Inhalt
0 Einleitung
1 Definition, Theorie und Einordnung
1.1 Sprachwissenschaftliche Betrachtung
1.2 Literaturwissenschaftliche Betrachtung
2 Stille, Leere und Raum in der Kunst der 50er und 60er Jahre
2.1 Stille bei John Cage
2.2 Der Raumbegriff bei Donald Judd
3 Funktionen des Schweigens bei Calvino
3.1 Innere Funktionen
3.1.1 Mystifizierung und Verschleierung
3.1.2 Fantasie
3.1.3 Kommentar und Reflexion
3.2 Äußere Funktionen
3.2.1 Identifikation
3.2.2 Entwicklung
3.2.3 Intertextualität
4. Zusammenfassung und Konklusion
Literatur
0 Einleitung
„Most valuable art in our times has been experienced by audiences as a move into silence (...);
a dismantling of the artist’s competence, his responsible sense of vocation – and therefore as an aggression against them.“[1] (Susan Sontag)
Seit den 1950er Jahren setzen sich Künstler verstärkt mit Stille, Schweigen, Leere und Raum auseinander. Viele von ihnen entwickeln gar eine eigene „Philosophie der Stille“, die in ihren Werken Ausdruck findet.
1967 befasst sich die amerikanische Publizistin Susan Sontag in ihrem Essay „The Aesthetics Of Silence“ ausführlich mit dem Phänomen der Stille in der Kunst seit der Moderne. Leider existieren daneben nur wenige theoretische Werke, die sich mit der Stille in der Kunst beschäftigen. Jedoch ist das Thema für die Kunst- und Literaturtheorie keineswegs unwichtig oder gar uninteressant. Daher soll diese Arbeit zu dieser Diskussion ihren Beitrag leisten. Gegenstand dieser Arbeit soll die Frage nach den Funktionen des (Ver-)Schweigens bei dem postmodernen Schriftsteller Italo Calvino sein. Es handelt sich hierbei um einen Autor, dessen Geschichten durch ihre Ungewissheit im Raum zu schweben, ins Nichts gesetzt scheinen. Gleichzeitig legt Calvino absolute stilistische und taktische Sicherheit an den Tag. Die Zusammensetzung aus Ungewissheit und Sicherheit macht seine Lektüre zugleich faszinierend und abstoßend. Zur Untersuchung der Stille bei Calvio soll der Fokus dieser Arbeit auf seinem Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore liegen. Dieser eignet sich besonders, da der Autor sein Vorgehen im Roman selbst ausführlich kommentiert.
Zu Beginn soll der Begriff des Schweigens skizziert und die Thematik in den sprach- und literaturwissenschaftlichen Diskurs eingeordnet werden. Danach wird der Einsatz von Stille bzw. Raum in benachbarten Disziplinen anhand zweier Künstler der 50er und 60er Jahre veranschaulicht. Im darauf folgenden Kapitel geht es um die Funktionen des Schweigens bei Calvino selbst, bevor alle Punkte zusammengefasst und ausgewertet werden.
1 Definition, Theorie und Einordnung
1.1 Sprachwissenschaftliche Betrachtung
Das Metzler Lexikon Sprache verweist beim Stichwort „Schweigen“ auf folgenden Eintrag zur „Unterbrechung“:
„ Unterbrechung (engl. interruption) 1. In der Systematik des Sprecherwechsels (Õ turn) nicht vorgesehener Sprecherwechsel, der an einer für den Übergang des Rederechts an den bisherigen Hörer nicht relevanten Stelle (engl. transition relevance place) erfolgt, z.B. mitten in einem Satz des aktuellen Sprechers. Bei einem Streit um das Rederecht erfolgt gleichzeitiges Sprechen, also eine Überlappung (overlap). – Von diesen Formen ist zu unterscheiden die U. des Kommunikationsflusses insgesamt, in dem ein Interaktant I, der eigentl. dran wäre, keinen Sprecherbeitrag liefert, so daß eine Lücke (gap) entsteht. Diese kann sowohl innerhalb der Sprecheräußerung eintreten, indem I z.B. Wortfindungsprobleme hat. [...] Die U. kann aber auch an einer Übergangsstelle entstehen, indem eine im Handlungsmuster sich anschließende Option durch den potentiellen Sprecher nicht wahrgenommen wird. In diesem Fall erhält die Abwesenheit einer sprachl. Handlung häufig selbst einen kommunikativen Stellenwert (Schweigen als Form der Kommunikation). [...]“[2]
Der Artikel behandelt zwei Arten des Schweigens: einerseits die Abwesenheit des sprachlichen Zeichens und andererseits die Abwesenheit eines sprachlichen Zeichens in Anwesenheit eines anderen sprachlichen Zeichens. Beide Arten seien im Sprecherwechsel nicht vorgesehen. In Bezug auf das Schweigen als bewusste Handlung wird hingewiesen auf die Möglichkeit des Schweigens als Kommunikationsform. Hierzu heißt es bei Sontag:
„Silence remains, inescapably, a form of speech (in many instances, of complaint or indictment) and an element in a dialogue.“[3]
Die Bedeutung sprachlicher Handlungen und die Verwendung von Sprache untersucht das sprachwissenschaftliche Fach der Pragmatik.
