Ein jeder, der zur Lösung einer Rechtsfrage zur Bundesverfassung greift, blättert meist achtlos an der Präambel vorbei, um sich den eigentlichen Artikeln der Verfassung zu widmen. Wozu dient denn überhaupt eine Präambel, die im Rechtsalltag und in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nur in vernachlässigbarem Ausmaß in Erscheinung tritt, aber im Bewusstsein des Volkes stark verankert ist?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns eingehend mit der Präambel als rechtliches und kulturelles Phänomen beschäftigen. Nach einer Definition der Präambel, stellen wir uns zum besseren Verständnis der zeitgenössischen Präambeln die Frage, woher sie historisch betrachtet kommen und welche Funktionen sie in der Geschichte eingenommen hatten. Sodann werden die Besonderheiten und Funktionen der Präambel im Allgemeinen beleuchtet. In einem nächsten Schritt wird kurz auf die Präambel der schweizerischen Bundesverfassungen (BV) von 1848 und 1874 eingegangen.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Materialienverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Präambeln im Allgemeinen
2.1. Definition
2.2. Geschichtliches
2.3. Präambelsprache
2.4. Bürgernahe Sprachkultur als Verfassungskultur
2.5. Präambel als Grundlegung und Bekenntnis
2.6. Präambel als Spiegel des Menschen- und Staatsbildes
2.7. Präambel als Brückenfunktion in der Zeit
2.8. Präambel als Brückenfunktion innerhalb der Verfassung und der Grundsatz der Einheit der Verfassung
2.9. Die „perfekte“ Präambel
3. Die Präambeln der BV 1848 / 1874 und in der alten Eidgenossenschaft
3.1. Anrufung Gottes (invocatio Dei)
3.2. Erzählung (narratio)
4. Die Präambel der Bundesverfassung von
4.1. Entstehungsgeschichte
4.2. Funktion der Präambel
4.3. Anrufung Gottes (invocatio Dei)
4.3.1. Einführung
4.3.2. Funktion der invocatio Dei
4.3.3. Kurze Wirkungsgeschichte
4.3.4. Zivilreligiöse Deutung
4.3.5. Kritik des Attributs „des Allmächtigen“
4.3.6. Verhältnis zur Religionsfreiheit
4.4. Erzählung (narratio)
5. Rechtliche Bewertung der Präambel
5.1. Im Allgemeinen
5.2. In der Bundesverfassung von
6. Kurze Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Materialienverzeichnis
- Botschaft für eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 122 ff.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Ein jeder, der zur Lösung einer Rechtsfrage zur Bundesverfassung greift, blättert meist achtlos an der Präambel vorbei um sich den eigentlichen Artikeln der Verfassung zu widmen. Zu was dient denn überhaupt eine Präambel, die im Rechtsalltag und in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nur in vernachlässigbarem Ausmass in Erscheinung tritt, aber im Bewusstsein des Volkes stark verankert[1] ist?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns eingehend mit der Präambel als rechtliches und kulturelles Phänomen beschäftigen. Nach einer Definition der Präambel, stellen wir uns zum besseren Verständnis der zeitgenössischen Präambeln die Frage, woher sie historisch betrachtet kommen und welche Funktionen sie in der Geschichte eingenommen hatten. Sodann werden die Besonderheiten und Funktionen der Präambel im Allgemeinen beleuchtet. In einem nächsten Schritt wird kurz auf die Präambel der schweizerischen Bundesverfassungen (BV) von 1848 bzw. 1874 eingegangen um sodann auf das Hauptkapitel dieser Arbeit überzuleiten. In diesem werden die bereits erörterten Erkenntnisse der allgemeinen Präambellehre (Besonderheiten und Funktionen) auf die Präambel der BV von 1999 angewandt. Ausführlich wird die immer wieder von neuem heftig debattierte Anrufung Gottes, ihre Funktionen und eine Auswahl juristischer und theologischer Deutungsversuche besprochen. Auf die kurzen Ausführungen zum Verhältnis der Anrufung Gottes zur Religionsfreiheit folgt die inhaltliche Besprechung der Präambel der BV von 1999. Das Schlusskapitel widmet sich schliesslich der juristischen Fragestellung nach der rechtlichen Wirkungskraft der Präambel im Allgemeinen und im Fall der BV von 1999.
Nicht Thema der vorliegenden Arbeit sind die Verbindungslinien zwischen der Präambel und dem Zweckartikel (Art. 2 BV) und die damit einhergehenden Staatszweck- und Staatsleitungstheorien.
