Bild lügt, Spiegel Online schreibt ab, Focus Online veröffentlicht PR-Meldungen als redaktionelle Texte. „Also ich bin entsetzt. Welcher Quelle kann man denn eigentlich noch vertrauen?“, fragt ein Leser auf dem Agenturblog, das Spiegel Online beim Abschreiben von der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia erwischte. Vor 20 Jahren waren kritische Leser noch auf die Gunst der Redaktion angewiesen. Wer viel Glück hatte, dessen Leserbrief wurde gekürzt abgedruckt. Heute gibt es die Blogosphäre. Hier können Internet-affine Leser die Arbeit von Journalisten in ihrer eigenen Welt sezieren, diskutieren und ihre Kritik einem potenziellen Millionenpublikum präsentieren.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Die Blogosphäre
1.2 Ziel der Arbeit
1.3 Forschungsstand
2 Von der Website zum Watchblog
2.1 Entwicklung der Blogosphäre
2.2 Größe der Blogosphäre
2.3 Motive, Selbstverständnis und Demografie der Blogger
2.4 Entstehung der Watchblogs
3 Von der Medienethik zum Ethik-Kodex für Blogger
3.1 Der Ansatz: Normative Individualethik
3.2 Das Forschungsobjekt: Blogger, keine Journalisten
3.3 Aus der Praxis: Blogger-Ethik-Kodizes im Vergleich
3.3.1 Jonathan Dube – Vom Journalisten-Kodex adaptiert
3.3.2 Dan Gilmor – Für journalistische Blogger
3.3.3 Rebecca Blood – Der erste Blogger-Kodex
4 Blogger-Ethik in der Praxis
4.1 Bildblog: Die Informations-Hygieniker
4.2 Blogbar: Focus Online beim Schummeln erwischt
4.3 Pantoffelpunk: Den Focus-Bilderfake wiederentdeckt
5 Zusammenfassung und Ausblick
6 Literatur
7 Zitierte Blogs und Webseiten
Appendix A: Interview mit Tobias Fröhlich
Appendix B: Interview mit Stefan Niggemeier
Appendix C: Interview mit Udo Röbel
1 Einleitung
Bild lügt, Spiegel Online schreibt ab, Focus Online veröffentlicht PR-Meldungen als redaktionelle Texte. „Also ich bin entsetzt. Welcher Quelle kann man denn eigentlich noch vertrauen?“, fragt ein Leser auf dem Agenturblog, das Spiegel Online beim Abschreiben von der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia erwischte (vgl. Wagner 2004). Vor 20 Jahren waren kritische Leser noch auf die Gunst der Redaktion angewiesen. Wer viel Glück hatte, dessen Leserbrief wurde gekürzt abgedruckt. Heute gibt es die Blogosphäre. Hier können Internet-affine Leser die Arbeit von Journalisten in ihrer eigenen Welt sezieren, diskutieren und ihre Kritik einem potenziellen Millionenpublikum präsentieren.
1.1 Die Blogosphäre
Die Blogosphäre ist die Welt der Blogger. Weblogs oder kurz Blogs sind Webseiten, auf denen ein Autor zu den verschiedensten Themen Beiträge veröffentlicht und darüber mit seinen Lesern diskutiert. Der Bildblog (Schultheis 2006a) beobachtet zum Beispiel die Bild -Zeitung, der Shopblogger berichtet über „Verrücktes und Bemerkenswertes aus dem Supermarkt...“ (Harste 2006), die muenchenblogger schreiben über München (Sterz 2006). Blogs haben sich in weniger als zehn Jahren als eigenständiges Format im Internet etabliert.
Die meisten Blogger sind keine Journalisten. Gebloggt wird größtenteils auch nicht beruflich, sondern in der Freizeit (vgl. Lenhart et al. 2006, S. 2). Eine Unterkategorie von Blogs sind die sogenannten Watchblogs. Watchblogger beobachten und kritisieren zum Beispiel Politiker, Unternehmen oder Medien. Im Netz übernehmen Medien-Watchblogger zwar die Funktion von Medienjournalisten, sie gehen dabei aber völlig anders vor. Watchblogger folgen keiner journalistischen Berufsethik und fühlen sich meist nicht an die journalistische Wahrheits- und Sorgfaltspflicht gebunden. In der Blogosphäre haben sich stattdessen eigene Vorgehens- und Verhaltensweisen entwickelt, die hier am Beispiel der Watchblogs herausgearbeitet und untersucht werden sollen. Der Fokus liegt dabei auf der Analyse des ethischen Verhaltens der Watchblogger.
1.2 Ziel der Arbeit
Im ersten Kapitel soll die Relevanz des Themas und der aktuelle Forschungsstand erläutert werden. Das zweite Kapitel stellt das Forschungsobjekt vor: Die Blogosphäre. Hier geht es um die Entstehung, Entwicklung und Größe der Blog-Welt sowie die Motive, das Selbstverständnis und die Demografie der Blogger. Im dritten Kapitel wird die Blogosphäre mit der Ethik verknüpft. Hier wird im Kontext der Medienethik der normativ-individualethische Ansatz der Arbeit vorgestellt. Danach wird der Unterschied zwischen Bloggern und Journalisten herausgearbeitet, um zu zeigen, dass sich eine Blogger-Ethik von einer journalistischen Ethik unterscheiden muss. Im Anschluss werden drei Blogger-Ethik-Kodizes auf ihre Praxistauglichkeit untersucht. In Kapitel vier wird der in Kapitel drei vorgestellte Ethik-Kodex von Rebecca Blood als Grundlage für eine Analyse von drei Fallbeispielen aus der Watchblog-Szene dienen. In Kapitel fünf sollen aus den Analysen des vierten Kapitels Rückschlüsse auf den praktischen Nutzen eines Ethik-Kodexes für Blogger gezogen werden. Eine Prognose auf die zu erwartenden ethischen Entwicklungen in der Blogger-Szene schließt die Arbeit ab.
1.3 Forschungsstand
In den letzten Jahren sind in der Kommunikationswissenschaft und der Informatik verschiedene Arbeiten über die Blogosphäre erschienen. Darin geht es unter anderem um die Klassifizierung von Blogs (Herring et al. 2004 ), ihren Einfluss auf die Gesellschaft (Neuberger 2003, Drezner et al. 2004a), die Demografie der Blogger (Henning 2003, Henning 2005, Rainie 2005), ihre Motive (Lenhart et al. 2006) und ihr Selbstverständnis (Viégas 2005). In der deutschen Literatur ist Jan Schmidts „Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie“ derzeit die umfassendste Arbeit über die Blogosphäre (Schmidt 2006). Schmidt schreibt unter anderem über die Rolle von Weblogs in der Organisationskommunikation, das Verhältnis zum Journalismus und zur politischen Kommunikation.
Über die Ethik von Bloggern ist dagegen noch wenig publiziert worden. Pioniere auf diesem Gebiet sind die Bloggerin Rebecca Blood (Blood 2002b) und einige Journalisten (Dube 2003, Gilmor 2005). Die ersten empirischen Untersuchungen stammen von Andy Koh und seinen Kollegen vom Internet Research Centre der Nanyang Technological University in Singapur, die im Jahr 2005 die Studie „Ethics in Blogging“ vorstellten (Koh et al. 2005). Dabei fanden sie heraus, dass sich die Blogger-Szene in zwei Lager spaltet. Die Mehrheit der Blogger schreibt ausschließlich über persönliche Erfahrungen und Erlebnisse. Nur ein kleiner Teil – darunter die Watchblogger – reflektiert über externe Informationen aus Politik, Wirtschaft oder Medien. Überraschenderweise unterscheidet sich die Blogger-Ethik beider Lager nicht.
2 Von der Website zum Watchblog
Im Gegensatz zu gewöhnlichen Webseiten können die Leser von Blogs die vom Autor veröffentlichten Einträge meist kommentieren. Die meisten Blogs haben dafür eine integrierte Kommentarfunktion. Die Beiträge werden in umgekehrt chronologischer Reihenfolge veröffentlicht, der aktuellste Beitrag steht also immer oben. Im Gegensatz zu normalen Webseiten, auf denen neue Inhalte alte Informationen ersetzen, werden ältere Einträge und Kommentare auf fast allen Blogs gespeichert und archiviert. Die Leser können diese Archive über Suchfunktionen komfortabel durchforsten. Dieses einfache Feature, die Fähigkeit hinzuzufügen ohne irgendwelche alten Inhalte zu löschen, macht laut der Soziologin und Informatikerin Fernanda Viégas vom Massachusetts Institute of Technology den fundamentalen Unterschied zu anderen Arten von Webseiten aus (Viégas 2005, S. 3). Ein Problem des kollektiven Gedächtnisses der Blogosphäre ist, dass Gedächtnislücken entstehen, wenn Blogger ihre Blogs aufgeben und löschen.
Neben der offenen Diskussionskultur ist der hohe Grad der Verlinkung eine weitere charakteristische Eigenschaft von Blogs. Da interessante Beiträge von den Lesern eines Blogs auf die eigenen Blogs verlinkt werden, verbreiten sich Neuigkeiten in der Blogosphäre sehr schnell. Der bekannte Blogger Kai Pahl alias Don Alphonso schreibt dazu:
Ein Weblog ist zum Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts eine Art privates Logbuch oder digitaler Fahrtenschreiber, in das ein Surfer interessante Links auf seinem täglichen Weg durch das Netz abspeichert und kommentiert. (Alphonso 2004a, S. 19)
Eine allgemein anerkannte Definition von „Weblog“ oder „Blog“ gibt es nicht. Verschiedene Wissenschaftler und Blogger haben Definitionsversuche unternommen. Bedenkt man die Ergebnisse der Linguistin und Informatikerin Susan Herring, dass Blogs vor allem als persönliche Online-Tagebücher genutzt werden, greift der Begriffsbestimmungsversuch von Tim Fischer und Oliver Quiring zu kurz (vgl. Herring et al. 2004):
Unter Weblog wird allgemein ein thematischer Nachrichtendienst verstanden, der als Webseite publiziert und ähnlich wie ein Tagebuch (...) in regelmäßigen Abständen ergänzt wird. (Fischer et al. 2004, S. 9)
Wie verschiedene Studien gezeigt haben, ist die Mehrheit der Blogs eben kein thematischer Nachrichtendienst (vgl. Herring et al. 2004, Koh et al. 2005, Lenhart et al. 2006). In dieser Arbeit gilt daher Herrings schlichte und inhaltlich offene Definition:
Weblogs werden hier als häufig modifizierte Webseiten definiert, auf denen datierte Einträge in umgedreht chronologischer Reihenfolge aufgelistet werden. (Herring et al. 2004, S. 1)
An dieser Stelle sind Wissenschaftler und Praktiker nicht weit voneinander entfernt. Die Blog-Definition von Don Alphonso ähnelt der Erklärung von Herring. Alphonso fordert, man dürfe Blogs keine Zwangsjacke überstülpen, indem man sie über den Inhalt definiere und schreibt deswegen:
Ein Blog ist eine häufig aktualisierte Webseite mit individuellen Einträgen. (Alphonso 2004a, S. 307)
Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht können Blogs außerdem in das Raster der elektronisch vermittelten Individual- und Massenkommunikation eingeordnet werden. Während sich die klassischen Massenmedien durch unidirektionale Kanäle, hierarchische Institutionsstrukturen und geographisch definierbare Rezipientenkreise auszeichnen (vgl. Sandbothe 1996, S. 1), haben Blogs multidirektionale Kanäle, dezentrale Netzstrukturen und geographisch offene Rezipientenkreise. Damit zeigen Blogs die typischen Merkmale von Internetanwendungen, wie E-Mail, Chat oder Newsgroups, die die Einteilung in Individual- und Massenkommunikation sprengen, weil sie beide in einem Medium vereinen (vgl. Pohla 2006, S. 49). Im Gegensatz zu den klassischen Massenmedien können Kommunikatoren im Internet einerseits öffentlich Informationen an ein disperses Publikum übertragen und andererseits auch einzelne Rezipienten ansprechen.