Aus pragmatischer Perspektive konstituiert sich Bedeutung in dem Kontext, in den eine Äußerung gebettet ist. Ein zentrales Prinzip der Pragmatik ist das „Kooperationsprinzip“ des englischen Sprachphilosophen Paul Grice. Demnach funktioniert jede ideale Konversation auf Basis von vier Maximen. Nicht vorgesehene Äußerungen verletzen das Prinzip. Bezieht sich die Äußerung von Person B innerhalb einer Konversation nicht im Sinne der Maximen auf die vorangegangene Äußerung von Person A, so hat A nach einer Bedeutung in Bs Äußerung zu suchen, die ihr nach semantischen Gesichtspunkten nicht innewohnt. Dies ist auch der Fall, wenn B schweigt.
1.2 Literaturwissenschaftliche Betrachtung
„In order to perceive fullness, one must retain an acute sense of the emptiness which marks it off; conversely, in order to perceive emptiness, one must apprehend other zones of the world as full.“[4] (Sontag)
Als Bestandteil jedes literarischen Texts zeigt sich das Schweigen auch in der Literaturtheorie. Die Erzähltheorie des Literaturwissenschaftlers Gérard Genette bspw. beinhaltet drei Kategorien, nach denen sich die Zeitebene eines Werkes analysieren lasse: Ordnung, Dauer und Frequenz. In allen Kategorien spiegelt sich das Schweigen wider. Zur Veranschaulichung möchte ich näher auf die Kategorie der Dauer eingehen. Diese Kategorie dient der Analyse des Verhältnisses von Erzählzeit zu erzählter Zeit. Ihre Parameter sind Dehnung, Raffung, Ellipse und Pause. Eine Raffung liegt dann vor, wenn die Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit gekürzt wird. Dies ist der Fall, wenn der Autor vom „Allgemeinen“ erzählt und Details verschweigt, z.B., wenn er sagt, eine Figur frühstücke. Eine Dehnung hingegen liegt vor, wenn die Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit verlängert wird. Dies ist der Fall, wenn der Autor Details beschreibt wie die Oberflächenstruktur des Frühstückseis. An diesen Stellen verschweigt der Autor zunächst die „harten Fakten“. Ellipse und Pause sind die jeweiligen Extremformen von Raffung und Dehnung. Durch Ellipsen kann ein Autor bspw. mehrere Jahre mit Hilfe eines einzigen Hauptsatzes überspringen. In einer Pause hat der Autor z.B. die Möglichkeit, auf zehn Seiten den Faltenwurf eines Rockes zu erläutern.[5]
Vage Aussagen und das vielfach auftretende „...“ bedeuten eine Raffung der Erzählzeit. Sie verweisen auf das, was ausgelassen wird: was im Rahmen der Erzählung noch der Fall sein könnte. Ebenso verhält es sich mit offenen Anfängen und offenen Enden.[6]
Roman Ingarden, polnischer Philosoph und Vorläufer der Rezeptionsästhetik, bezeichnet Auslassungen in Texten als „Unbestimmtheitsstellen“:
„Eine solche Stelle zeigt sich überall dort, wo man auf Grund der im Werk auftretenden Sätze von einem bestimmten Gegenstand (oder von einer gegenständlichen Situation) nicht sagen kann, ob er eine bestimmte Eigenschaft besitzt oder nicht.“[7]
Was vom Autor ausgelassen wird, wird vom Leser gefüllt. Auf eine stärkere Rolle des Lesers hat erstmals der Romanist und Begründer der Rezeptionsästhetik Hans Robert Jauß hingewiesen. Die Rezeptionsästhetik geht von einem Erwartungshorizont aus, der jedem Leser zueigen ist. Dieser bildet sich durch persönliche Erfahrungen und Kenntnisse und dient dem Leser zum Füllen der Unbestimmtheitsstellen.[8] Da ein Mensch unentwegt Erfahrungen macht, lässt sich ein an offenen Stellen reicher Text fortwährend neu verstehen: Wenn der Autor schweigt, wird für den Leser ein Erkenntnis prozess in Gang gesetzt.