2. Präambeln im Allgemeinen
2.1. Definition
Die Präambel (mittellateinisch praeambulus: vorangehend) ist ein vor allem bei völkerrechtlichen Verträgen, Verfassungen und gelegentlich bei wichtigen Gesetzen vorangestellter Vorspruch. Sie geht dem eigentlichen Text vor und enthält einerseits die Motive und Ziele der nachfolgenden Normierungen und andererseits politische Programmsätze. Häufig verweist die Präambel auf den historischen Kontext zur Zeit des Erlasses.[2]
2.2. Geschichtliches
Die Verwendung einer Präambel als Vorspann für den eigentlichen Gesetzestext scheint so alt wie die Kodifizierung von Regeln überhaupt zu sein. Der Dekalog des Alten Testaments beginnt vor der Auflistung der zehn Gebote mit einer Präambel in Exodus 20,2: „Ich bin der Herr, dein Gott! Ich habe dich aus Ägypten befreit“. Der Codex Hammurapi des gleichnamigen Königs (1728 – 1686 v. Chr.), die Kaisergesetze des Alten Roms, die Lex Salica (ca. 510) und die Goldene Bulle Karls IV. (1356), um nur einige frühe Beispiele zu nennen, leiteten allesamt mit einer Präambel ein.[3]
Viele Präambeln eröffnen mit einer Anrufung Gottes (lat. invocatio Dei). Da sich nur wenige Wissenschaftler mit der Geschichte der Invokation auseinandergesetzt haben, liegt keine Gesamtgeschichte vom Gebrauch der invocationes Deorum vor.[4] Bekannt ist, dass bereits im ersten Jahrtausend diese feierlich-religiöse Formel in einem Edikt des Merowinger-Königs Hilperich (6. Jhd.) verwendet wurde.[5] Des Weiteren ist nachweisbar, dass die Urkunden der Karolingerzeit (751 – 911) nach strengem Schema und Regelmässigkeit jeweils mit einer wohl überlegten Anrufung Gottes einsetzten, die jede für sich eine bestimmte politische, chronologische und topologische Bedeutung aufwies und wie eine Flagge wirkte. Jeder Herrscher hatte seine je eigene Invokation. Die Untertanen und die Geistlichen benutzten denselben Vorspann für ihre Dokumente wenn sie sich zu ihrem Herrscher bekennen wollten oder absichtlich eine (leicht) geänderte wenn sie ihre Antipathie zum Ausdruck bringen wollten.[6]
Die Anrufung Gottes stellte die Einheit von Staat und Kirche fest und gab den königlichen Gesetzen göttliche Legitimation oder sie wurden sogar als Abschriften der Gesetze Gottes interpretiert. Dem mittelalterlichen Recht im Allgemeinen wohnte denn auch eine vor allem göttliche und mythische Kraft inne. Das Recht des Königs über seine Untertanen zu herrschen wurde ihm nach damaliger Vorstellung von Gott übertragen.[7]
Die Verwendung der Invokation Gottes erfolgte auch aus der Motivation heraus, dass Gott als Dritter im Vertragsbunde eingreifen würde, sollte einer der Verpflichteten vertragsbrüchig werden. Die Vertragspartner konnten sich damit auch in der mittelalterlichen Gesellschaft, die Rechtsbrecher nur unzureichend mit menschlicher Macht sanktionierte, sicher sein, dass der Vertrag eingehalten würde. Die abstrakt angedrohte Strafe Gottes ersetzte, vereinfacht gesagt, den Richter. Die Funktion der invocatio Dei war demnach eine gemischt religiös-praktische um die Durchsetzbarkeit des Rechtes zu gewährleisten.[8]
Die invocationes Deorum behaupteten sich trotz wechselhafter politischer Strukturen über die Jahrhunderte hinweg an der Spitze juristischer Erlasse. So finden sich zahlreiche Erlasse und Verträge in Monarchien wie auch in Republiken und sogar noch zu Beginn der Französischen Revolution, die mit einer Anrufung Gottes beginnen. In der Moderne ist sie noch im Völkerrecht, teilweise im Europarecht und in gewissen nationalen Verfassungen anzutreffen, wobei viele Staaten Europas auf eine Präambel verzichten.[9]
2.3. Präambelsprache
Das charakteristische Erkennungszeichen von Präambeln ist ihre eigene Sprache, vor allem im Gegensatz zur technisch-abstrakten, nüchternen Juristensprache. Rechtsvergleichend fallen immer wieder folgende typische Sprachmerkmale auf: „das hohe Pathos, die Feierlichkeit, das Barocke und Ornamentale, nicht selten Emotionale, […], die Allgemeinheit der formulierten Inhalte, ihr Generalklauselcharakter, der ins Programmatische weist, sodann eine sehr idealistische, mitunter symbolhafte und symbolreiche Sprache.“[10]
Nach Peter Häberle lassen sich drei verschiedene Sprachebenen unterscheiden:[11]
1. Feiertagssprache: pathetische Sprache, die oft mit altertümlichen, kaum noch verwendeten, festlichen Stilelementen geschmückt ist.