Internetanwendungen wie Blogs, E-Mail oder Chat haben außerdem multimediale Eigenschaften, das heißt, sie sind in der Lage
Text, Bild, Ton, Video, Grafik und Datenkommunikation unterschiedlicher Herkunft zu integrieren sowie traditionelle Medienangebote und neue digitalisierte Medien wie Internet (bzw. WWW) und Online-Kommunikation zusammenzuführen. (Pürer 2003, S. 88)
Das Besondere vieler dieser Multimedia-Anwendungen ist, dass die Rezipienten dem Kommunikator durch „spontane Rückkopplungsmöglichkeiten“ antworten können (Pürer 2003, S. 88). Damit ist das klassische Merkmal für Massenkommunikation, nämlich die Einseitigkeit vom Kommunikator zum Rezipienten, aufgehoben. Sogenannte Steuerungsfunktionen verlagern sich bei Multimedia-Anwendungen vom Produzenten zum Rezipienten. Die Folge ist ein sogenannter Individualisierungsprozess: Rezipienten können das Angebot beeinflussen, im Fall von Blogs durch die Kommentarfunktion mitgestalten, und verändern (vgl. Pürer 2003, S. 88). Einen kompletten Rollentausch zwischen Kommunikator und Rezipient wie bei E-Mail gibt es bei Blogs jedoch nicht. Bei den meisten Blogs können die Leser lediglich die vom Blogger eingestellten Beiträge kommentieren, eigene Beiträge erstellen können sie dagegen nicht.
Wenn die Produzenten die Steuerungsmöglichkeiten nicht mehr exklusiv haben und die Nutzer das Angebot verändern können, spricht man von Interaktivität. Im kommunikationswissenschaftlichen Sinn ist mit Interaktivität vor allem die „Kommunikation zwischen Menschen mittels Computer“ gemeint (Pürer 2003, S. 96). Laut Pürer bedeutet Interaktivität im technischen Sinn, dass ein Nutzer einerseits mit dem Medium in einen Dialog treten, als auch durch das Medium kommunizieren kann (Pürer 2003, S. 94). Damit geographisch getrennte Menschen „durch ein Medium“ kommunizieren können, muss das Medium synchrone und asynchrone Kommunikation ermöglichen (Pürer 2003, S. 94).
Bloggen ist also eine multimediale und interaktive Anwendung, weil Blogger die verschiedensten medialen Elemente einbinden, Nutzer die Inhalte verändern, und eine asynchrone – teilweise sogar fast synchrone – Kommunikation möglich ist. Aus der Feder des leidenschaftlichen Bloggers Don Alphonso hört sich das so an:
Blogs sind wichtig, weil sie die alte Aufteilung in intrigante Interessensgruppen (Sender), abhängige Journalisten (Vermittler) und blöde Rezipienten (Empfänger) zertrümmern. Blogs sind die Kalaschnikow für den Partisanenkrieg: Billig, robust, überall einsetzbar, hohe Feuerrate. Blogs sind eine Waffe. (Alphonso 2004a, S. 303)
2.1 Entwicklung der Blogosphäre
Über den Ursprung der Blogs sind sich Wissenschaftler und Blogger nicht einig. Susan Herring argumentiert, dass die Mehrzahl der Blogs die Funktion eines Tagebuches erfüllt und deswegen von der Jahrhunderte alten Tradition des handgeschriebenen Tagebuches abstammt (Herring et al. 2004, S. 10). Dagegen behauptet die Blog-Pionierin Rebecca Blood, dass Blogs sich vor allem durch ihre Funktion als Informationsfilter auszeichnen und sich deswegen direkt aus den Linklisten der 90er Jahre, den sogenannten hotlists, entwickelt haben (Blood 2002b).
Über das erste Weblog konnte man sich auch nicht einigen. Einige Blogger behaupten, dass das erste Weblog 1992 von Tim Berners-Lee eröffnet wurde, dem Erfinder des World Wide Web (Winer 2002). Auf seiner Seite veröffentlichte er technische Neuigkeiten über seinen W3-Browser, den er in der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) entwickelte. Andere sehen die Geburtsstunde der Weblogs im April 1997, als der Software-Entwickler Dave Winer seine Webseite Scripting News ins Netz stellte (Nardi et al. 2004, S. 3). Auf Scripting News reflektierte Winer über eine große Bandbreite an Themen. Laut Nardi et al. ist Scripting News das zur Zeit am längsten bestehende Weblog (Nardi et al. 2004, S. 3).
Der Begriff „Weblog“ oder „Blog“ wurde aber erst Ende 1997 vom Programmierer John Barger eingeführt. Massentauglich wurden Blogs erst zwei Jahre später, als die Firma Pyra Labs einen kostenlosen Blogging-Dienst namens blogger.com bereitstellte, der mittlerweile vom Suchmaschinenbetreiber Google aufgekauft wurde. Blogger.com und ähnliche Dienste ermöglichten es auch technisch weniger versierten Nutzern in kurzer Zeit ein eigenes Blog zu eröffnen. Innerhalb von sieben Jahren stieg die Zahl der Blogs von ein paar Hundert auf mehrere Millionen (vgl. Winer 2002).
Dass Blogger nicht mehr eine kleine Gruppe von Computerfreaks sind, sondern eine ernstzunehmende mediale Macht, musste der Star-Journalist des CBS-Nachrichtenmagazins 60 Minutes, Dan Rather, im März 2005 schmerzlich erfahren. Rather hatte seinem Fernsehpublikum gefälschte Dokumente vorgelegt, die beweisen sollten, dass sich US-Präsident George W. Bush während seiner Zeit bei der Nationalgarde einem Befehl entzogen hatte.
Direkt nach der Sendung tauchten im Netz Zweifel an der Echtheit der Papiere auf. Die Folge: Rather musste gehen – als erstes und bedeutendstes Opfer des traditionellen Journalismus. (Bonstein 2005, S. 82ff)
Im Internet wird der Fall in Anlehnung an „Watergate“ auch als „Rathergate“ bezeichnet. In der Watergate-Affäre deckten die Washington Post -Reporter Robert Woodward und Carl Bernstein die illegalen Machenschaften des US-Präsidenten Richard Nixon auf, die zu seinem Rücktritt führten. Die Diskussion, ob kritische, unabhängige Blogger in Zukunft professionelle Journalisten ersetzen werden, wird im Netz seit Jahren leidenschaftlich geführt, zum Beispiel auf Don Alphonsos Weblog Blogbar:
Zwischen Bloggern und schreibenden Journalisten gibt es eine innige Hassliebe. Viele Blogs sind als Reaktion auf etablierte Mediendefizite entstanden. (Alphonso 2004a, S. 14)
Neben Dan Rather war der amerikanische Fahrradschloss-Hersteller Kryptonite ein weiteres prominentes Opfer, an dem die Bedeutung der Blogosphäre deutlich wird. Die Firma hatte sich nach dem Heimatplaneten des Comic-Helden Superman benannt und war dafür bekannt, unknackbare Schlösser zu produzieren. Im September 2004 gelang es jedoch dem Kryptonite-Kunden Chris Brennan, ein Schloss mit einem Kugelschreiber zu öffnen. Das Ganze nahm er auf Video auf und veröffentlichte es auf seinem Blog www.bikeforums.net. Das Video wurde von Blog zu Blog verlinkt und landete innerhalb von fünf Tagen als Skandal-Bericht in der New York Times (Polgreen 2004). Der Image-Schaden für das Unternehmen war beträchtlich. Die Folge: Viele PR-Abteilungen beobachten mittlerweile die Blogosphäre mit sogenannten „Monitoringtools“, um bei Problemen und Gerüchten frühzeitig reagieren und gegensteuern zu können (vgl. Wolff 2006).
2.2 Größe der Blogosphäre
Die Zahl der Blogs steigt seit dem Jahr 2000 fast exponentiell an (Henning 2005, S. 3). Die Computerzeitschrift c’t schätzt, dass sich ihre Zahl alle fünf Monate verdoppelt (Sixtus 2005, S. 148). Wie viele Blogs es weltweit gibt, lässt sich nicht genau ermitteln, die Schätzungen reichen von 30,9 Millionen (Gordon 2006) bis 200 Millionen Blogs (Von Randow 2006, S. 43). Der Kommunikationswissenschaftler Jan Schmidt geht davon aus, dass es in Deutschland Anfang 2006 rund 40.000 Weblogs gab (Schmidt 2006, S. 18). Der Wendepunkt zum explosionsartigen Wachstum kam im Oktober 2003 (vgl. Henning 2005, S. 3). Die Forscher der amerikanischen Beratungsfirma Perseus nehmen an, dass die Initiative eines Mannes dafür der Auslöser war: Blog-Pionier Dave Winer veranstaltete im Oktober 2003 den ersten Blogger-Kongress BloggerCon an der Harvard Law School.
Das erste Bloggercon zog unglaublich viel Aufmerksamkeit der Mainstream Medien auf sich. Die Aufmerksamkeit trieb das Interesse für Blogs in die Höhe und beschleunigte das Wachstum von Blogs dramatisch. (Henning 2005, S. 3)
Für die Situation in den USA hat das Forschungsinstitut Pew Internet & American Life Project genauere Zahlen vorgelegt. Laut einer Pew -Studie aus dem Jahr 2005 hatten im Juni 2002 zwei Prozent aller Internetnutzer in den USA ein eigenes Weblog (Rainie 2005). Seitdem ist der Anteil der Blogger stark gewachsen. Ende 2004 bloggten bereits sieben Prozent der amerikanischen Internetnutzer. Die Zahl der Blog-Leser sei im selben Jahr auf 27 Prozent der amerikanischen Internetnutzer gestiegen. Eine Pew -Studie aus dem Jahr 2006 hat ergeben, dass heute um die acht Prozent der erwachsenen amerikanischen Internetnutzer ein Blog führen. 39 Prozent der Befragten nutzen und lesen diese Blogs (Lenhart et al. 2006, S. 2).
Bereits 2003 relativierten Perseus -Forscher die Blog-Euphorie mit ihrer Untersuchung von 3634 zufällig ausgewählten Blogs der acht führenden Blog-Hoster (Henning 2003, S. 1). Der Autor der Studie, Jeffrey Henning, vergleicht die Blogosphäre mit einem Eisberg:
Wenn man „Blog“ sagt, denken die meisten Leute an die bekanntesten Blogs, die mehrmals am Tag aktualisiert werden und Zehntausende Besucher täglich haben. Diese machen aber nur die Spitze des Eisbergs aus: Zwar sehr gut sichtbar, aber nicht charakteristisch für den ganzen Eisberg. Unter dem Wasserspiegel stecken die Millionen Blogs, die fast nicht verlinkt sind, weil sie nur für Familie, Freunde und Kollegen interessant sind. (Henning 2003, S. 3)
Die Perseus -Forscher fanden heraus, dass es zwar Millionen Blogs gibt, die meisten aber verwaist sind. 66 Prozent der untersuchten Blogs waren zwei Monate lang nicht aktualisiert worden. Die aktiven Blogs wurden im Schnitt alle zwei Wochen aktualisiert. Nur 1,2 Prozent der Blogger schrieb täglich.
2.3 Motive, Selbstverständnis und Demografie der Blogger
Als die Zahl der Blogger während des Irakkriegs 2003 weiter anstieg und ihnen die klassischen Medien mehr und mehr Aufmerksamkeit schenkten, festigte sich bei vielen Bloggern, Journalisten und Wissenschaftlern die Ansicht, der prototypische Blogger sei ein unabhängiger Amateur-Journalist, der subjektiv und authentisch vor Ort berichtet. Dieses Bild ist falsch, wie Susan Herring bereits in einer Studie aus dem Jahr 2004 feststellte (Herring et al. 2004). Mittels einer Inhaltsanalyse von 203 zufällig ausgewählten Blogs fand Herring heraus, dass die Zahl der sogenannten Filter-Blogs, die externe Informationen aus dem Internet kommentieren und auswählen, um dem Nutzer Orientierung zu bieten, lediglich 15 Prozent beträgt. Watchblogs würden unter diese Kategorie fallen. 70 Prozent der Blogger nutzen ihr Blog dagegen als eine Art Online-Tagebuch, um über ihr Leben, persönliche Erfahrungen und Gefühle zu schreiben.
Bloggen ist eine Freizeitbeschäftigung. In einer umfangreichen Studie von Lenhart et al. gaben 84 Prozent der Blogger an, ihr Blog sei ein „Hobby“ oder „Etwas, dass ich mache, aber nicht etwas, mit dem ich viel Zeit verbringe“ (Lenhart et al. 2006, S. 2). Der Gegensatz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit von dem, was ein Blog ist, veranlasste den Geschäftsführer von Perseus, Jeffrey Henning, zu der schnippischen Bemerkung:
Blogging mag vieles sein. Aber das typische Blog wird von einer Teenagerin geschrieben, die es zwei Mal im Monat nutzt, um ihre Freunde und Schulkameraden über ihr Leben auf dem Laufenden zu halten. (Henning 2003, S. 3)
Die Informatikerin Bonnie Nardi von der University of California hat 2004 einen ersten Versuch unternommen, die Motive der Blogger zu identifizieren (Nardi et al. 2004). In ihrer Studie untersuchte sie einen Teilbereich der Blogosphäre, den sie als „die gewöhnlichen Blogger“ bezeichnet. Laut Nardi erreichen nur wenige Blogs, wie das Technik-Blog Slashdot, ein großes oder gar internationales Publikum.