2 Stille, Leere und Raum in der Kunst der 50er und 60er Jahre
„As a property of the work of art itself, silence can exist only in a cooked or nonliteral sense. (Put otherwise: if a work exists at all, its silence is only one element in it.) “[9] (Sontag)
Das Schweigen zieht in den 1970er Jahren in die westliche Literatur- und Kunsttheorie ein. Die Künstler selbst setzen sich seit den 50er Jahren verstärkt mit Stille, Leere und Raum auseinander. An dieser Stelle möchte ich zwei Beispiele für das Verständnis von Stille und Raum in anderen Gattungen anreißen: Es handelt sich hierbei um die aufgeführte Musik und die ausgestellte bildende Kunst.
Demonstriert wird dies an John Cage und Donald Judd, zwei in ihren Disziplinen herausragenden Künstlern, deren Lebensdaten sich weitgehend mit den Daten Calvinos decken.
2.1 Stille bei John Cage
John Cages 4’33’’, am 29. August 1952 von David Tudor an der Harvard-Universität uraufgeführt, besteht in seiner Partitur aus durchgängiger Stille. Einzige Anweisung hierin ist „tacet“ – die Aufforderung an den Musiker, zu pausieren. Eine vorgeschriebene Dauer besitzt 4’33’’ nicht. Es ist nach der Dauer der Uraufführung benannt. Die Partitur ist in drei Sätze gegliedert, die Tudor jeweils mit dem Zu- und Aufklappen des Klavierdeckels markiert. Sonst sitzt er regungslos an seinem Instrument. Cage selbst sagt, eine absolute Stille existiere in der Welt nicht:
„There is no such thing as silence. Something is always happening that makes a sound.“[10]
Daher ist anzunehmen, dass zum Werk im Sinne des Komponisten alle während einer Aufführung auftretenden Geräusche gehören (z.B. surrende Lüftungsanlage, knarrende Stühle, Husten aus dem Publikum, etc.).
2.2 Der Raumbegriff bei Donald Judd
1968 erscheint Donald Judds Aufsatz „Specific Objects“. Darin setzt sich der amerikanische Künstler und Kunstkritiker mit den Eigenschaften von in der Kunst „neuen, dreidimensionalen Arbeiten“, sog. „spezifischer Objekte“, auseinander. Diese höben sich ab von den alten Kategorien Malerei und Skulptur. Ähnlicher seien sie der Malerei.
In seinem Aufsatz geht Judd u.a. auf das Verhältnis von Kunstwerken zu Raum ein. Hierzu unterteilt er Raum in drei Arten: Illusionistic space, literal space und real (auch: acute) space. Illusionistic space sei der Raum, der dem Betrachter vortäusche, etwas anderes darzustellen als sich selbst. Nebeneinander aufgetragene Farben bspw. seien keine wahrhaftigen Objekte. Literal space sei der Raum, der sich durch oder um eine Markierung herum einstelle: Eine Markierung auf einer Leinwand nehme Raum ein, der restliche (unmarkierte) Teil der Leinwand ebenfalls. Real space sei wahrhaftiger Raum. Räumliche Ausdehnung aber könne durch Zweidimensionalität nur vorgetäuscht, nicht kommuniziert werden. Dreidimensionale Objekte allerdings erfassten wahrhaftigen Raum. Judd misst von allen drei Raumarten dem real space die größte Bedeutung zu:
„Three dimensions are real space. That gets rid of the problem of illusionism and of literal space […]. The several limits of painting are no longer present. A work can be as powerful as it can be thought to be. Actual space is intrinsically more powerful and specific than paint on a flat surface.“[11]
3 Funktionen des Schweigens bei Calvino
Im Folgenden wird unterschieden zwischen zwei verschiedenen Arten von Funktion: der inneren und der äußeren. Der Begriff der inneren Funktion bezieht sich hierbei auf das Handwerk des Schreibens. Es handelt sich um den technischen Einsatz des Schweigens, durch den sich stilistische Phänomene im Werk manifestieren. Z.B. besitzen vage Aussagen immer die Eigenschaft, unscharf zu sein. Der Begriff der äußeren Funktion hingegen bezieht die Rolle des realen Lesers mit ein. Es handelt sich hier eher um den taktischen Einsatz des Schweigens: Diese Funktionen sind umfassender. Sie müssen in Kontakt zueinander treten, um sich in vollem Maße zu zeigen. Hierzu bedarf es eines Lesers, der sie in Zusammenhang bringt.