2. Alltagssprache: Umgangssprache der Bürger mit Worten und Begriffen, die dem Bürger und seinem Alltag nahe scheinen.
3. Juristische Fachsprache: Sprache mit spezifisch juristisch definierten Begrifflichkeiten.
Die Feiertagssprache ist identitätsstiftend für den Bürger und das politische Staatswesen als ganzes. Sie soll mit ihrem ornamental-altertümlichen und feierlichen Anklang den Bürger emotional ergreifen und ihn für sich gewinnen. Währenddem ist die alltagssprachliche Schicht bestrebt, den Bürger nicht nur aus der Distanz des Feiertäglichen, sondern auch in der Nähe, in seinem Alltag, anzusprechen. Die Juristensprache schliesslich soll darauf hinweisen, dass die Präambel neben Pathos und Bürgernähe – nüchtern betrachtet – die Einleitung für die Verfassung als Grundordnung des Rechtsstaates ist.[12]
2.4. Bürgernahe Sprachkultur als Verfassungskultur
Die Präambel kann als Einstimmung[13] in den eigentlichen Verfassungstext betrachtet werden, so wie auch andere Kunstwerke mit einem Präludium, einer Ouvertüre oder einem Prolog ansetzen.[14] Als politische und kulturelle Wegleitung heben sich Präambeln sprachlich ab, denn sie wollen ja in erster Linie den Bürger für sich gewinnen und nicht primär den Juristen. Der Bürger soll sich mit der Verfassung und dem darin skizzierten Staatswesen identifizieren können. Daher umreisst die Präambel in einer dem Bürger verständlichen Sprache den Basiskonsens, ja gewissermassen auch ein Stück der (Politik)-Kultur eines Volkes.[15]
Die bürgernahe Sprache und die „nicht im engeren Sinne juristischen Inhalte und Formen von Präambeln“[16] lassen die oft verdeckten kulturellen Schichten eines Verfassungswerkes erscheinen. „Die Sprachkultur von Präambeln und ihre Lebenskraft im Alltag steht im Zusammenhang mit der Verfassungskultur eines Volkes.“[17] Aus der Präambel spricht sozusagen der Geist[18] der Verfassung, in der sie geschrieben wurde. Sie gibt das kulturelle Erbe und Bewusstsein wie auch Erlebnisse der Geschichte eines Volkes wieder und lässt jede nachfolgende Verfassungsnorm in diesem spezifischen kulturellen Licht erscheinen. Die Kulturgehalte einer Präambel vermitteln „eine stärkere Geltungsweise und einen auf eine Art höheren Verbindlichkeitsanspruch als dies der herkömmlich (verfassungs-)juristische Ansatz zu erkennen vermag.“[19] Nicht zuletzt ist denn auch die Legitimation des Verfassungsstaates, nebst der angesprochenen Identifikation für den Bürger, eine der Hauptfunktionen von Verfassungspräambeln.[20]
Die dem Laien verständliche Verfassungspräambel nimmt auch eine überaus wichtige pädagogische Aufgabe wahr, indem die Bürger die ansonsten so abstrakte Verfassung und das Staatswesen durch die Präambel vermittelt erhalten, verstehen können und somit auch als Grundgesetz der Gemeinschaft akzeptieren können. Dies ist gerade in einer halbdirekten Demokratie wie jene der Schweiz von nicht zu unterschätzender Bedeutung.[21]
2.5. Präambel als Grundlegung und Bekenntnis
Präambeln sind vom Inhalt her gefüllt mit Werthaltungen, Idealen, Überzeugungen, Wünschen, Hoffnungen und Motivationen. Die Präambel drückt das „Selbstverständnis der Verfassungsgeber“[22] aus oder theologisch betrachtet das Bekenntnis, der Glaube der Verfassungsschöpfer. Dieses Bekenntnishafte führt uns nach den kulturellen Tiefen in die (zivil)religiösen Tiefen der Verfassung. Präambeln verweisen auf vorpositive Glaubenswahrheiten eines Staatswesens, die anthropologisch gesehen in jedem Menschen innewohnen. Die Verfassung ist letztlich auf solch (irrationalen) Bekenntnissen wie Freiheit, Gleichheit, Rücksicht und Offenheit gebaut und umschreibt damit in einem gewissen Masse ein Stück der Zivilreligion[23] der Menschen in einem Gemeinwesen.[24] Die Aufgabe der Präambel ist es, diese Glaubenswahrheiten zu rationalisieren und auszudrücken, sei dies in säkularisierter oder noch theologisch anscheinender Sprachgestalt.[25]
2.6. Präambel als Spiegel des Menschen- und Staatsbildes
Da Präambeln, wie oben erläutert, grundlegende Werte bezeichnen und damit eine bestimmte mehr oder weniger ausdrückliche Weltanschauung der staatlichen Gemeinschaft entwerfen, lassen sich indirekt Rückschlüsse auf das Menschen- und Staatsbild der Verfassungsgeber ziehen. Oft verweisen Präambelpassagen auf grundlegendste Staatsstrukturen wie z. Bsp. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, Föderalismus, Freiheit und Eigenverantwortlichkeit. Die Präambel kann demnach auch als Spiegelbild des Menschen- und Staatsbildes eines Verfassungsstaates angesehen werden.[26]