Die Aufmerksamkeit der Medien richtet sich normalerweise auf diese Schwergewichte, aber die überwältigende Mehrheit der Blogs wird von gewöhnlichen Leuten für viel kleinere Publika geschrieben. (Nardi et al. 2004, S. 1)
Stichprobenartig fragte Nardi 23 Blogger zwischen 19 und 60 Jahren, warum sie bloggen. Aus den Antworten destillierte sie die folgenden fünf Hauptmotive: „Dokumentieren des eigenen Lebens“, „Kommentieren und Meinung äußern“, „tiefe Gefühle ausdrücken“, „Ideen durchs Schreiben ausarbeiten“ und „Communities gründen und pflegen“.
Ein Jahr später veröffentlichten Andy Koh und seine Kollegen vom Singapore Internet Research Centre eine weit umfangreichere repräsentative Umfrage, in der sie herausfinden wollten, wer warum bloggt (Koh et al. 2005, S. 2ff). In der Studie befragten die Forscher 6000 englischsprachige Blogger. Daraus ging ein Sample von 1224 Antwortbögen hervor. Die Ergebnisse der Studie bestätigten Nardis Annahme, dass die Mehrheit der Blogger für ein sehr kleines Publikum schreibt. Koh et al. teilten die Blogs daher in zwei Kategorien ein: Die sogenannten personal und non-personal Blogs. 73 Prozent der Befragten ordneten ihr Blog als personal ein, also einem Online-Tagebuch ähnlich, in dem hauptsächlich über die eigenen persönlichen Erfahrungen berichtet wird. Die restlichen 27 Prozent nannten ihr Blog eher non-personal. In diesen Blogs liegt der Fokus auf bestimmten Themen, das Ziel ist meist ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Non-personal Blogger sind zum Großteil Männer, die eine höhere formale Bildung als personal Blogger haben. Außerdem haben non-personal Blogger im Schnitt mehr Leser, aktualisieren ihr Blog häufiger und verbringen mehr Zeit damit.
Personal und non-personal Blogger schreiben aus unterschiedlichen Motiven (Koh et al. 2005, S. 5). Mehr als die Hälfte der personal Blogger schreiben, um „ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken“ und „ihr Leben zu dokumentieren“. Non-personal Blogger dagegen schreiben mehrheitlich, um „zu kommentieren“ und „Informationen zu liefern“. Weniger als zehn Prozent beider Gruppen bloggen, um „andere zu unterhalten“ und „andere in ihren Handlungen zu beeinflussen“.
Eine Umfrage unter mehr als 4000 deutschen Bloggern aus dem Jahr 2005 zeigte, dass die von Koh et al. beschriebene Spaltung der Blogosphäre auch für Deutschland gilt. 70 Prozent der von Jan Schmidt befragten Blogger gaben an „zum Spaß“ zu schreiben. Lediglich 30 Prozent bloggen, weil sie ihr „Wissen in einem Themengebiet anderen zugänglich machen wollen“ (Schmidt 2006, S. 43).
Die Ergebnisse von Koh et al. und Schmidt wurden weitgehend von einer Pew -Studie aus dem Jahr 2006 bestätigt (Lenhart et al. 2006). Im Auftrag des Instituts haben Amanda Lenhart und Susannah Fox zwischen Juli 2005 und Februar 2006 mehr als 200 Blogger beobachtet und anschließend bis April nochmals rund 7000 am Telefon befragt. Im Gegensatz zu Koh et al. unterscheiden Lenhart und Fox nicht zwischen personal und non-personal Bloggern. Laut ihrer Studie sind mehr als die Hälfte der amerikanischen Blogger jünger als 30 Jahre, weitere 30 Prozent sind zwischen 30 und 50 Jahren. Das Verhältnis von Männern und Frauen ist ausgeglichen.
Die Ergebnisse von Lenhart et al. und Koh et al. decken sich auch bei der Frage nach den Motiven. Laut Lenhart et al. bloggen mehr als 70 Prozent, um „ihre persönlichen Erfahrungen zu dokumentieren und zu teilen“ und „sich kreativ auszudrücken“ (Lenhart et al. 2006, S. 4). Diese 70 Prozent würden Koh et al. als personal Blogger bezeichnen. Lenhart et al. haben nicht nach dem Motiv „Kommentierung“ oder „Austausch von Informationen“ gefragt, deswegen fällt eine Zuordnung zur Kategorie der non-personal Blogger schwer.
Eine Folgestudie von Jeffrey Henning im Jahr 2005 widerspricht den demografischen Ergebnissen von Lenhart et al. (Henning 2005, S. 4). Henning befragte 10.000 zufällig ausgewählte Blogger der 20 führenden Blog-Hoster. Im Vergleich zu seiner Studie aus dem Jahr 2003 war die Blogosphäre deutlich weiblicher geworden (vgl. Henning 2003). 2003 waren 56 Prozent der Blogger weiblich. Zwei Jahre später waren es bereits 70 Prozent. Im gleichen Zeitraum hat auch der Anteil bloggender Teenager von 50 auf 60 Prozent zugenommen.
2.4 Entstehung der Watchblogs
Der Begriff „Watchblog“ wurde im Dezember 2003 während des Wahlkampfes um die US-Präsidentschaft geprägt. Der Amerikaner Tim Withers hatte sich über einen Artikel der New York Times Kolumnistin Jodi Wilgoren geärgert, die in ihrer Berichterstattung seinen Lieblingskandidaten Howard Dean kritisierte. Withers holte zum Gegenschlag aus und gründete mit The Wilgoren Watch das erste Watchblog (vgl. Withers 2004).
Er kämmt Wilgorens Wortwahl durch und stürzt sich dabei auf jede Andeutung politischer Voreingenommenheit. Und dann, wenn er mit seiner Analyse fertig ist, veröffentlicht Withers seine Ergebnisse auf The Wilgoren Watch, seinem neuen Weblog, dass er ganz Jodi gewidmet hat. (Shachtman 2004)
In der Blogosphäre sprach sich die Idee schnell unter dem griffigen Motto „Adopt a Journalist“ herum (vgl. Rosen 2004). Im Sog des US-Wahlkampfes gründeten die Anhänger von Republikanern und Demokraten ihre eigenen Journalisten-Watchblogs. Der anonyme Blogger „Aeolus“ beobachtete gleich zwei Journalisten: Im Patricia Wilson Watch spürte er der Reuters Reporterin Patricia Wilson nach (Aeolus 2004), in What a Pickler schaute er der AP-Journalistin Nedra Pickler auf die Finger (Aeolus Offline). Ein anderer anonymer Blogger kümmerte sich in Enduring Friedman um Thomas Friedmann von der New York Times (k.A. Offline). Im Internet gelten die Watchblogger seitdem als die Kontrolleure der Kontrolleure (vgl. Sixtus 2004, S. 10). Auch in Deutschland haben sich in den letzten Jahren verschiedene Medien-Watchblogs, wie Bildblog, Spiegelkritik oder OstseeZeitungBlog herausgebildet, die allerdings eher die Arbeit ganzer Redaktionen beobachten, als einzelne Journalisten (vgl. Schultheis 2006, Heiser 2006, Meyke 2006).
3 Von der Medienethik zum Ethik-Kodex für Blogger
In den 80er Jahren haben eine Reihe von Medienskandalen einen „bislang beispiellosen Diskurs über die Moral im Medienbereich ausgelöst“ (Pohla 2006, S. 16). Zu diesen Skandalen zählt vor allem der Abdruck der gefälschten Hitlertagebücher durch die Zeitschrift Stern, das Stern -Cover des toten damaligen Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins Uwe Barschel sowie das Verhalten der Journalisten, die über das Geiseldrama von Gladbeck berichteten. Seit Mitte der 80er Jahre ist das öffentliche Interesse an medienethischen Fragen zwar deutlich gestiegen, eine kontinuierliche öffentliche Debatte hat sich aber nicht entwickelt (vgl. Pohla 2006, S. 16). Nach jedem Skandal bricht eine neue, meist kurzfristige Diskussion in Politik, Medien und Gesellschaft los, wie der Amoklauf eines 18-Jährigen in Emsdetten am 20. November 2006 wieder gezeigt hat. Der Mann hatte an seiner ehemaligen Schule fünf Menschen durch Schüsse verletzt. Da er auch sogenannte „Killer-Spiele“ wie Counter-Strike spielte, forderten Politiker sofort, gewaltverherrlichende Computerspiele zu verbieten. Für langfristige medienethische Überlegungen nehmen sich Politik und Medien meist keine Zeit.
Die Diskussion einer Medienethik erfordert die Definition der Begriffe Medien, Moral und Ethik. Der Begriff Medien bezeichnet in den meisten medienethischen Texten die klassischen Massenmedien Zeitung, Zeitschrift, Hörfunk und Fernsehen, die von Journalisten erstellt werden. In neueren Veröffentlichungen werden aber zunehmend auch neue Medien wie das Internet berücksichtigt (Pohla 2006, S. 48). Im Gegensatz zu den klassischen Massenmedien bietet das Internet aber nicht nur Journalisten, sondern jedem Nutzer die Möglichkeit, als Kommunikator aufzutreten. Daher stellt sich die Frage, ob unter Medien nur der journalistisch genutzte Bereich des Internets gefasst werden sollte. Da nur eine Minderheit aller Weblogs einen journalistischen Anspruch hat, wird in dieser Arbeit Anika Pohlas breitere Definition von Medien verwendet:
Zu den in den Gegenstandsbereich der Medienethik fallenden Medien sollen (...) alle solchen medialen Angebote zählen, welche die Art und Weise des Empfängers beeinflussen, wie er die Welt wahrnimmt und deutet. (Pohla 2006, S. 52)
Mit Moral ist nach Heinz Pürer „jenes uns anerzogene Werte-, Sitten- und Normengeflecht gemeint, auf dessen Basis wir täglich bewusst oder unbewusst unsere Handlungen vollziehen“ (Pürer 2003, S. 143). Anhand der Moral entscheiden wir also, ob etwas gut oder schlecht ist.
Unter Ethik versteht man dagegen das „Nachdenken über unsere (moralisch bedingten und moralisch zu bewertenden) Handlungen“ (Pürer 2003, S. 143). Ethik ist also die wissenschaftliche Reflexion über Moral. Nach Jürgen Wilke sollen ethische Prinzipien „den Spielraum des rechtlich nicht Verbotenen auf das moralisch Verantwortbare eingrenzen“ (Wilke 1998, S. 292). Das soll aber nicht heißen, dass Gesetze unmoralisch wären. Gesetze, Grundrechte und Verfassungsbestimmungen sind letztlich auch moralische Normen, auf die sich die Legislative einer Gesellschaft geeinigt hat (vgl. Pürer 2003, S. 144). Der Unterschied zwischen Gesetzen und moralischen Normen, die in einem Ethik-Kodex festgeschrieben sind, ist jedoch, dass Verstöße gegen einen Kodex viel schwerer zu sanktionieren sind, weil sie meist kein geltendes Recht verletzen.
3.1 Der Ansatz: Normative Individualethik
Nach Heinz Pürer lässt sich die Medienethik in drei Verantwortungsbereiche einteilen (Pürer 2003, S. 144ff): Die Individual-, die System- und die Publikumsethik. Während in der Publikumsethik nach der Verantwortung des Rezipienten gefragt wird, und in der Systemethik das System untersucht wird, in das der Medienschaffende eingebunden ist, beschränkt sich die Individualethik auf die Verantwortung des Einzelnen. In dieser Arbeit wird die Ethik der Blogger einzig aus der individualethischen Perspektive beleuchtet. Es wird gezeigt, an welchen ethischen Grundsätzen sich der einzelne Blogger orientiert oder orientieren sollte, wenn er entscheidet, ob und wie er Informationen publiziert.
Lohnenswert wäre sicher auch ein publikumsethischer Ansatz: Welche Verantwortung haben die Leser eines Blogs, die durch die Kommentarfunktion auf dem Blog die Möglichkeit haben, vom Rezipient zum Sender zu werden? Ein systemethischer Ansatz der Blogosphäre scheint weniger sinnvoll, weil Blogger durch kostenlose Blogger-Software und die weit verbreitete Internet-Technik an kein übergeordnetes System gebunden sind. Wer bloggen will, braucht keine Redaktion, keinen Verlag und keine Druckerei. Das einzige systemethische Korrektiv könnte die Blogosphäre als Ganzes sein, die über Verfehlungen und Verdienste einzelner Blogger diskutiert.