Ähnlich verhält es sich mit den drei Raumarten Judds: Real space lässt sich nicht in Frage stellen und ist unabhängig von der Wahrnehmung durch einen Betrachter. Illusionistic space und literal space ergeben sich hingegen nur durch Interpretation.
Die Geschehnisse auf Werkebene sind sachlich, greifbar und eindeutig. Was sich auf zweiter Ebene in Kontakt mit einem Leser abspielt, ist vieldeutig und abhängig vom Erwartungshorizont des Betrachters.[12]
Da die Hauptfigur im Roman ein namenloser Leser ist, wird im Nachstehenden unterschieden zwischen fiktivem Leser („Lettore“) und realem Leser im Sinne der Erzähltheorie. Fallen fiktiver Leser und realer Leser zusammen, so wird vom Leser gesprochen.
Aus formalen Gründen beschränke ich mich auf die wichtigsten Beispiele.
3.1 Innere Funktionen
3.1.1 Mystifizierung und Verschleierung
„– No, Ludmilla ha sempre cercato dei posti dove nascondersi.
– Da chi?
– Mah, da tutti.
Le risposte d’Irnerio sono sempre un po’ evasive“[13]
Die Figur der Ludmilla verkörpert in Se una notte d’inverno un viaggiatore die Versuchung und das Verlangen. Sie bleibt für den Großteil des Romans eine geheimnisvolle Unnahbare, die der Leser nicht begreifen kann: Ihre Identität lässt sich nie mit Gewissheit bestimmen. Sobald der Leser glaubt, etwas über sie erfahren zu haben, muss er dieses Wissen nach einiger Zeit wieder revidieren; denn Ludmilla zeigt sich zu diesem Zeitpunkt wieder auf andere Weise. Vage Aussagen, die im Roman zahlreich über Ludmilla gemacht werden, scheinen sich zu überlagern und sich wie Nebel um ihren Charakter zu legen, um diesen zu verbergen. Übereinstimmend hierzu treten zu Beginn des ersten Romanfragments buchstäbliche Dampfwolken aus Worten auf:
„[...] uno sfiatare di stantuffo copre l’apertura del capitolo, una nuvola di fumo nasconde parte del primo capoverso.“[14]
Durch den ganzen Roman zieht sich das Motiv vom Versteck im Ungewissen:
„(...) e invece ogni minuto che passo qui lascio tracce: lascio tracce se non parlo con nessuno in quanto mi qualifico come uno che non vuole aprir bocca: lascio tracce se parlo in quanto ogni parola detta è una parola che resta e può tornare a saltar fuori in seguito, con le virgolette o senza le virgolette. Forse per questo l’autore accumula supposizioni su supposizioni in lunghi paragrafi senza dialoghi, uno spessore di piombo fitto e opaco in cui io possa passare inosservato, sparire.“[15]
Das Motiv trifft auf das literarische Ich im ersten Romanfragment zu wie auch auf ähnliche Weise im neunten Fragment:
„Seguendo i passi d’un servo che ha preso in custodia il mio cavallo percorro una serie di luoghi che dovrebbero essere sempre più interni mentre invece mi trovo sempre più fuori, da un cortile passo a un altro cortile, come se in questo palazzo tutte le porte servissero solo per uscire e mai per entrare. Il racconto dovrebbe dare il senso di spaesamento dei luoghi che vedo per la prima volta ma anche di luoghi che hanno lasciato nella memoria non un ricordo ma un vuoto. Ora le immagini tentano di rioccupare questi vuoti ma non ottengono altro che di tingersi anch’esse del colore dei sogni dimenticati nell’istante in cui appaiono.“[16]
Hier tritt das literarische Ich nicht jedoch mehr wie im ersten Fragment als Beherrscher der Ungewissheit auf – es verliert sich darin.
3.1.2 Fantasie
Die Figur des Professors Uzzi-Tuzzii deutet unaussprechliche Dinge an, die in seinem Institut vor sich gingen. Als der fiktive Leser Zeit im Institut verbringt, macht er dort eigenartige Erfahrungen:
„Il professore chiude il libro di scatto. – (...) Quantunque mutilo, o forse proprio per questo, Sporgendosi dalla costa scoscesa è il testo più rappresentativo della prosa cimmeria, per quel che manifesta e ancor più per quel che occulta, per il suo sottrarsi, venir meno, sparire...