2.7. Präambel als Brückenfunktion in der Zeit
Die Ausarbeitung der Zeitdimensionen ist in Präambeln oft anzutreffen; sei dies im Bruch mit der dunklen Vergangenheit oder in Erinnerung an frühere, glorreiche Zeiten. Der Bezug zur eigenen Geschichte fällt je nachdem negativ oder positiv bis hin zu überschwänglich aus. Häufig erzählen Präambeln wertend die Geschichte ihres Volkes und kommen dabei dem menschlichen Bedürfnis nach historischer Vergegenwärtigung und Identität nach.[27]
Auch die Gegenwart (zur Zeit der Verfassungsgebung) und vor allem die Zukunft werden von Präambeln in den Blick genommen, vielfach gepaart mit Wünschen, Hoffnungen und Visionen. Insoweit steckt in jeder Präambel ein Zukunftsentwurf, der mitunter – zumindest zur Zeit der Verfassungsgebung besehen – utopische Züge aufweisen kann. Die Präambel nimmt dabei die Funktion einer Vermittlerin zwischen Wunsch und Wirklichkeit wahr und trägt diese Spannung in die Verfassung und Gesetzgebungspolitik hinein. „Eine Verfassung kann und darf der Wirklichkeit ein Stück voraus sein. Theoretisch könnte eine frühere Verfassung in Präambelform verheissen, was eine spätere dann in juristischer Artikelform einlöst.“[28]
Präambeln versuchen die Verfassung „in der Zeit zu halten: zwischen kulturellem Erbe und Zukunft, zwischen Tradition und Fortschritt etc.“[29] und umschreiben damit den kulturellen und historischen Kontext des Verfassungswerkes oder anders formuliert: sie sind für den Bürger ein Stück kulturelle und politische Heimat, die sich aus der Geschichte und den gemeinsamen Zukunftshoffnungen bildet.[30]
2.8. Präambel als Brückenfunktion innerhalb der Verfassung und der Grundsatz der Einheit der Verfassung
Die auf die Präambel folgenden Artikel einer Verfassung konkretisieren oft inhaltlich Teile der Präambel und führen diese so in juristisch-technische Form hinüber. So finden die oft in Präambeln verwendeten Chiffren Freiheit und Gleichheit ihre konkrete, juristische Verwirklichung in den nachfolgenden Grundrechtsartikeln.[31]
Präambeln stehen weder über den Verfassungsartikeln noch sind sie bloss festliches Dekor des Verfassungswerkes. Es gilt der Grundsatz der Einheit der Verfassung. Bei Konflikten zwischen Präambelinhalten und der übrigen Verfassung, z. Bsp. zwischen der Anrufung Gottes und der Religionsfreiheit, sind die bewährten Interpretationsmethoden der Verfassungsauslegung anzuwenden, insbesondere die „praktische Konkordanz“. Diese besagt, dass die beiden konfligierenden Rechtsgüter (Interessen) in einem angemessenen Ausgleich möglichst umfassend berücksichtigt werden sollen, so dass beide optimale Wirksamkeit entfalten können.[32]
2.9. Die „perfekte“ Präambel
Ein ausführlicher Bauplan für eine Präambel in allgemeiner Form kann nicht erstellt werden, da sie aus Gründen der Bürgeridentifikation – wie wir oben gesehen haben – kulturell auf ein Volk zugeschnitten sein muss. Gewisse gemeinsame Grundstrukturen einer modernen Präambel in einem freiheitlich-demokratischen Staatswesen lassen sich gleichwohl finden.[33]
Eine Präambel darf nicht zu kurz und nicht zu lange sein. Sozialistische Staaten und andere totalitäre Staaten waren oder sind dafür bekannt sich der Präambel „in barocker Fülle zu bedienen.“[34] Durch die Ansammlung von Wünschen und Hoffnungen werden oft unlösbare Gegensätze erzeugt und es droht allgemein eine Ideologisierung des Rechts durch langatmige Präambeln, die das Recht potenziell aufzuweichen im Stande sind. Der Rechtsstaat verlangt hingegen eine Beschränkung der Willens- und Wunschkundgebungen auf das Notwendige und Wichtige um die Glaubwürdigkeit seiner Ziele zu sichern.[35]
Zusammenfassend sollte jede Präambel folgende Merkmale aufweisen:[36]
1) Minimum an Sozialethik
- Präambel als Orientierungsrahmen für Bürger und Gemeinwesen
- Selbstbindung der staatlichen Macht und des Menschen
- Präambel als Forum der Verantwortung vor Gott oder vorstaatlich gedachten Prämissen
2) Zeitdimensionen
- Die Spannungsfelder Geschichte – Gegenwart – Zukunft sollten prägnant zum Ausdruck gelangen.