Ingrid Stapf fügt Pürers drei Verantwortungsbereichen noch die sogenannte „Professionsethik“ hinzu. Diese Ethik betont die professionelle und gesellschaftliche Verantwortung und eignet sich laut Stapf besonders für eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Selbstkontrolle (Stapf 2006, S. 12). Da Bloggen im Gegensatz zum Journalismus eine Freizeitbeschäftigung und keine Profession ist, eignet sich dieser Ansatz für das Ziel dieser Arbeit nicht (vgl. Lenhart et al. 2006, S. 2).
Die Adressaten eines individualethischen Ansatzes sind die Personen, die direkt an der Herstellung von Medienprodukten beteiligt sind (Pohla 2006, S. 21). Für diese Personen sollen Normen aufgestellt werden, die das moralisch relevante Handeln im Bereich der Medien steuern sollen. Das Ziel eines normativen medienethischen Ansatzes ist dabei, „wenn nicht gar Allgemeingültigkeit, so doch zumindest eine möglichst breite Zustimmung der jeweiligen Adressaten zu erreichen” (Pohla 2006, S. 20). Ziel eines Ethik-Kodexes für Blogger muss also sein, möglichst viele Blogger davon zu überzeugen, die aufgestellten Normen zu befolgen.
In der kommunikationswissenschaftlichen Literatur werden verschiedene Einwände gegen einen normativ-individualethischen Ansatz genannt. Einer besagt, dass die Medienschaffenden wegen System- und Strukturzwängen in der Medienorganisation nicht die nötige Willens- und Handlungsfreiheit haben, ethische Normen einhalten zu können (vgl. Karmasin 1996, S. 209). Ob die Medienschaffenden diese Freiheit tatsächlich nicht haben, konnte bisher weder bewiesen noch widerlegt werden (Pohla 2006, S. 29). Da es für eine normative Medienethik aber eine Voraussetzung ist, dass Medienakteure in der Lage sind, ihre Entscheidungen von den entsprechenden Normen leiten zu lassen und umzusetzen, weil sie für ihre Handlungen ansonsten nicht verantwortlich gemacht werden können, muss die Willens- und Handlungsfreiheit der Medienschaffenden als Prämisse angenommen werden (vgl. Pohla 2006, S. 30). Da Blogger normalerweise keinen redaktionellen Zwängen unterliegen, darf angenommen werden, dass sie die nötige Willens- und Handlungsfreiheit haben, um ethische Normen einhalten zu können.
Eine weitere These gegen eine normative Individualethik besagt, dass die einzelnen Medienschaffenden die Folgen ihrer Handlungen nicht abschätzen können, weil sie nur einen geringen Beitrag zum Endprodukt beitragen (vgl. Köcher 1985, S. 173ff). Wenn der Beitrag eines Fernsehautors zum Beispiel nach der Mitarbeit von Kameramann, Tonmann und Cutter am Ende auch noch vom abnehmenden Redakteur geändert wird, kann man den Autor dann für den Beitrag verantwortlich machen? Anika Pohla argumentiert, dass jeder Medienakteur für seine Leistung verantwortlich gemacht werden kann, egal wie klein sie ist. Eine unmoralische Recherche sei unabhängig vom Endprodukt unmoralisch (Pohla 2006, S. 35). In der Blogosphäre hat der Blogger auch nur bedingten Einfluss auf das Endprodukt, wenn man dieses als den kompletten Diskussionsstrang definiert, der zusammen mit den Lesern entsteht. Wenn ein Blogger die Kommentare eines Lesers nicht löschen will, was unter Bloggern als Zensur gilt, kann er die Einträge höchstens kommentieren. Trotzdem setzt der Blogger selbst die Themen auf seinem Blog und kann dafür auch zur Verantwortung gezogen werden.
Rainer Leschke führt ein drittes Argument gegen einen normativ-individualethischen Ansatz ins Feld (Leschke 2001, S. 27ff und S. 99ff). Seiner Meinung nach kann eine normative Ethik nur dann funktionieren, wenn sie universelle Gültigkeit besitzt. Warum und von wem sollte sie sonst befolgt werden? Eine allgemeingültige Begründung sei jedoch nicht herzuleiten. Leschke versucht dies durch die Philosophiegeschichte zu begründen, in der noch kein Ethikansatz Allgemeingültigkeit erreicht habe (Leschke 2001, S. 98). Die Konsequenz ist für ihn eine deskriptive Medienethik, in der die Verhältnisse zwar beschrieben werden können, jedoch keinen Einfluss mehr auf das Mediensystem haben (Leschke 2001, S. 215). Pohla kann Leschkes historisches Argument nicht widerlegen, argumentiert aber, dass eine normative Ethik auch dann sinnvoll sei, wenn sie keinen universellen Anspruch habe, weil sie sich auf unbegründbare Prämissen stützen müsse (Pohla 2006, S. 38ff). Wenn es gelinge, Medienpraktiker von den Prämissen zu überzeugen, indem man ihnen beispielsweise die Konsequenzen ihrer Nichtbeachtung aufzeige, könne man auch die Anerkennung der daraus folgenden Normen fordern.
Das Steuerungspotenzial eines medienethischen Ansatzes hängt daher entscheidend davon ab, wie überzeugend die normativen Forderungen letztlich begründet werden. (Pohla 2006, S. 39)
Als Vorgehensweise schlägt Pohla daher vor, zuerst ein Problembewusstsein für moralische Konflikte bei den Medienakteuren zu schaffen und danach einen ethischen Normenkatalog aufzustellen und zu begründen. Normenkataloge oder Ethik-Kodizes haben verschiedene Vor- und Nachteile (Pohla 2006, S. 27). Einerseits bieten sie Journalisten und Bloggern eine grobe Orientierung in moralischen Fragen, sensibilisieren für ethische Konflikte, und haben eine erzieherische Funktion für Anfänger. Andererseits besteht aber auch die Gefahr, dass die Normen zu abstrakt, komplex und unübersichtlich gehalten sind, die moralischen Probleme der Adressaten nicht vollständig abdecken, und nicht überzeugend begründet sind.
Der ideale Ethik-Kodex muss daher konkret, vollständig, systematisch und durch die Rückführung der geforderten Normen auf die dahinter stehenden Werte überzeugend sein (Pohla 2006, S. 28). Im Unterschied zu einem grundlegenden ethischen Wert, ist eine Norm eine „Anwendung eines Wertes auf konkrete Handlungssituationen“ (Pohla 2006, S. 122). In der Literatur hat Pohla neun Werte identifiziert, die sie zur Begründung eines medienethischen Normenkatalogs verwendet. Die Werte sind: Wahrheit, Freiheit, Autonomie, Menschenwürde, Unverletzlichkeit der Person, Gleichheit, Gerechtigkeit, Humanität und Solidarität (Pohla 2006, S. 132). Ihren Normenkatalog passt Pohla an die in der Praxis auftretenden Probleme professioneller Journalisten an (Pohla 2006, S. 116-118). Blogger sind aber keine Journalisten, wie im nächsten Kapitel erläutert wird. Daher brauchen Blogger auch einen eigenen Ethik-Kodex. In Kapitel 3.3 werden drei solcher Kodizes vorgestellt.
3.2 Das Forschungsobjekt: Blogger, keine Journalisten
Blogger verstehen sich nicht als Journalisten, auch nicht als Amateur-Journalisten. Eine Blogger-Ethik muss daher andere Attribute erfüllen, als eine Journlisten-Ethik. 65 Prozent der Blogger, die in einer breit angelegten Studie von Lenhart et al. befragt wurden, sehen ihren Blog nicht als journalistische Form (Lenhart et al. 2006, S. 3). Eine Studie von Koh et al. hat außerdem gezeigt, dass 70 Prozent der Blogger ihr Blog als eine Art Online-Tagebuch nutzen, um Gefühle, Erfahrungen und Erlebtes zu dokumentieren (Koh et al. 2005, S. 1). Laut Don Alphonso unterscheiden sich Blogger von Journalisten vor allem durch ihre Einstellung:
Es geht fast immer um die radikal subjektive Erfahrung und Weltsicht. (...) Blogger berichten einseitig, parteiisch, sie kommentieren, machen sich lustig und sind mitunter grob bis beleidigend. Sie tun genau das, was man im Journalismus nicht tun darf. Blogs sind der Stoff, aus dem die Alpträume der Chefredakteure gemacht sind. (Alphonso 2004a, S. 41)
In der Blogosphäre hat sich eine eigene Kultur entwickelt, Informationen zu verifizieren. Im klassischen Journalismus selektiert, recherchiert und prüft der Redakteur die Fakten, bevor Informationen publiziert werden. In der Welt der Blogger wird erst veröffentlicht und dann verifiziert. Dieses Vorgehen wird in der Literatur auch collaborative reviewing genannt (vgl. Schmidt 2006, S. 127). Wegen der generell niedrigen Publikationsschwelle im Internet und der potenziellen Anonymität seiner Nutzer eignet sich die Blogosphäre daher als „ideale Brutstätte für die ungeregelte Verbreitung von Klatsch und Gerüchten, Verleumdungen und Lügen, Verschwörungstheorien und Wahnideen“ (Debatin 2003, S. 84). Da die Informationen in der Blogosphäre erst nach der Veröffentlichung überprüft werden, hängt ihre Qualität zu einem großen Teil von den Lesern ab. Mit jedem Kommentar bringen die Leser ein Stück ihres Wissens ein. Im besten Fall kommt die ursprüngliche Information dadurch der Wahrheit mit jedem Kommentar ein Stück näher. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht funktioniert dieses Prinzip also nur, weil in der interaktiven Anwendung Blog die Steuerungsfunktionen der Produzenten auf die Rezipienten übergehen können. Die Rezipienten können das Angebot beeinflussen und weiterentwickeln.
Im Vergleich zum Journalismus setzt dieses Prinzip aber eine höhere Medienkompetenz der Rezipienten voraus. Je nach Bildungsgrad und Zeitbudget der Rezipienten können „nutzungs- und rezeptionsbedingte Wissensklüfte” zwischen denen entstehen, die die Blogosphäre kompetent und kritisch als Informationsquelle nutzen, und jenen, für die die Blog-Welt ein Sammelsurium ungeordneter und ungeprüfter Daten darstellt (vgl. Debatin 2003, S. 83). Die Blogosphäre ist damit ein weiteres Beispiel für das Digital Divide, „worunter die mit dem Internet entstehenden neuen Formen der informellen Ungerechtigkeit durch Zugangsschranken zu verstehen sind“ (Debatin 2003, S. 81). Im Idealfall können die Leser technisch mit einem Blog und der Kommentarfunktion umgehen, kennen alternative Informationsquellen im Netz, und nutzen diese, um zwischen den verschiedenen Argumenten in den Kommentar-Diskussionen abzuwägen. Laut dem Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger scheint das System zu funktionieren:
Die Informationen und Meinungen, die [die Blogger] publizieren, stehen unter dem Vorbehalt, dass sie von den Nutzern erst noch genauer geprüft werden müssen. Dank der Interaktivität des Mediums ist dies durch formalisierte Bewertungsverfahren oder offen geführte Diskussionen möglich. (Neuberger 2003, S. 10)
Das heißt: Alles, was auf einem Blog zu lesen ist, gilt als vorläufig und unfertig (vgl. Fischer et al. 2005, S. 10). Die Blogger vertrauen also auf die Summe des Wissens in der Blogosphäre und auf ihre Selbstreinigungskraft. Die renommierte britische Wochenzeitung The Economist kommentierte dieses Prinzip der Wahrheitsfindung in einem Artikel mit dem Titel „Who killed the newspaper“ anerkennend:
Der einzelne Blogger mag voreingenommen sein und verleumden, aber als Gruppe bieten die Blogger dem Wahrheitssuchenden grenzenloses Material zum Nachdenken. (k.A. 2006b)
Weil sie ihr eigenes Verifikationssystem entwickelt haben, lehnen die meisten Blogger einen Ethik-Kodex ab, der verlangt, nur gesicherte Informationen zu veröffentlichen (vgl. Koh et al. 2005, S. 11). Eine Bloggerin mit dem Pseudonym „tiffany“ kommentierte den Blogger-Ethik-Kodex-Vorschlag eines amerikanischen Journalisten so:
Ich bezweifle, dass wir einen Ethik-Kodex brauchen. Normalerweise checkt die Blogosphäre Deinen A**** sehr schnell, wenn es nötig ist. Schlechte Informationen und Lügen stellen Deine Glaubwürdigkeit in Frage und machen Dein Blog weniger lesenswert. Eine Art Selbstkorrektur-Phänomen. (tiffany 2005)
Die Blogger, die ein Publikum erreichen wollen, das über den persönlichen Bekanntenkreis hinaus geht, müssen sich bei ihren Lesern Glaubwürdigkeit und Vertrauen erarbeiten. Wer nur haltlose Gerüchte verbreitet, wird auch in der Blogosphäre nur wenige Leser finden. Deswegen machen sich viele Blogger auch einerseits die Mühe, selbst zu recherchieren. In der Umfrage von Lenhart et al. gaben 56 Prozent der Blogger an, sich extra Zeit zu nehmen, um zu versuchen, Fakten zu verifizieren, die sie in einem Beitrag veröffentlichen wollen (Lenhart et al. 2006, S. 4). Andererseits dienen Links zu den Quellen der veröffentlichten Informationen dazu, dass sich die Leser orientieren und die Informationen einordnen können. 57 Prozent der von Lenhart et al. befragten Blogger gaben an, Links zu den Originalquellen „manchmal“ oder „oft“ einzubauen. Laut Don Alphonso dienen Links aber längst nicht mehr nur als Quellenangabe:
Sie sind ein Grundwährungsmittel im Internet geworden. In Zeiten, in denen jeder versucht eine Message an den Mann oder die Frau zu bringen (...), ist jeder Link eine Art Vertrauensbeweis, eine Empfehlung, (…) die mit entsprechendem Respekt behandelt werden sollte. Aus den Verlinkungen entsteht ein Netzwerk, das sich aus Empfehlungen zusammensetzt und damit das bislang vorherrschende System der alten Medien, das auf Vermittlung von Kompetenz und Autorität beruhte, unterbricht. (Alphonso 2004a, S. 326)
Dabei gibt Bernhard Debatin zu bedenken, dass ein Netzwerk aus Empfehlungen noch lange kein Garant für den Wahrheitsgehalt und die Glaubwürdigkeit der Informationen ist.