La voce del professore sembra stia per spegnersi. Sporgi il collo per assicurarti che sia sempre lì, oltre la paratia degli scaffali che lo separa dalla tua vista, ma non riesci più a scorgerlo, forse sgusciato nella siepe di pubblicazioni accademiche e annate di riviste, assottiglianosi al punto di potersi infilare negli interstizi avidi di polvere, forse travolto dal destino cancellatore che incombe sull’oggetto dei suoi studi, forse inghiottito dal baratro vuoto della brusca interruzione del romanzo. Sull’orlo di questo baratro tu vorresti puntellarti, sostenendo Ludmilla o aggrappandoti a lei, le tue mani cercano d’afferrare le sue mani…
– Non chiedete dov’è il seguito di questo libro! – È uno strillo acuto che parte da un punto imprecisato tra gli scaffali. – Tutti i libri continuano al di là… – La voce del professore va su e giù; dove s’è cacciato? Forse sta rotolandosi sotto la scrivania, forse sta impiccando alla lampada del soffitto.
– Continuano dove? – chiedete voi, abbarbicati al ciglio del precipizio. – Al di là di che cosa?
– I libri sono i giardini della soglia… Tutti gli autori cimmeri l’hanno passata… Poi comincia la lingua senza parole dei morti che dice le cose che solo la lingua dei morti può dire. Il cimmerio è l’ultima lingua dei vivi… e la lingua della soglia! Qui si viene per tendere l’orecchio al di là… Ascoltate…
Non state ascoltando più nulla, invece, voi due. Siete spariti anche voi, appiattiti in un angolo, stretti l’uno all’altra. È questa la vostra risposta?”[17]
Als Uzzi-Tuzzii die Lesung des kimmerischen Romans abgeschlossen hat, geht die Fantasie mit dem fiktiven Leser durch. Der reale Leser hat die Möglichkeit, beliebig oft zu lesen, was im Institut vor sich geht. Er kann versuchen, Anhaltspunkte zu finden, welche der Geschehnisse der fiktiven Realität entsprechen und was Teil der Fantasie des fiktiven Lesers ist. Allerdings kann auch der reale Leser hierüber nur vermuten. Was im Institut wahrhaftig geschieht, bleibt offen – es bleibt dem realen Leser überlassen, den Text stellenweise zu füllen.
3.1.3 Kommentar und Reflexion
Calvino nutzt im Roman zahlreiche Pausen als Möglichkeit des Kommentars. Es handelt sich dabei um drei Arten von Pausen:
a) Pausen, in denen eindeutig der implizite Autor kommentieren soll.
„Stai per cominciare a leggere il nuovo romanzo Se una notte d’inverno un viaggiatore di Italo Calvino. Rilassati. Raccogliti. Allontana da te ogni pensiero. Lascia che il mondo che ti circonda sfumi nell’indistinto.“[18]
b) Pausen, die suggerieren, das literarische Ich kommentiere oder es reflektiere eigenständig über sich und seine Fiktionalität.
„Sto tirando fuori troppe storie alla volta perché quello che voglio è che intorno al racconto si senta una saturazione d’altre storie che potrei raccontare […]“[19]
„Io sono l’uomo che va e viene tra il bar e la cabina telefonica. Ossia: quell’uomo si chiama «io» e non sai altro di lui, così come questa stazione si chiama soltanto «stazione» e al di fuori di essa non esiste altro che il segnale senza risposta d’un telefono che suona in una stanza buia d’una città lontana.”[20]
c) Pausen, in denen nicht deutlich ist, ob der fiktive Leser oder implizite Autor kommentiert oder das literarische Ich.[21]
„Una pausa di silenzio, dalla tua parte e dalla sua. Forse Ludmilla ha coperto il trasmettitore con la mano e sta consultando la sorella. Capace d’avere già le sue idee sulla Cimmeria, quella là. Chissà con cosa verrà fuori, sta’ attento.“[22]
3.2 Äußere Funktionen
3.2.1 Identifikation
„(...) ma una situazione che si verifica all’inizio d’un romanzo rimanda sempre a qualcosa d’altro che è successo o che sta per succedere, ed è questo qualcosa d’altro che rende rischioso identificarsi con me, per te lettore e per lui autore; e quanto più grigio comune indeterminato e qualsiasi è l’inizio di questo romanzo tanto più tu e l’autore sentite un’ombra di pericolo crescere su quella frazione di «io» che avete sconsideratamente investita nell’«io» d’un personaggio che non sapete che storia si porti dietro“[23]
Das Textbeispiel aus Punkt 3.1.3 c) zeigt bereits, dass es in Se una notte d’inverno un viaggiatore nicht immer festgelegte Rollenzuteilungen gibt. Allzu oft verschwimmen die Grenzen zwischen implizitem Autor, fiktivem Leser und literarischem Ich. Diese Unschärfe liegt auch auf zweiter Ebene vor: Zu Beginn des Romans glaubt der reale Leser, vom Autor direkt angesprochen zu werden. Bald muss er feststellen, dass sich der fiktive Leser im Roman vom realen Leser abhebt und sich „ selbstständig “ macht. Calvino lässt die Rollen von realem und fiktivem Leser immer wieder verschmelzen. Dabei bedient er sich unterschiedlicher Mittel unter Angabe verschiedener Vorwände, die ihrerseits Teil der Fiktion sind.