3) Quintessenz der Verfassung
- Präambel als Quintessenz der Verfassung mit besonders wichtigen Verfassungsgrundsätzen wie der allgemeinen Garantie der Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit.
4) Sprache
- Verwendung aller drei obgenannter[37] Sprachstile, vordergründig Feiertags- und Alltagssprache vor juristischer Fachsprache. Der Bürger soll in der Nähe seines Alltags angesprochen und emotional durch einen feierlichen Sprachpathos berührt werden.
3. Die Präambeln der BV 1848 / 1874 und in der alten Eidgenossenschaft
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3.1. Anrufung Gottes (invocatio Dei)
Dieses Unterkapitel[38] behandelt vor allem die historische Herkunft der schweizerischen invocatio Dei von der frühen Eidgenossenschaft bis 1874. Die juristischen und theologischen Interpretationsversuche und die Wirkungsgeschichte folgen im Kapitel 4.3.
Die Anrufung Gottes als Einleitung von Rechtsdokumenten weist in der Schweiz eine lange Tradition auf. Bereits im Bündnis zwischen Bern und Freiburg von 1271 lässt sich eine solche Formel finden und der verfassungsgeschichtlich wichtige Bundesbrief der Eidgenossen von 1291 beginnt im Ingress mit den Worten „In nomine domini Amen“[39]. Ebenso findet sich diese oder eine ähnliche Formel zu Beginn der verschiedensten Bündnisse der alteidgenössischen Orte untereinander, der Landfriedensbündnisse und einiger Verträgen der Eidgenossen mit fremden Mächten.[40]
Im Gegensatz zu den Karolingerurkunden[41], die immer mit einer invocatio Dei ansetzten, gab es aber auch alteidgenössische Urkunden, die darauf verzichteten. Es bestand somit zwar eine Tradition, aber keine Regelmässigkeit und keine strenge Ordnung im Gebrauch der Invokation.[42] Die Helvetik unterbrach diese Tradition für kurze Zeit und ersetzte in ihrer ersten Verfassung von 1798 den Namen Gottes durch die aufklärende Vernunft. Doch bereits vier Jahre später erkannte man das Scheitern des aufoktroyierten atheistischen Humanismus im Volk und deklarierte in der Verfassung von 1802 die christliche Religion als Staatsreligion, allerdings ohne feierliche Anrufung Gottes.[43]
Der Bundesvertrag von 1815 nahm ganz im Sinne des Zeitgeistes der Restauration die altehrwürdige Formel wieder auf und ergänzte sie mit dem Attribut der Omnipotenz: „Im Namen Gottes des Allmächtigen“[44]. Der Grund dieser Änderung ist leider nicht überliefert worden und wird heute auch teilweise von Theologen kritisiert[45]. Die Tagsatzung der Regenerationsphase beliess die Invokation unverändert in ihren Verfassungsentwürfen von 1832 und 1833 wie auch die Bundesverfassung (BV) von 1848 dieselbe Formel beheimatet. Aufgrund der Protokolle der Tagsatzung scheint es als ob darüber nicht wesentlich debattiert wurde, zumal die von den Romands vorgeschlagene Formulierung „avec l’aide de Dieu“ oder „avec la protection de Dieu“ offenbar kaum andiskutiert wurde.[46] Dieser Traditionsanschluss par excellence[47] wird mitunter auch als Zeichen der Versöhnung gegenüber den unterlegenen katholisch-konservativen Anhängern des Sonderbundes verstanden.[48]
Ohne Zweifel bezweckte die BV 1848 in der Präambel den christlichen Gott anzurufen. Auch wenn die damalige Schweiz dem Liberalismus stark verpflichtet war, so gewährte die erste schweizerische Bundesverfassung keine allgemeine Glaubens- und Gewissensfreiheit und beschränkte die Kultusfreiheit auf die anerkannten christlichen Konfessionen (Art. 44 BV 1848). Des Weiteren war die ganze Verfassung von der christlichen Religion geprägt, wie auch das damalige Schweizer Volk trotz immer weiter schreitender Säkularisierung des öffentlichen Lebens sich als überwiegend christliches Volk verstand. So überrascht es nicht, dass die erste Zusammenkunft der eidgenössischen Räte[49] 1848 mit zwei Gottesdiensten (röm.-kath. und prot.) eröffnet wurde.[50] Der Gottesbegriff der Verfassung ist also historisch betrachtet zweifellos christlich geprägt.[51]