Durch die Hypertextualität des Webs können beliebige Inhalte unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt in ein selbstreferentielles Netzwerk aus Querverweisen eingebunden werden, was den Anschein gut belegter Wahrheit erweckt. (Debatin 2003, S. 83)
Zuverlässige und standardisierte Wahrheits- und Glaubwürdigkeitsindikatoren haben sich im Internet noch nicht in einem mit dem klassischen Mediensystem vergleichbaren Maße gebildet. In den klassischen Medien haben sich diese Indikatoren zusammen mit dem Selbstverständnis der Journalisten über Jahrhunderte entwickelt. Die heutigen Werte und Moralvorstellungen der deutschen Journalisten sind im Pressekodex festgeschrieben und werden durch den Deutschen Presserat vertreten und überwacht (vgl. Deutscher Presserat 2006). Eine vergleichbare Institution gibt es in der jungen Blog-Welt nicht (vgl. Schmidt 2006, S. 123). Im nächsten Kapitel werden Vorschläge für einen Blogger-Ethik-Kodex diskutiert, die von Bloggern und Journalisten entworfen wurden.
3.3 Aus der Praxis: Blogger-Ethik-Kodizes im Vergleich
Der Ursprung ethischer Verhaltensregeln im Internet ist die sogenannte Netiquette. Das Wort ist eine Wortneuschöpfung aus „Net“ und „Etiquette“ und steht für eine Art Internet-Knigge. Der Medienphilosoph Mike Sandbothe nennt die Netiquette auch die „pragmatische Netznutzungsethik” (Sandbothe 1996, S. 2). Laut Sandbothe spiegeln sich in der Netiquette die moralischen Standards der westlichen Industrienationen wider. Das komme daher, dass sich die Netiquette in den 80er Jahren durchgesetzt habe, als das Internet größtenteils von amerikanischen Wissenschaftlern zum Austausch von Informationen genutzt wurde. Die Netiquette – und damit die Netzpraxis – sei daher von den für eine akademische Gemeinde charakteristischen Idealen geprägt worden. Diese seien: Transparenz, der freie Fluss von Informationen, Redlichkeit, Aufgeschlossenheit, Gesprächsbereitschaft, Neugier und Offenheit gegenüber neuen Argumenten (Sandbothe 1996, S. 2).
Eine der grundlegenden Netiquette -Regeln lautet: Vergiss nie, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitzt (Djordjevic 1996, S. 1). Diese Regel lässt darauf schließen, dass die Anonymität des Internets von den Nutzern als Problem wahrgenommen wurde. Kommunikationswissenschaftlich lässt sich diese Anonymität dadurch erklären, dass bei der computervermittelten Kommunikation zentrale nonverbale Elemente, wie Mimik, Gestik, Tonfall und Blickkontakt wegfallen. Ohne diese wechselseitigen Wahrnehmungs- und Kontrollmöglichkeiten „kann computervermittelte Kommunikation einen unverbindlichen und anonymen Charakter annehmen“ (Pürer 2003, S. 96-97).
Eine allgemeingültige Netiquette hat es nie gegeben. Jede Netzgemeinde hat ihre eigenen Konventionen entwickelt. Während einige die von Sandbothe beschriebenen Ideale enthielten, waren andere lediglich eine Zusammenfassung von Höflichkeits- und Sprachregeln (Pohla 2006, S. 86). Schon in den 90er Jahren berichteten Autoren darüber, dass die Netiquetten in den jeweiligen Netzgemeinden an Bedeutung verloren und vielen unbekannt waren (Wetzstein 1995, S. 205f). Die Kommunikationswissenschaftlerin Anika Pohla geht davon aus, dass der Großteil der heutigen Internetnutzer die Netiquetten nicht mehr kennt (Pohla 2006, S. 86).
Koh et al. waren 2005 die ersten, die Blogger nach ihren ethischen Ansichten und ihrer Ethik in der Praxis befragten. Dabei zeigte sich überraschenderweise, dass non-personal Blogger und personal Blogger fast die gleichen ethischen Ansichten haben (vgl. Koh et al. 2005, S. 10ff). Für beide Gruppen war das Prinzip Zuordnung wichtiger als Wahrheit, Schadensminimierung und Verantwortung. Das Prinzip der Verantwortung wurde von beiden Gruppen als das unwichtigste eingestuft. Unter Zuordnung fassen Koh et al. die Bereiche Plagiarismus, Anerkennung geistigen Eigentums, und Nennung von Quellen. Verantwortung impliziert, sich dem Publikum gegenüber verantworten zu müssen, Interessenskonflikte offen zu legen, und die Konsequenzen seines Handelns zu tragen. Koh et al. erklären sich die Ergebnisse dadurch, dass Zuordnung beim Bloggen eine Community-bildende Funktion hat. Das schlechte Abschneiden des Prinzips Verantwortung könne von der weit verbreiteten Ansicht herrühren, dass die Menschen im Cyberspace ihre Meinung ohne Konsequenzen verbreiten können. Viele Menschen nehmen das Internet immer noch als rechtsfreien Raum wahr (vgl. Viégas 2005, S. 19).
In der Praxis weichen die personal Blogger von ihren Ansichten ab. Die Mehrheit der personal Blogger stufte das Prinzip Schadensminimierung beim tatsächlichen Bloggen als wichtiger ein als Wahrheit und Zuordnung. Unter Schadensminimierung fassen Koh et al. die Bereiche Achtung der Privatsphäre, Diskretion, Umgangston und Respekt gegenüber anderen Kulturen und unterprivilegierten Gruppen. Wahrheit impliziert dagegen Werte wie Ehrlichkeit, Fairness und Gleichheit. Die non-personal Blogger gaben in Theorie und Praxis die gleichen Prinzipien an. Überraschenderweise stehen beide Gruppen einem Ethik-Kodex für Blogger gleichermaßen skeptisch gegenüber (Koh et al. 2005, S. 12).
3.3.1 Jonathan Dube – Vom Journalisten-Kodex adaptiert
Im April 2003 veröffentlichte der bekannte amerikanische Print- und Online-Journalist Peter Dube einen „Bloggers’ Code of Ethics” auf der News-Seite CyberJournalist.net, die von einer Vereinigung professioneller Online-Journalisten getragen wird (Dube 2003). In seinem Vorwort schreibt Dube, dass verantwortungsbewusste Blogger ethische Verpflichtungen haben – auch wenn sie keine Journalisten sind. Er habe deswegen nach dem Vorbild des Ethik-Kodexes der Society of Professional Journalists einen Blogger-Ethik-Kodex entworfen. Blogger, die diese Regeln befolgen, würden ihrem Leser mitteilen, dass sie vertrauenswürdig sind.
Obwohl Dube ein Online-Pionier ist, hat er offensichtlich keine Ahnung über die Mechanismen der Blogosphäre. Dass ein Journalist auf einer Journalistenseite der anarchischen und notorisch Journalisten-kritischen Blogger-Gemeinde einen quasi-journalistischen Ethik-Kodex vorsetzt, muss auf die meisten Blogger arrogant und herablassend gewirkt haben. Durch die explizite Wahl eines Journalistenkodexes als Vorbild für eine Blogger-Ethik suggeriert Dube, dass alle Blogger Amateur-Journalisten seien – was sie nicht sind – und ignoriert außerdem das blogtypische Wahrheitsfindungsprinzip des collaborative reviewing (siehe Kapitel 3.2).
Seinen mit 2600 Zeichen relativ umfangreichen Kodex gliedert Dube in die drei Hauptforderungen „Sei ehrlich und fair“, „Minimiere den Schaden“ und „Sei verantwortlich“. Darin fordert er von den Bloggern, sich wie professionelle Journalisten zu verhalten. Ein Auszug: „Blogger sollten: (...) nie abschreiben, (...) nichts sinnentstellend vereinfachen, (...) niemals falsche Fakten veröffentlichen, (...) niemals Fakten verzerren, (...) Bilder nur wegen der technischen Qualität bearbeiten, (...) Fehler zugeben und berichtigen, (...) die Mission des Blogs erklären, (...) Interessenskonflikte offenlegen, (...) zwischen Kommentar und Meldung unterscheiden, (...) und unethische Blogger verpfeifen“ (Dube 2003).
Die Kommentare zu Dubes Kodex auf CyberJournalist.net sind sowohl positiv, als auch negativ. Interessant sind vor allem die Leser, die den Kodex ablehnen. Ein Leser namens „Rooty“ stellt die Basis von Dubes Kodex in Frage und schreibt, für ihn sei das nichts anderes als Dubes persönliche Meinung. Rooty fragt:
Welches Recht hast Du, dieses ganze Zeug irgendjemandem aufzuzwingen? Wenn ich andere neugierig machen will, dann habe ich das Recht das zu tun. Es gibt kein Gesetz, dass mir das verbieten kann. Bildbearbeitung ist nur zur Verbesserung der technischen Qualität akzeptabel? Werd’ erwachsen! Man kann es auch zum Spaß machen! Am schlimmsten ist, dass Du nicht einmal einen vernünftigen Weg gefunden hast, wie man so eine bescheuerte Liste durchsetzen könnte. (Rooty 2004)
Rooty spricht drei Probleme an. Erstens, hätte Dube seinen Kodex auf die sehr kleine Anzahl von Bloggern mit journalistischem Anspruch beschränken sollen oder einen viel weniger journalistisch geprägten Kodex erstellen müssen. Zweitens, stellt sich die Frage, warum Blogger freiwillig einen Ethik-Kodex befolgen sollten. Und schließlich drittens, ist unklar, wie ein freiwilliger Ethik-Kodex für Blogger im Internet durchgesetzt werden könnte.
Warum sollten Blogger oder andere Medienschaffende freiwillig einen Ethik-Kodex befolgen? Nach Anika Pohla müsste die Antwort lauten, dass die Medienschaffenden davon überzeugt werden müssen, dass es das Beste für sie und die Gesellschaft ist, die Normen des Kodexes zu befolgen. Dies würde aber nur funktionieren, wenn es den Medienethikern gelänge, einen Normenkatalog aufzustellen, dessen Begründung und Rückführung auf die entsprechenden Werte so eingängig wäre, dass die Vorteile jedem Medienschaffenden sofort einleuchten würden (Pohla 2006, S. 39ff). Auf die Frage nach der Durchsetzbarkeit eines Ethik-Kodexes antwortet Pohla:
Mangelnde Durchsetzung einer Norm ist kein Argument gegen die Richtigkeit dieser Norm, weshalb die Formulierung von Normenkatalogen durchaus Sinn hat – selbst wenn sämtliche Normen in der Praxis ignoriert würden. (...) Wo gar nicht erst versucht wird, normative Forderungen an journalistisches Handeln zu stellen, können sie auch nicht befolgt werden. (Pohla 2006, S. 25)
Zwei Jahre nach Dube hat Dan Gilmor seinen ethischen Normenkatalog der Bloggergemeinde vorgestellt.