a) Weitgehende Leseranonymität
„Prendi la posizione più comoda: seduto, sdraiato, raggomitolato, coricato. Coricato sulla schiena, su un fianco, sulla pancia. In poltrona, sul divano, sulla sedia a dondolo, sulla sedia a sdraio, sul pouf. Sull’amaca, se hai un’amaca. Sul letto, naturalmente, o dentro il letto. Puoi anche metterti a testa in giù, in posizione yoga.“[24]
Was die Figur des fiktiven Lesers betrifft, lässt Calvino alle Details möglichst offen. Sein Vorwand, dem realen Leser nicht mehr Wissen als nötig über den fiktiven Leser bereitzustellen, ist die zu wahrende Diskretion gegenüber dem realen Leser:
„Chi tu sia, Lettore, quale sia la tua età, lo stato civile, la professione, il reddito, sarebbe indiscreto chiederti. Fatti tuoi, venditela un po’ tu. Quello che conta è lo stato d’animo (…).”[25]
Zu Beginn des Romans hält Calvino dem realen Leser gar zahlreiche Alternativen bereit, bspw. bei der Wahl des Leseplatzes. Dem realen Leser bietet sich durch die weitgehende Anonymität des fiktiven Lesers wenig Möglichkeit, sich von diesem abzuheben. Der fiktive Leser handelt aufgrund von Tendenzen des realen Lesers. Tritt in einem Roman z.B. eine Unbekannte auf, ist ein Leser gemeinhin neugierig, mehr über diese herauszufinden.[26] Als der fiktive Leser Ludmilla entdeckt, wird auch das Interesse des realen Lesers auf sie gelenkt. Beide Rollen fallen zusammen.
b) Literarische „Fallen“
„Hai un buon atlante, molto dettagliato; vai a cercare nell’indice dei nomi: Pëtkwo, che dovrebb’essere un centro importante, e Aagd che potrebbe essere un fiume o un lago. Li rintracci in una remota pianura del Nord che le guerre e i trattati di pace hanno assegnato successivamente a stati diversi. Forse anche alla Polonia?“[27]
An einigen Stellen könnten realer und fiktiver Leser gleichermaßen handeln, z.B. im dritten Kapitel der Rahmenhandlung. Im Fragment geht es um das fiktive Land Kimmerien. Nach der Lektüre schlägt der fiktive Leser Kimmerien im Atlas nach und erhält ausreichend Information.
Die Nennung im Zusammenhang mit Polen und die detaillierte Information im Atlas könnten den realen Leser womöglich irritieren. Er könnte zur Sicherheit ein Lexikon konsultieren und müsste feststellen, dass er auf eine literarische Falle eingegangen sei und sich seiner Leserrolle gefügt habe.
