur reagierte auf den Wechsel mit einer schleichenden Spaltung, um dann auf die spätere abrupte Führungsstiländerung von Jens mit einer langsamen Rückkehr zu ähnlichen Verhältnissen zu reagieren, wie sie vor dem Chefwechsel geherrscht hatten.
Literatur:
Luhmann, Niklas 1962: Der neue Chef, in: Verwaltungsarchiv 53, S.11-24
[...]
[1] Diese Service-Test sind nicht öffentlich, wodurch eine Nennung der genauen Ergebnisse hier nicht möglich ist.
- Citation du texte
- Michael Grothe (Auteur), 2007, Formale und informale Organisation - Die Reaktionen informaler Strukturen auf einen neuen Chef aus der eigenen Organisation anhand eines realen Beispiels, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111425
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