3.3.2 Dan Gilmor – Für journalistische Blogger
Der amerikanische Journalist Dan Gilmor veröffentlichte seinen Ethik-Kodex im „Handbuch für Blogger und Cyber-Dissidenten” der Journalistenvereinigung Reporter ohne Grenzen. Gilmors Kodex sollte aber nicht für alle Blogger gelten, wie er im ersten Satz seines Beitrages erklärt:
Nicht alle Blogger sind Journalisten. Die meisten sind es nicht. Aber wenn sie es sind, sollten sie moralisch einwandfrei arbeiten. (Gilmor 2005, S. 23)
Im Gegensatz zu Dube war Gilmor clever genug, nicht alle Blogger über einen Kamm zu scheren. Leider definiert er in seinem Beitrag jedoch nicht genau, was er unter Bloggern versteht, die journalistisch arbeiten. Man kann nur annehmen, dass er sich damit auf die rund 25 Prozent der Blogger bezieht, die Koh et al. als non-personal Blogger bezeichnen (Koh et al. 2006, S. 1). Die meisten non-personal Blogger sind männliche Erwachsene, die mit ihrem Blog ein größeres Publikum anstreben, mittels externer Fakten informieren und kommentieren möchten, und zum Großteil einen journalistischen Ansatz haben (Koh et al. 2006, S. 12).
Guter Journalismus steht für Gilmor auf fünf Säulen (Gilmor 2005, S. 24): Gründlichkeit, Sorgfalt, Fairness, Transparenz und Unabhängigkeit. Unter Gründlichkeit versteht er, die Leser wenn immer möglich um ihren Input zu fragen. Sorgfalt heiße, Fehler schnell zu korrigieren. Fairness beim Bloggen bedeute, gegensätzliche Meinungen in den Kommentaren zuzulassen. Transparent arbeite der, der zu den Originalquellen linkt und seine persönliche Befangenheit offenlegt. Unabhängig sei der, der sich dem Druck von Unternehmen und Regierungen widersetzt.
Aus journalistischer Sicht sind Gilmors Forderungen verständlich und lobenswert. Das Problem ist, dass man nicht weiß, welche Blogger die Forderungen befolgen und umsetzen sollen. Laut den Politikwissenschaftlern Daniel Drezner und Henry Farrell können in den USA, dem Mutterland der Blogger, weniger als zwei Dutzend Menschen vom Bloggen leben (Drezner et al. 2004a, S. 4). Für die anderen ist es schlicht ein Hobby (vgl. Lenhart et al. 2006, S. 2). Sollten Gilmors Forderungen also auch für journalistisch ambitionierte Hobby-Blogger gelten? Es scheint unrealistisch, dass sich Hobby-Blogger an das von Gilmor skizzierte Regelwerk halten, zudem es das blogtypische Wahrheitsfindungsprinzip des collaborative reviewing ignoriert.
3.3.3 Rebecca Blood – Der erste Blogger-Kodex
Neben den Journalisten Dube und Gilmor hat auch die bekannte amerikanische Blog-Pionierin und Autorin Rebecca Blood einen Ethik-Kodex für Blogger verfasst, den sie in ihrem „Weblog Handbuch“ bereits im Juli 2002 veröffentlichte (Blood 2002b). Blood gehörte zu den ersten Buchautoren, die Blog-Anfängern praktische Tipps gaben. Das „Weblog Handbuch“ ist bis heute das einzige einführende Blogger-Sachbuch, das ein eigenes Kapitel über Blogger-Ethik beinhaltet. Als Insider hat Blood eine andere Perspektive auf die Blogosphäre, als Dube und Gilmor. Im Mai 2003 kritisierte Blood die journalistische Zwangsjacke, die Jonathan Dubes Ethik-Kodex den Blogs überzustülpen versuche:
Weblogs sind keine neue Form des Journalismus und sollten auch nicht anstreben so zu sein. (…) Deswegen habe ich in meiner Weblog-Ethik den journalistischen Standard von Gründlichkeit und Fairness verworfen. Das ist unrealistisch und nicht im Sinne dessen, was wir tun. Der Standard, an dem ich angekommen bin, ist Transparenz. Von diesem Prinzip habe ich alle meine Richtlinien abgeleitet. (Blood 2003)
In der Online-Zusammenfassung ihres „Weblog Handbuch“ hat Blood ihre Forderung nach Transparenz in sechs Richtlinien gegliedert (Blood 2006). Im Gegensatz zu Dube und Gilmor ist Bloods Entwurf genau auf die Blogosphäre zugeschnitten. Sie stellt realistische und für die meisten Blogger umsetzbare Ansprüche. Da Bloods Richtlinien in dieser Arbeit als Bewertungsgrundlage für die Fallbeispiele im vierten Kapitel verwendet werden soll, werden sie im Folgenden ausführlich besprochen. Bloods erste Regel lautet:
1. Veröffentliche etwas nur als Fakt, wenn Du glaubst, dass es stimmt.
Im Gegensatz zu Dube ist sich Blood bewusst, dass es unrealistisch und bloguntypisch wäre, zu fordern, dass Blogger nur überprüfte Fakten veröffentlichen sollen. Deshalb differenziert sie in ihrer Erklärung zur ersten Richtlinie, dass Blogger auch Gerüchte und sogar falsche Fakten veröffentlichen dürfen, wenn sie ihre Vorbehalte dazu schreiben. Wie angekündigt, stellt sie damit den Wert Transparenz über Wahrheit.
2. Wenn Material online existiert, linke dorthin, wenn Du darauf Bezug nimmst.
Don Alphonso hat gesagt, dass Links das Grundwährungsmittel im Internet und ein Vertrauensbeweis sind. Blood sieht das ähnlich. Für sie sind Links zum Quellenmaterial der Grundbaustoff eines neuen „kollektiven Wissens- und Informationsnetzwerks“ (Blood 2006). Denn die Leser können die vom Blogger veröffentlichten Informationen nur dann richtig einordnen und bewerten, wenn sie die Quelle und damit deren Agenda kennen.
3. Korrigiere jede falsche Information öffentlich. 4. Schreibe jeden Eintrag so, als ob Du ihn nicht verändern könntest; füge hinzu, aber lösche nichts und schreibe keinen Eintrag um.
In diesen beiden Punkten denkt Blood vor allem an die Archiv-Funktion der Blogs. Geänderte oder gelöschte Einträge führen dazu, dass Diskussionen und Entwicklungen später nicht mehr nachvollzogen werden können. Für Blood geht damit „die Integrität des Netzwerkes“ verloren (Blood 2006). Wenn veraltete oder falsche Einträge durch korrigierte Updates ersetzt werden, entsteht die Illusion, die Fehler wären nie geschehen (vgl. Debatin 2003, S. 94). In den Köpfen derjenigen Leser jedoch, die die falsche Information bereits vorher aufgenommen hatten, wird durch eine nachträgliche Änderung oder Löschung der Fehler nicht korrigiert. Zur öffentlichen Dokumentation von Fehlern und Korrekturen schlägt Blood eine Technik vor, die auch von den Bildblog -Betreibern angewandt wird. Mit dem HTML-Befehl <strike> können bestehende Texte im nachhinein durchgestrichenwerden. Damit sind sie noch lesbar, aber offensichtlich entwertet. Die Korrektur kann dann mit Sternchen und Datum versehen unter den betreffenden Eintrag angefügt werden.
5. Gebe jeden Interessenskonflikt bekannt. 6. Kennzeichne fragwürdige und befangene Quellen.
Diese Forderungen könnten so auch in jedem journalistischen Ethik-Kodex stehen. Blood argumentiert, dass die Leser eines Blogs ein Recht darauf haben, die wahren Beweggründe eines Bloggers zu kennen. Andernfalls könnten sie eine Information nicht richtig einschätzen. Gleiches gilt auch für fragwürdige Quellen. Zu einem gewissen Grad seien die Nutzer auf Weblogs angewiesen, weil sie ihnen bei der Navigation durch das Internet Anleitung geben. Transparenz schafft Vertrauen, auch in der Blogosphäre.
4 Blogger-Ethik in der Praxis
In der Praxis spielt Ethik für deutsche Blogger eine untergeordnete Rolle. Diesen Eindruck gewinnt man zumindest bei der Suche nach einem Kapitel über Ethik in entsprechenden Sachbüchern für Blog-Anfänger. In Dirk Olbertz’ als Einführung gedachtes „Blog-Buch“ gibt es immerhin das kurze Kapitel 5.2 „Netiquette“ (Olbertz 2004, S. 122-123). Überraschenderweise empfiehlt Olbertz dem Leser hier, er solle auf korrekte Rechtschreibung achten – auch im Internet. Außerdem schlägt er noch zwei konkrete Verhaltensregeln vor:
Erstens, wenn ein Nutzer einen interessanten Link von einer Seite kopiert, soll er auf seinem Blog erwähnen, wo er ihn gefunden hat. Zweitens, statt einen Kommentar zu entfernen, dessen Inhalt dem Nutzer nicht gefällt, soll er darauf antworten. In stark verkürzter Form sind das immerhin zwei der sechs ethischen Richtlinien, die Rebecca Blood in ihrem „Weblog Handbuch“ vorstellt (vgl. Blood 2002b). Im Gegensatz zu Olbertz, versucht Blood aber ihre aufgestellten Normen zu begründen und auf den Wert „Transparenz“ zurückzuführen. Wie in Kapitel 3.1 besprochen, hat eine normative Ethik in der Praxis nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie gut und überzeugend begründet ist.
Über die Gefahr, mit unbedachten Äußerungen Persönlichkeitsrechte zu verletzen, liest der Blog-Einsteiger dagegen weder bei Olbertz noch bei Blood. Dabei ist jeder dritte Blogger schon einmal wegen Äußerungen auf seinem Blog in Schwierigkeiten geraten, wie die Soziologin und Informatikerin Fernanda Viégas in einer Umfrage unter 486 Bloggern herausfand (Viégas 2005, S. 19). Die von Viégas befragten Blogger waren sich zwar bewusst, dass sie für das, was sie online veröffentlichen, haften. Trotzdem glaubten die Blogger gleichzeitig nicht, dass andere sie wegen dem, was sie auf ihren Blogs geschrieben haben, verklagen können. Wenn Blogger die von Blood postulierten sechs ethischen Richtlinien befolgen würden, wären sie zumindest rechtlich besser geschützt.
Im Folgenden werden drei Fallbeispiele aus der deutschen Watchblog-Szene nach den ethischen Richtlinien Bloods untersucht, die in Kapitel 3.3.3 vorgestellt wurden. In Kapitel 2.3 wurde bereits erläutert, dass Watchblogger sich vom prototypischen Blogger unterscheiden. Da sie sich das Ziel setzen, Politiker, Medien oder Unternehmen zu beobachten, also über etwas anderes, als ihr eigenes Leben zu berichten, gehören sie zu den rund 25 Prozent der Blog-Filter oder non-personal Blogs (vgl. Blood 2002b, Koh et al. 2005). Statistisch gesehen sind Watchblogger also vor allem formal höher gebildete männliche Erwachsene, die durch Kommentierung und die Recherche von Informationen ein größeres Publikum erreichen wollen, und zumindest einen quasi-journalistischen Anspruch haben (vgl. Koh et al. 2005, Kuhn 2005).
4.1 Bildblog: Die Informations-Hygieniker
Das bekannteste Medien-Watchblog in Deutschland ist das Bildblog, das von den beiden Medienjournalisten Stefan Niggemeier und Christoph Schultheis seit Juni 2004 geführt wird (vgl. Schultheis 2006a). Von Journalisten betriebene Blogs werden in der Literatur auch als J-Blogs bezeichnet (vgl. Schmidt 2006, S. 135). Laut eigenen Angaben klicken sich täglich rund 40.000 Leute durch die Beiträge auf Bildblog, in denen die Macher die „kleinen Merkwürdigkeiten und das große Schlimme“ der größten deutschen Tageszeitung kommentieren (Schultheis 2006a).