3.2.2 Entwicklung
„Ecco come sei già cambiato da ieri, tu che sostenevi di preferire un libro, cosa solida, che sta lì, ben definita, fruibile senza rischi, in confronto dell’esperienza vissuta, sempre sfuggente, discontinua, controversa. Vuol dire che il libro è diventato uno strumento, un canale di comunicazione, un luogo d’incontro? Non per ciò la letteratura avrà meno presa su di te: anzi, qualcosa s’aggiunge ai suoi poteri.“[28]
Die Fragmente begleiten das Leben des fiktiven Lesers, Fragmente und fiktiver Leser entwickeln sich miteinander: Vor dem ersten Fragment ist der fiktive Leser ein weitgehend unbekannter Leser. Es könnte sich um einen beliebigen Menschen handeln. Das fehlerhafte Buch, das ausgetauscht werden soll, hat die Umgestaltung der Geschichte zu einer Liebesgeschichte zur Folge.[29] Durch weitere Verstrickungen entwickelt sich die Geschichte zu einer Detektiv- und Kriminalgeschichte: Sobald der Kriminelle Ermes Marana auftritt, werden auch die Fragmente kriminell. Erstes Fragment dieser Art ist Guarda in basso dove l’ombra s’addensa.[30]
Der Leser macht im Roman Erfahrungen im Sinne der Rezeptionsästhetik: Die Literatur dient dem Leser zur Horizonterweiterung und der Leser dient der Literatur zur Aktualisierung. Durch Einbindung zweier Leser liegt gar eine doppelte Aktualisierung auf beiden Ebenen vor.
Die fiktive Aktualisierung liegt dabei in den Händen des Autors, die reale Aktualisierung in denen des realen Lesers. Der reale Leser erlebt das Füllen der Unbestimmtheitsstellen gleichzeitig durch die Augen des fiktiven Lesers.
3.2.3 Intertextualität
„[…] il «Nuovo Titania» mi suona conosciuto, fin troppo conosciuto, anche se si tratta di ricordi d’un’altra parte del globo.“[31]
Die Romanfragmente treten mit Hilfe des Lesers zueinander in Kontakt. Im zweiten Fragment bspw. wird die Figur Zwida erwähnt. Sie tritt nicht selbst auf, sondern nur in Form einer Fotografie. Das literarische Ich möchte sie unbedingt kennenlernen und etwas von ihr erfahren, jedoch haben seine vielen Fragen eine Prügelei zur Folge. Zwida bleibt unbekannt. Auf den Leser überträgt sich das Verlangen, etwas über sie zu erfahren. Die Neugier ist so stark, dass sie über das Fragment hinaus bestehen bleibt. Im nächsten Fragment ist der Name der ersten fremden Figur wieder Zwida. Hier wird sie sogleich vorgestellt. Das literarische Ich kennt sie und beschreibt sie ausführlich. Nichts, was über die erste Zwida gesagt wurde, widerspricht den Schilderungen über die zweite. Durch das Informationsdefizit aus dem vorangehenden Fragment überträgt der Leser die Überfülle an Information über Zwida II auf Zwida I.
Ähnlich verhält es sich im vierten und fünften Fragment. In beiden Fragmenten fällt der Name des «Nuovo Titania». Im ersten Fall geschieht dies eher nebensächlich und ist fast überflüssig. Im zweiten Fall aber hat das «Nuovo Titania» entscheidenden Einfluss auf Handlungsverlauf und Spannungskurve des ganzen Fragments.
4. Zusammenfassung und Konklusion
Das Schweigen ist ein Element der Sprache und jedes literarischen Texts. Es wurde gezeigt, welchen Umfang und welchen Wert es in Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore hat. Vergleichend wurden zwei Positionen aus benachbarten Disziplinen angeführt. Laut dem Komponisten John Cage existiere absolute Stille nicht. Es gebe immer etwas, das ein Geräusch verursache. In seinem Werk 4’33“ dient das Pausieren des Musikers dazu, die Geräusche aus dem Saal hervorzuheben. Seine Existenz in Reinform streitet es dadurch ab.
Der bildende Künstler Donald Judd unterscheidet drei Arten von Raum und misst darunter der räumlichen Ausdehnung die höchste Wichtigkeit zu. Dreidimensionalität erfasse den Raum, zweidimensionale Kunst könne den Raum lediglich vortäuschen oder darauf hinweisen. Nur die räumliche Ausdehnung sei tatsächlicher Raum.
In Se una notte d’inverno un viaggiatore übernimmt das Schweigen mit seinen unterschiedlichen Formen verschiedene wichtige Funktionen und erweist sich als ebenso wichtig wie der Text selbst. Es wurde unterschieden zwischen den inneren, technischen Funktionen auf Werkebene und den äußeren, taktischen Funktionen, die auf einen Interpreten angewiesen sind. Zu den inneren Funktionen gehören Mystifizierung, Fantasie und Kommentar. Zu den äußeren Funktionen zählen Identifikation, Entwicklung und Intertextualität.