Die vom Kulturkampf[52] geprägte Totalrevision der BV in den 1870er Jahren veränderte die Religionsverfassung entscheidend. Diejenigen Artikel, die sich explizit zu den christlichen Konfessionen äusserten, wurden gestrichen und die Kultusfreiheit auf alle Religionen ausgeweitet. Das Christentum ist somit seit der Revision der BV im Jahre 1874 nicht mehr offiziell der geistig-religiöse Hintergrund der Bundesverfassung. Die Präambel wurde dennoch ohne Diskussion von den Räten übernommen. Die erweiterte Kultusfreiheit wurde vor allem als kollektive Gewährleistung des religiösen Friedens betrachtet und erst später als individuelles Recht des Einzelnen aufgefasst. Der Staat sollte sich vermehrt um die Wahrung des konfessionellen Friedens zwischen Katholiken und Protestanten kümmern. Aus diesem Blickwinkel heraus ist es erklärbar, dass die Konsequenzen der allgemeinen Kultusfreiheit, vor allem im Spannungsverhältnis zur Präambel, in den Räten nicht erörtert wurden.[53]
Weitere Ausführungen zur Anrufung Gottes folgen im Kapitel 4.3.
3.2. Erzählung (narratio)
Die Präambeln der BV 1848 und 1874 unterschieden sich nicht, weshalb nachfolgend nur noch allgemein von der Präambel der alten Bundesverfassung (aBV) die Rede sein wird.
Der zweite Teil der Präambel der aBV nennt die historischen Beweggründe zur Schaffung des Bundesstaates Schweiz und wird daher von der Lehre als Erzählung (lat. narratio) bezeichnet. Sie überliefert die leitenden Vorstellungen der Verfassungsgeber, die vor allem in zwei grundlegenden Prinzipien gesehen werden können, die das gesamte öffentliche Recht der Schweiz seit 1848 wesentlich mitgestalten:[54]
- Föderalismus Die BV 1848 beabsichtigte nicht die Kantone abzuschaffen und einen Einheitsstaat einzurichten. Im Gegenteil, sie wollte „den Bund der Eidgenossen festigen“. Dies ist ein klares Bekenntnis zu einem föderalistischen Staatsaufbau. Der Begriff „Bund“ ist hier laienhaft im Sinne von Verbindung und keinesfalls technisch im Sinne von Bund als Gesamtstaat über den Gliedstaaten zu verstehen.
- Nation Die Formulierung „die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu erhalten und zu fördern“ weist darauf hin, dass in den Augen der meisten Politiker die schweizerische Nation faktisch schon vorhanden war und die Bundesverfassung darauf aufbauend die Nation nur noch normativ „einzufangen“ hatte und sie weiter zu fördern brauchte. Für diese Annahme sprechen die zahllosen Reden zum Vaterland Schweiz und die grossen gesamtschweizerischen Vereine, welchen Leute aller Schichten angehörten.
In der Präambel der aBV lassen sich weder ethisch-politische Ziele noch Leitprinzipien staatlichen Handelns ausfindig machen. Zudem kommt die Dynamik des jungen Bundesstaates, dessen Gründung schon fast als revolutionärer Akt im damaligen Europa gelten kann, nur sehr verhalten zum Ausdruck. Aus diesen Gründen ist die herrschende Lehre der Ansicht, dass sich die Präambel der aBV nur auf den Gründungsakt beziehe, die Motivation des historischen Verfassungsschöpfers offen lege und ihr damit nur historischer Wert beizumessen sei.[55] Die Zeitdimension[56] der weiteren Zukunft – nach der Etablierung der schweizerischen Nation – wird völlig ausser Acht gelassen.