Die hohe Qualität der Bildblog -Beiträge wurde bereits durch zwei renommierte Auszeichnungen bestätigt. Die Jury des Grimme-Online-Awards 2005 begründete ihre Entscheidung für das Bildblog mit den Worten:
Die „Enkel“ von Günter Wallraff sind ein steter Stachel für die „Bild“-Redaktion. Auch wenn es nur einen Bruchteil der täglich zwölf Millionen „Bild“-Leser erreicht, ist seine aufklärende Wirkung enorm. Hier sind nicht nörgelnde Besserwisser am Werk, sondern recherche- und pointensichere Journalisten, die ihre Behauptungen sorgfältig prüfen und unterhaltsam präsentieren. (Hagedorn 2005)
Dieser Analyse kann sich Bild -Sprecher Tobias Fröhlich nicht anschließen. Für ihn ist das Bildblog kein Journalismus. „Wenn ich reinschaue, sehe ich hauptsächlich Meinung, Interpretation und Behauptungen”, sagte er dem Autor dieser Arbeit (Appendix A). Von der Qualität des Bildblogs war aber auch der Verein Netzwerk Recherche überzeugt, der für seriöse Berichterstattung im Journalismus kämpft. Bei der Preisverleihung des „Leuchtturm 2005“ würdigte der Vorsitzende des Netzwerk Recherche, Thomas Leif, die Bildblogger mit den Worten:
BILDblog zeigt, was eine unabhängige Medienkritik auf der Basis von verlässlichen Gegen-Recherchen zu leisten vermag. BILDblog deckt Fehler von Europas größter Boulevard-Zeitung auf, gibt BILD-Opfern eine Stimme und sorgt mit dieser Form seriöser Aufklärung für ein Stück unverzichtbarer Informations-Hygiene. (Leif 2005)
Zur Informations-Hygiene brauche die Bild -Zeitung aber laut Fröhlich keine Watchblogger. Die Bild sei ihr eigener schärfster Kritiker. „Wir bekommen Hunderte Leserbriefe und greifen auf ein Netzwerk von mehr als 1000 Journalisten zurück, da bleiben uns keine Fehler verborgen“, sagte Fröhlich (Appendix A). Im Widerspruch dazu ergab eine Stichprobe des Autors dieser Arbeit, dass die Bild Online Redaktion in mehr als 20 Fällen Fehler korrigiert hat, die kurz vorher auf Bildblog beanstandet wurden. Während Fröhlich dabei keinen kausalen Zusammenhang sieht, schätzt Bildblogger Niggemeier, dass 50 Prozent der sachlichen Fehler, die sie finden, von der Bild-Online Redaktion korrigiert werden (Appendix B). In ihrer Kategorie „Kurz korrigiert“ hatten die Bildblogger bis zum 27 November 293 sachliche Fehler von Bild, Bild-Online und Bild am Sonntag aufgelistet.
Das Bildblog ist wegen verschiedener Merkmale untypisch für die deutsche Watchblog-Szene. Es wird hauptsächlich von zwei Medienjournalisten betrieben, die ihre professionellen Standards auf ihr Blog übertragen haben. Auf Bildblog beschreiben die Autoren ihren Ansatz: „Unser Ziel ist es, stets seriös, journalistisch sauber und professionell zu arbeiten“ (Schultheis 2006b). Dabei nutzen sie die Community der Blogosphäre zwar als Tippgeber und Recherche-Assistenten, lassen aber keine Kommentare zu und halten sich nicht an die unter Bloggern typische Publikationspraxis: Die Bildblogger prüfen erst und veröffentlichen dann. Das Bildblog kann daher als ein rein journalistisches Blog bezeichnet werden, dass die technischen Vorteile der Blogosphäre nutzt.
Die von Blood aufgestellten ethischen Richtlinien für Blogger werden von den Bildbloggern alle eingehalten. Die Bildblogger veröffentlichen nur überprüfte Fakten, linken wenn immer möglich zum Originalmaterial und korrigieren eigene Fehler öffentlich, ohne dabei die fehlerhafte Information zu löschen. Mögliche Interessenskonflikte, wie Einnahmen durch Online-Werbung, werden von den Bildbloggern offengelegt. Unausgewogene Quellen, meist die Ableger der Bild -Zeitung, werden als solche benannt und gekennzeichnet.
Überraschenderweise findet auch der Ex-Chefredakteur der Bild -Zeitung, Udo Röbel, das Bildblog „fantastisch“. „Das ist journalistisch perfekt gemacht. Ich würde mir als Chef jeden Tag in den Arsch beißen, wenn die Bildblogger Faktenfehler aufspießen“, sagte er dem Autor dieser Arbeit (Appendix C). Den verantwortlichen Redakteur würde er sich kommen lassen und fragen: „Kannst du mir mal diesen Bockmist erklären?“ (Appendix C). Dass kritische Leser heute die Arbeit der Redakteure in Watchblogs kommentieren, findet Röbel nicht überflüssig, im Gegenteil: „Über Spiegel und Focus könnte man auch ein gutes Blog schreiben“ (Appendix C).
4.2 Blogbar: Focus Online beim Schummeln erwischt
Obwohl es mehr Watchblogs gibt, die das reichweitenstärkste Online Nachrichtenmagazin Spiegel Online beobachten (vgl. Giesecke 2006, Heiser 2006, Tandler 2006), soll hier ein Vorfall besprochen werden, der den Konkurrenten Focus Online betrifft. Anfang März 2005 fiel dem Blogger Fabian Mohr auf seinem mittlerweile stillgelegten Weblog notebook-onlinejournalismus.de auf, dass Focus Online mehrere CeBIT-Pressemeldungen unverändert als Produktnews veröffentlicht hatte. Die Nachricht verbreitete sich schnell in der Blogosphäre, unter anderem auch auf Blogbar, dem Blog von Don Alphonso (vgl. Alphonso 2005).
Am 14. März 2005 mischte sich ein Leser mit dem Pseudonym „Schniede“ in die laufende Diskussion auf Blogbar ein und schrieb den provokativen Satz: „FOCUS ist wohl die beste Seite im WWW, ihr edlen Verfechter des kritischen Journalismus!“ (Schiechel 2005). Die anderen Leser kommentierten Schniedes Äußerungen mit Verwunderung und bezweifelten seine Objektivität. Schniede antwortete: „Könnte ja sein, dass ich von FOCUS bin – hätte kein Problem damit – die können wenigstens copy & paste“ (Schiechel 2005).
Über sein Pseudonym, seine Rechner-Adresse, die er auf dem Blogbar -Server hinterlassen hatte, und eine Google -Recherche entlarvten die Blogger Schniede gemeinsam als den Münchner Journalisten Alexander Schiechel, der für Focus Online von der CeBIT berichtet hatte. „Ist das peinlich!“, kommentierte ein Blogbar -Leser (stefanolix 2005). Einen Tag später entschuldigte sich die Focus-Chefredaktion auf der Titelseite des CeBIT-Specials dafür, dass
Pressetexte von Unternehmen (…) als FOCUS Online-Produktnews veröffentlicht [wurden]. Aufmerksame Blogger haben uns darauf hingewiesen. Wir haben die betreffenden Texte von der Seite genommen. Die Chefredaktion von FOCUS Online bedauert die Fehler. Sie entsprechen nicht den journalistischen Standards von FOCUS Online. (Heinze 2005)
In diesem Fall hat das Prinzip der kollektiven Wahrheitsfindung (siehe Kapitel 3.2) funktioniert. Jeder Blogger hat seine Rechercheergebnisse beigesteuert, bis der Journalist Alexander Schiechel als Übeltäter entlarvt wurde. Die Diskussion hält auch dem Vergleich mit Bloods ethischen Richtlinien stand. Die Blogger haben nur das veröffentlicht, was sie als Fakten recherchiert hatten. Zu den recherchierten Quellen, wie dem Blog von „Schniede“ oder den Veröffentlichungen Schiechels auf Focus Online, haben die Blogger verlinkt. Falsche Informationen wurden von Seiten der Blogger nicht verbreitet, es gab folglich auch keine Korrektur. Korrigiert hat sich lediglich Schiechel, der die Referenz zu Focus Online von seinem Blog löschte, als ihm die Blogger auf die Schliche gekommen waren. Interessenskonflikte tauchten lediglich zwischen Bloggern und Schiechel auf, der seine Anonymität wahren wollte. Und auch über die Aussagekraft von Quellen haben die Blogger diskutiert, als der Betreiber von Blogbar, Don Alphonso, die Computer-Adresse Schiechels veröffentlichte und dem Münchner Zugang des Internetproviders von Focus Online zuordnete (vgl. Alphonso 2005). Nach Bloods Kriterien sind die Blogger also moralisch einwandfrei vorgegangen.
4.3 Pantoffelpunk: Den Focus-Bilderfake wiederentdeckt
Im Gegensatz zum Bildblog beobachtet der Pantoffelpunk nicht ein Medium oder eine Organisation, sondern berichtet kritisch über Aktuelles aus Politik und Gesellschaft (Grett 2006a). Im Januar 2006 sind dem Pantoffelpunk -Betreiber Thorsten Grett Ungereimtheiten im Nachrichtenmagazin Focus aufgefallen. Gretts Pantoffelpunk -Beitrag über einen Focus -Bilderfake schwappte durch einen großen Teil der Blogosphäre und führte zu einer intensiven Diskussion über die Ethik und Verantwortung von Bloggern.
Am 23. Januar hatte Grett auf seinem Blog einen Beitrag mit dem Titel „Fakten Fakten Fakten und immer an die Auflage denken“ veröffentlicht (Grett 2006b). Darin beschuldigte er Focus, in der Ausgabe 52 vom 23. Dezember 2005 ein gefälschtes Bild von den Auswirkungen des Tsunamis in Thailand abgedruckt zu haben. Focus hatte in einem Artikel mit dem Titel „Hoffen, beten, weiterleben“ zwei großflächige Bilder eines Restaurants gedruckt (Markwort 2005, 138ff). Laut Unterzeile zeigte Bild eins das Restaurant direkt nach der Zerstörung, Bild zwei dasselbe Restaurant – wieder aufgebaut – ein Jahr später. Grett bewies in seinem Beitrag durch einen detaillierten Vergleich der Schattenverläufe, dass eines der beiden Fotos falsch datiert sein muss:
Langsam glaubte ich, Herr Markwort will den Leser hier mit falschen Fakten falschen Fakten falschen Fakten verarschen. Es scheint mir doch, dass diese Bilder aus dem selben Jahr stammen. Und wenn ich mir die Schatten der Lampen so ansehe beschleicht mich der Verdacht, dass das Foto aus 2005 mal gerade 15 Minuten vor dem Foto aus 2004 gemacht wurde. (Grett 2006b)
Bekannte Blogger wie Don Alphonso und Schockwellenreiter (Kantel 2006) lobten Gretts Eintrag in ihren Blogs und verwiesen auf den scheinbar aufgedeckten Skandal. Der Blogger und Netzeitung -Journalist Peter Schink fand jedoch heraus, dass die Focus -Redaktion den Fehler bereits zwei Wochen vor Gretts Blog-Eintrag bemerkt und veröffentlicht hatte. Ein Leser namens Manfred Schiffers hatte in einem Leserbrief in Heft 3/06 bemerkt, dass die Fotos die „gleichen Bäume, die gleichen Schatten“ zeigen und daher aus dem selben Jahr stammen müssten (Schiffers 2006, S. 107). Unter den Leserbrief druckte die Redaktion den folgenden Kommentar:
Anm. d. Red.: Sie haben Recht, wir sind einer falschen Beschriftung auf dem Foto aufgesessen. Es handelt sich tatsächlich um eine Aufnahme, die kurz vor der Flutwelle entstanden ist. Wir entschuldigen uns für den Fehler. (Schiffers 2006, S. 107)
Schink echauffierte sich in seinem Weblog Blog Age darüber, dass die Blogger den vermeintlich neuen Skandal ungeprüft verbreitet hatten (Schink 2006). Das sei um so gefährlicher, weil immer mehr Journalisten in Blogs recherchieren und die Gerüchte damit in die klassischen Medien dringen würden:
Insgesamt mehr als zwei Dutzend Blogs dazu habe ich schon zum Thema gefunden. Schon schwach. Ich stelle mich zwar nicht auf den Standpunkt, dass für Blogger die absolute journalistische Sorgfaltspflicht gilt. Aber wenn man so schwere Anschuldigungen erhebt, sollte man schon ein bisschen mehr nachdenken, bevor man sowas in die Welt pustet. (Schink 2006)
Der Journalist Schink meint, dass Blogger zwar nicht nach journalistischen Maßstäben zu messen seien, es aber doch irgendwelche Maßstäbe geben müsse. Damit stellt Schink die Frage nach einer Blogger-Ethik: Wie sorgfältig müssen Blogger vorgehen, wenn sie andere angreifen? Mehrere Blogger nahmen zu Schinks Vorwürfen Stellung. Der bekannte Blogger Sven Scholz lehnte Schinks Ruf nach mehr Sorgfalt ab:
Was Peter Schink da von den Bloggern fordert, geht völlig an der Realität des sowohl machbaren als auch nötigen vorbei. Wer was verbockt darf seinen Mist schon schön selbst wieder wegräumen. (…) Klar, schöner wär’s, es würden ein paar Leute mehr begreifen, dass Bloggen ein „kultureller“ Beitrag ist und keiner des „Business“. Und damit unter völlig andere Bewertungsmaßstäbe fällt wie alles, was sich „Professionell“ nennt. (Scholz 2006)
Aus Schinks Beitrag geht zwar hervor, dass Blogs mit „anderen Bewertungsmaßstäben“ als professionelle Journalisten gemessen werden müssen. Welche Maßstäbe das sein könnten, bleibt aber unklar. Ein Blogger-Ethik-Kodex könnte diese Lücke schließen. Der Journalist Schink führt in der Diskussion seinen Gedanken von den zu wenig sorgfältig vorgehenden Bloggern weiter aus und stellt ihre Glaubwürdigkeit in Frage:
Es geht viel mehr darum, dass sich Blogger unglaubwürdig machen, wenn sie Müll ungefragt weiter verbreiten. Pantoffelpunk war ja nur der Anfang. Er fühlte sich als Skandal-Aufklärer, und alle anderen fanden es auch eine große Leistung. Dabei war die Geschichte schon längst aufgeklärt. (Schink 2006)
Auf eine Meta-Diskussion über die Frage, wann ein Blogger „Müll“ verbreitet und wann nicht, ließen sich die Blogger nicht ein. Diese Frage könnte ein Ethik-Kodex für Blogger beantworten. Stattdessen verteidigten Blogger wie Iris Bleyer weiter Gretts Vorgehen:
Wieso, hat sich der Pantoffelpunk etwa Deiner Ansicht nach unglaubwürdig gemacht, weil er den Müll des FOCUS weiterverbreitet hat? (…) Also bei mir nicht. Denn der FOCUS-Bilderfake ist doch wohl tatsächlich so gelaufen, wie von ihm beschrieben. Das einzige, was man ihm vorwerfen könnte ist, dass die Entdeckung des Fakes nicht neu war. Aber Du willst doch wohl nicht ernsthaft von uns Bloggern auch noch tagesaktuelle Berichterstattung verlangen, oder? (Bleyer 2006)
Das Fallbeispiel Pantoffelpunk zeigt ähnlich wie im Fall des enttarnten Journalisten Alexander Schiechel (siehe Kapitel 4.2), dass die blogtypische kollektive Wahrheitsfindung zu funktionieren scheint. Grett veröffentlichte seine These und präsentierte Beweise. Andere Blogger und Journalisten recherchierten weiter und vervollständigten das Bild.