In postmoderner Literatur ist häufig eine fragmentarische Erzählweise zu finden, Intertextualität wird durch Zitieren aus bestehenden Werken betont, Protagonisten verlieren ihre Fähigkeit, selbst zu handeln und wirken wie durch eine fremde Hand gesteuert. Da auch die verschiedenen Formen des Schweigens Calvinos in Se una notte d’inverno un viaggiatore zu ähnlichen Zwecken dienen, steht der Roman im Kontext der postmodernen Literatur.
Literatur
Calvino, Italo: Se una notte d’inverno un viaggiatore, Mailand 2002.
Glück, Helmut [Hg.]: Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 2005.
Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968.
Judd, Donald: Specific Objects. In: Ders., Complete Writings. 1975 – 1986. Eindhoven 1987, S. 115 – 124.
Sontag, Susan: The Aesthetics Of Silence. In: Dies.: Styles Of Radical Will, New York 2002, S. 3 - 34.
[...]
[1] Sontag, Susan: The Aesthetics Of Silence. In: Dies.: Styles Of Radical Will, New York 2002, S. 7.
[2] Glück, Helmut [Hg.]: Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 2005, S. 709f.
[3] Sontag, S. 11.
[4] Sontag, S. 10.
[5] In allen Fällen wird die gewohnte „Realzeit“ verzerrt. Dass dies den realen Leser nicht weiter verwundert, mag zwei Gründe haben: die weitgehende Vertrautheit mit dem Charakter von Fiktion und die Relativität, die auch der „Realzeit“ zueigen ist. Dass Zeit subjektiv unterschiedlich wahrgenommen wird, macht das unausgeglichene Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit – bzw. das Verhältnis von wahrgenommener Zeit zu „Realzeit“ – zu einem natürlichen Prinzip.
[6] Da Ereignisse immer auf Kausalitäten beruhen und Ursache für weitere Ereignisse sind, hat im Grunde jede Erzählung einen offenen Anfang und ein offenes Ende. Dazu wird gemeinhin nicht davon ausgegangen, dass alle Figuren erst mit Einsetzen der Handlung bis zum Aussetzen der Handlung existieren.
[7] Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, S. 49.
[8] Das Auftreten des Lesers als „zweite Instanz“ neben dem Autor lässt im Zusammenhang mit Interpretation Begriffe wie „richtig“ oder „falsch“, bzw. „angebracht“ oder „unangebracht“ obsolet werden.
[9] Sontag, S. 10.
[10] Cage, John, zitiert nach: Sontag, S. 10.
[11] Judd, Donald: Specific Objects. In: Ders., Complete Writings. 1975 – 1986. Eindhoven 1987, S. 121.
[12] Der Begriff der zweiten Ebene ist im Sinne einer Kontaktaufnahme zwischen Text und Leser zu verstehen. Ein Blatt Papier bleibt außerhalb der Fiktion ein zweidimensionales Objekt. So sind zur Werkanalyse freilich nur Judds Begriffe von illusionistic und literal space übertragbar. Räumliche Ausdehnung ist in der Literatur effektiv nicht vorhanden.
[13] Calvino, Italo: Se una notte d’inverno un viaggiatore, Mailand 2002, S. 54.
[14] Ebd., S. 11.
[15] Ebd., S. 16.
[16] Ebd., S. 264.
[17] Ebd., S. 81f.
[18] Ebd., S. 3.
[19] Ebd., S. 125.
[20] Ebd., S. 12.
[21] Der Begriff „literarisches Ich“ meint hierbei jeweils Romanfiguren. Das literarische Ich tritt in Se una notte d’inverno un viaggiatore allerdings nicht „bloß“ im klassischen Sinne auf. Calvino gibt ihm zusätzlich die Fähigkeit, über seine Fiktionalität zu reflektieren, d.h. die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen, bzw. sich selbst für nichtexistent zu erklären.
[22] Ebd., S. 52.
[23] Ebd., S. 17.
[24] Ebd., S. 3.
[25] Ebd., S. 36.
[26] Es wird dem Leser Interesse an der Lektüre vorausgesetzt.
[27] Ebd., S. 49.
[28] Ebd., S. 36f.
[29] In jedem Romanfragment geht es um ein literarisches Ich und die Beziehung zu einer Frau, in die der Leser Ludmillas Züge legt.
[30] Ebd., S. 118 – 132.
[31] Ebd., S. 130.
- Citation du texte
- Annika Blohm (Auteur), 2007, Was Calvino nicht sagt... - Zur Bedeutung des (Ver-)Schweigens bei Italo Calvino, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111236
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