4. Die Präambel der Bundesverfassung von 1999
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten57
4.1. Entstehungsgeschichte
Die Präambel der Bundesverfassung von 1999 enthält wie schon jene von 1848 und 1874 zwei Teile: die Anrufung Gottes (lat. invocatio Dei) und eine Erzählung (lat. narratio). Die neue Präambel ist nun auch als solche bezeichnet. Die Erzählung hat sich inhaltlich stark gewandelt und deutlich an Umfang gewonnen.[58]
Der Verfassungsentwurf von 1977 (VE 77) legte mit seiner berühmt gewordenen und viel zitierten Präambel des Schriftstellers Adolf Muschg ein Musterbeispiel für eine moderne Präambel vor. Die Revisionsbestrebungen für eine neue Bundesverfassung versandeten danach bis zum VE 95 des Bundesrates, der sich dabei auf eine sehr kurz gehaltene Präambel mit Gottesanrufung und die nüchterne Nennung der Verfassungsgeber beschränkte. Die vom Bundesrat eingeleitete „Volksdiskussion“ ergab, dass sich die Interessengruppen und auch viele Bürgerinnen und Bürger eine gehaltvollere Präambel wünschten. Die neue Präambel sollte inhaltliche Aussagen zur schweizerischen Staatsidee und zu den wichtigsten Werten und Prinzipien der Eidgenossenschaft machen, kurzum: die Leitprinzipien des Staates benennen. Die inhaltliche Spannweite der Eingaben war beinahe ebenso gross wie ihre Anzahl: ca. 100 Organisationen und 6400 Private äusserten sich zu einer neuen Präambel. Zu keiner anderen Verfassungsbestimmung erhielt der Bundesrat mehr Mitteilungen.[59] Neben einer Minderheit, welche die Anrufung Gottes streichen oder ersetzen wollte, setzte sich die grosse Mehrheit der Votanten für die Beibehaltung der invocatio Dei ein.[60]
Der welsche Journalist Daniel S. Miéville ersann 1996 im Auftrag des Bundesrates eine zeitgemässe und dem Wesen der neuen Verfassung entsprechende Präambel. Der Präambeltext löste heftige politische Debatten aus. Die Linke beantragte erfolglos die Anrufung Gottes oder zumindest das Attribut „des Allmächtigen“ zu streichen. Die Erzählung wurde, insbesondere durch Anträge im Nationalrat, erweitert und einzelne Teile des von Adolf Muschg stammenden Präambelentwurfes des VE 77 eingeflochten. Die definitive Fassung des Präambeltextes konnte erst in der Einigungskonferenz der beiden Räte gefunden werden.[61]
4.2. Funktion der Präambel
Die Botschaft des Bundesrates für eine neue Bundesverfassung umschreibt die Funktion der Präambel als eine „feierliche, würdevolle Einleitung zur Verfassung“. Sie sei symbolischer Natur und mache den Geist der Verfassung erkennbar. Zudem unterstreiche sie den Gründungscharakter der Verfassung, bekräftige den Willen zur Staatlichkeit und soll dem Staat in gewissem Masse richtungweisend für seine Entwicklung sein.[62]
Gemäss Ehrenzeller erfüllt die Präambel der BV 1999 folgende vier Funktionen:[63]
1) Historisch-informative Funktion Diese Funktion kam in erster Linie der alten Verfassungspräambel zu. Auch die neu gefasste Präambel macht Aussagen zum (historischen) Willen und der Grundabsicht der Eidgenossenschaft. Bsp. „den Bund zu erneuern“ in Abs. 3 und „Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften“ in Abs. 5.
2) Symbolische Funktion Die Präambel gibt tiefgründig und in einer feierlich-gehobenen, aber trotzdem bürgernahen Sprache Antworten auf die Frage, „warum es den Staat Schweiz gibt und braucht“.[64] Sie erschliesst den unbewussten „Wurzelgrund“ des Staates und macht tiefer liegende Kultur- und Wertgehalte sichtbar.[65] Dem Text gelingt es damit auch, das abstrakte Wesen des Staates und den moralischen Anspruch, den wir an ihn stellen, für den einzelnen Bürger fassbarer und verständlicher zu machen.[66] Bsp. Vierkulturenstaat Schweiz in Abs. 4: „Vielfalt in der Einheit“ und die humanitäre Tradition der Schweiz in Abs. 3: „in Solidarität […] gegenüber der Welt“.