Legt man Bloods ethische Maßstäbe an, kann Grett nur ein Vorwurf gemacht werden. Die Information, dass der Bilder-Fake schon in einem bereits erschienenen Focus -Heft korrigiert worden war, veröffentlichte Grett zwar in einem neuen Beitrag mit dem Titel „Fakten Fakten Fakten und ab und an die Leserbriefe lesen“ (Grett 2006c). Problematisch ist dabei aber, dass Grett die falschen Informationen im ursprünglichen Beitrag nicht korrigierte (vgl. Grett 2006b). Damit war es möglich, dass andere Blogger den alten Beitrag mit den Falschinformationen weiter verlinkten, was auch bis zum 29. Januar geschah. Obwohl Grett den ursprünglichen Beitrag nicht korrigiert hat, muss positiv bemerkt werden, dass er ihn auch nicht kommentarlos geändert oder gelöscht hat. Die Verantwortung für sein Handeln hat Grett also übernommen. Seine Rechercheergebnisse hatte er vorbildlich mit aus dem Focus gescannten Bildern belegt, also einen direkten Verweis auf die Originalquelle gesetzt. Interessenskonflikte und unausgewogene Quellen spielten in der Diskussion keine Rolle.
5 Zusammenfassung und Ausblick
Die Analyse der Fallbeispiele in Kapitel 4 hat gezeigt, dass das für Blogger typische Vorgehen der kollektiven Wahrheitsfindung zu funktionieren scheint. Obwohl ein normativer Ethik-Kodex in der Blogger-Praxis keine Rolle spielt und daher keine gemeinsamen ethischen Maßstäbe existieren, wurden die sechs von Rebecca Blood aufgestellten ethischen Regeln weitgehend befolgt (vgl. Blood 2006). Dass die ethischen Richtlinien Bloods in den Fallbeispielen unbewusst oder bewusst befolgt wurden, hat wohl vor allem mit der individuellen ethischen Einstellung der betreffenden Blogger zu tun. Die Diskussion in Kapitel 4.3 über die Frage, wie sorgfältig Blogger recherchieren müssen, hat aber gezeigt, dass eine Auseinandersetzung über die Verpflichtungen eines Bloggers ohne einen gemeinsamen Ethik-Kodex als Diskussionsgrundlage auf der Ebene persönlicher Meinung stecken bleibt. Ein allen bekannter Ethik-Kodex könnte die Blogger zumindest für moralische Konflikte sensibilisieren. Laut Anika Pohla ist diese Sensibilisierung notwendig, bevor die Adressaten davon überzeugt werden können, die ethischen Normen auch einzuhalten (vgl. Pohla 2006, S. 167).
Es bleibt die Frage, welche Verantwortung und Verpflichtungen Menschen haben, die in ihrer Freizeit Texte im Internet veröffentlichen. Zwei Ansichten, denen man häufig in der Blogosphäre begegnet, lehnen jegliche Verantwortung ab. Die eine besagt, ein Blog sei ein einem Tagebuch vergleichbarer privater Raum, der durch ethische Normen nicht reguliert werden müsse (vgl. Rochelle 2004). Die andere sieht Blogs als reines Spaßprojekt, dass durch die Verpflichtung zur Befolgung ethischer Normen zerstört würde (vgl. Dave-Kay 2006).
Blogger mit dieser Einstellung werden schwer dazu zu bewegen sein, einen Ethik-Kodex zu befolgen. Sie werden wohl erst vom Nutzen eines Ethik-Kodexes überzeugt sein, wenn sie negatives Feedback bekommen, sei es aus der Blogosphäre oder von einer Anwaltskanzlei. Im Gegensatz zu einem privaten Tagebuch oder einer spaßigen Privatparty gleicht ein Blog eher einem Menschen mit Megaphon, der in einem Saal voller Menschen seine Meinung herausschreit. Ethisch gesehen gelten für diesen Menschen die gleichen Verpflichtungen, wie in der Fußgängerzone. Wer jemanden anlügt, in die Irre führt oder aus Spaß beleidigt, hat die Konsequenzen zu tragen.
Watchblogger wollen bei ihren Lesern in der Regel etwas bewirken. Sie schreiben kein Online-Tagebuch um ihre Erlebnisse zu dokumentieren und betreiben meistens auch kein reines Spaßprojekt. Dass die in Kapitel 4 analysierten Watchblogger die ethischen Regeln Bloods eingehalten haben, ist sicher kein Zufall. Die Verantwortung, die sie gegenüber ihren Lesern tragen, ist Watchbloggern eher bewusst. In der Blogosphäre bilden die Watchblogger wohl eine Minderheit, die noch am ehesten bereit wäre, über einen Ethik-Kodex zu diskutieren.
Ob sich in Zukunft ein Ethik-Kodex in der Blogosphäre durchsetzt, bleibt fraglich. Neben Blood ist noch kein Kodex entwickelt worden, der auf die Belange der Blogger zugeschnitten ist und versucht die aufgestellten Normen auf allgemeine Werte zurückzuführen. Ein Kodex, der eine Aussicht darauf haben soll, seine Adressaten zu überzeugen, muss seine Normen begründen (vgl. Pohla 2006, S. 132). Vielleicht führen die unterschiedlichen Motive der personal und non-personal Blogger dazu, dass für jede Gruppe ein eigener Kodex aufgestellt wird, der auf die Belange der jeweilgen Gruppe besser zugeschnitten ist. Um solche Kodizes verfassen zu können, sollten zukünftige Studien die Motive, moralischen Konflikte und ethischen Einstellungen der deutschen Blogger empirisch untersuchen.
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Appendix A: Interview mit Tobias Fröhlich
Interviewer: Matthias Dachtler
Interviewter: Tobias Fröhlich, Pressesprecher der Bild -Zeitung
Interview vom: 30. Januar 2006, im Rahmen einer journalistischen Recherche
Frage: Wie gehen Sie bei der Bild-Zeitung mit Faktenfehlern um?
Fröhlich: Die Blattkritik ist bei uns sehr kritisch und ganz normaler Usus.
Frage: Was halten Sie vom Bildblog?
Fröhlich: Der Bildblog ist bei unserer Blattkritik kein Thema. Wir bekommen Hunderte Leserbriefe und greifen auf ein Netzwerk von mehr als 1000 Journalisten zurück, da bleiben uns keine Fehler verborgen. Wir brauchen dazu Bildblog nicht. Wir sind selbst unser schärfster Kritiker.
Frage: Den Bildblog lesen immer mehr Menschen. Macht Ihnen das Sorgen?
Fröhlich: Wir haben zwölf Millionen Leser, dagegen ist die Nutzerschaft von Bildblog eher eine homöopathische Größe und liegt unter unserer Wahrnehmungsschwelle. Außerdem lesen den Bildblog mit Sicherheit nur Branchenleute, draußen in der Welt liest das keiner.
Frage: Lesen Bildredakteure denn Bildblog?
Fröhlich: Ich will nicht ausschließen, dass ein Redakteur da mal nachschaut.
Frage: In mehr als 20 Fällen hat die Bild Online Redaktion nach Korrekturen auf Bildblog nachgezogen.
Fröhlich: Da sehe ich keinen kausalen Zusammenhang. Wir finden unsere Fehler über Leserbriefe und unsere eigenen Redakteure.
Frage: Wie schätzen Sie die Qualität der Bildblog-Recherchen ein?
Fröhlich: Wenn ich reinschaue, sehe ich hauptsächlich Meinung, Interpretation und Behauptungen. Das hat für mich nichts mit Journalismus zu tun. Nicht alles, was ein Journalist macht, ist Journalismus.
Frage: Macht die Bild-Zeitung mehr Fehler als andere?
Fröhlich: Nein. Natürlich passieren bei uns auch mal Fehler. Statistisch gesehen werden bei uns mehr gefunden, weil wir mehr Leser haben als die anderen.
Appendix B: Interview mit Stefan Niggemeier
Interviewer: Matthias Dachtler
Interviewter: Stefan Niggemeier, Bildblog -Gründer, zum Zeitpunkt des Interviews Medienredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
Interview vom: 25. Januar 2006, im Rahmen einer journalistischen Recherche
Frage: Wird das Bildblog von Bild-Mitarbeitern gelesen?
Niggemeier: Wir kennen Mitarbeiter aus der Bild Online Redaktion, die uns sagen, dass wir dort sehr genau verfolgt werden.
Frage: Wird das Bildblog von den klassischen Medien beachtet?
Niggemeier: Schon. Man erkennt mittlerweile, dass andere Medien bei uns recherchieren. 90 Prozent der Sachen, die wir schreiben sind ja auch sachliche Fehler. Wir haben uns bewusst entschieden, nur selten diskussionswürdige Artikel zu schreiben.
Frage: Reagieren die Bild-Journalisten denn auf die aufgedeckten Fehler?
Niggemeier: Das passiert öfters bei Geschichten, die auf bild.de stehen. Wenn die aber Stories von Bild übernehmen, dürfen sie es nicht ändern. Ich schätze mal 50 Prozent der sachlichen Fehler, die wir finden, werden bei bild.de korrigiert. Da gibt es schon einen direkten Zusammenhang.
Appendix C: Interview mit Udo Röbel
Interviewer: Matthias Dachtler
Interviewter: Udo Röbel, Ex-Chefredakteur der Bild -Zeitung, heute Herausgeber des Mediendienstes fairpress.biz
Interview vom: 24. Januar 2006, im Rahmen einer journalistischen Recherche
Frage: Was halten Sie vom Bildblog?
Röbel: Fantastisch. Das ist journalistisch perfekt gemacht. Die recherchieren gut, das ist ihre Spezialität. Damit zeigen sie ja andauernd, woher Bild etwas hat, und was die daraus gemacht haben.
Frage: Wie hätten Sie als Chef auf die Veröffentlichungen im Bildblog reagiert?
Röbel: Bei all den Fehlern, die Bildblog aufspießt, würde ich mir als Chef jeden Tag in den Arsch beißen. Die Faktenfehler sind schlimm, die falschen Sportergebnisse, das geht natürlich nicht.
Frage: Wie würden Sie als Chef auf die gemachten Fehler reagieren?
Röbel: Ich würde mir den entsprechenden Redakteur kommen lassen und ihn fragen: Kannst du mir mal diesen Bockmist erklären? Man muss aber dazu sagen, dass man über Spiegel und Focus genauso ein gutes Blog schreiben könnte. Der Bild passieren ja sachliche Fehler nicht häufiger als anderen.
- Arbeit zitieren
- Matthias Dachtler (Autor:in), 2006, Watchblogger - Eine Individualethische Analyse Deutscher Watchblogs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110702
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