3) (Staats)politische Funktion Die heftigen politischen Debatten um die Präambel veranschaulichen ihre wichtige staatspolitische Funktion. In ihr werden die Legitimationsbasis des Staates und der in jeder funktionierenden Demokratie unabdingbare Basiskonsens angesprochen. Die Präambel hat damit eine Integrationswirkung, die von hoher (staats)politischer Bedeutung ist. Bsp. politisches Bekenntnis zum Sozialstaat in Abs. 6: „dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“.
4) Rechtlich-normative Funktion vgl. dazu Kapitel 5.
Es sind noch weitere Funktionen in der Präambel der BV 1999 zu sehen:
5) Bekenntnisfunktion [67] Die Präambel enthält mannigfache zivilreligiöse[68] Glaubensbekenntnisse (man könnte auch von Werten, Idealen sprechen), die zum gesellschaftlichen Basiskonsens gezählt werden dürfen. Solche vorpositive Glaubenswahrheiten können beispielsweise in den Begriffen Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit (Abs. 3) sowie Rücksichtnahme und Achtung (Abs. 4) gesehen werden.
Währenddem die normative Religionsfreiheit (Art. 15 BV) und der faktische Pluralismus den Staat verpflichten konfessionell neutral zu bleiben, bedingt die Präambel, dass sich das Staatswesen nicht wertneutral verhält, sondern „sich zu den traditionellen abendländischen Grundwerten bekennt, die ohne das Christentum nicht zur Blüte gekommen wären.“[69]
Die stets schwierige Aufgabe ist m. E., zu unterscheiden, ob ein Ideal, ein Wert ausschliesslich christlicher Herkunft ist und damit vom Staat nicht berücksichtigt werden dürfte oder ob man schon von einem allgemein akzeptierten, zivilreligiös gewordenen Ideal (aus ursprünglich christlicher Tradition) sprechen kann, das zum gesellschaftlichen Basiskonsens gezählt werden darf und daher staatliches Handeln und Legiferieren prägen kann oder sogar muss. Ob diese Unterscheidung überhaupt machbar und sinnvoll ist, wenn man sich doch gleichwohl zur abendländisch-christlichen Tradition und Herkunft bekennt, ist m. E. äusserst fragwürdig.
6) Brückenfunktion in der Zeit [70] Die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Zukunft findet sich augenfällig in Abs. 5: „im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften“ vs. „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“. Die Gegenwart kann im Begriff „Bewusstsein“ erblickt werden, da man sich ja im Jetzt bewusst wird, welche gemeinsamen Errungenschaften die Schweizerinnen und Schweizer aufzuweisen haben. Damit wird der Präambel eine Brückenfunktion in zeitlicher Hinsicht verliehen.[71]
7) Brückenfunktion innerhalb der Verfassung [72] Die Präambel gibt oft das Thema und teilweise sogar die einzuschlagende Richtung vor, währenddem die nachfolgenden Artikel diesen Gedanken in juristisch-technische Form überführen.
Bsp. I Abs. 3 „ihre Vielfalt in der Einheit zu leben“ findet seine juristische Verwirklichung beispielsweise in den Art. 69 Abs. 3 (Kultur), Art. 70 (Sprachen), Art. 175 Abs. 4 BV (Zusammensetzung des Bundesrates).
Bsp. II Abs. 3 „in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt“ wird ausgeführt in Art. 54 Abs. 2 BV (aussenpolitische Grundsätze).
Bsp. III Abs. 5 „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“ ist normativ in Art. 73 BV (Nachhaltigkeitsgrundsatz) festgehalten.
8) Spiegelbildfunktion zum Menschen- und Staatsbild [73] Diese Funktion kann auch als Brückenfunktion gegenüber dem Einzelnen aufgefasst werden. Die beispielsweise in Abs. 6 enthaltene, klare Aufforderung[74] an den einzelnen Bürger, dass frei nur sei, wer seine Freiheit auch gebrauche, widerspiegelt das Bild vom Menschen, das dem Verfassungsgeber vorschwebt: ein freier Mensch, der selbstverantwortlich handelt und auch Verantwortung übernimmt.
Ausgehend von diesem Menschenbild versteht sich die Schweiz damit m. E. als freiheitlich-demokratisches Staatswesen, das sich erst subsidiär, d.h. „in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative“[75] für den einzelnen Menschen sozial verantwortlich sieht. In erster Linie ist jeder für sich selbst verantwortlich und seines Glückes eigener Schmied.[76] Dies ist keineswegs eine Absage an den Sozialstaat, der ja auch in Abs. 6 angesprochen wird, jedoch wird die Freiheit und damit die Selbstverantwortung in Abs. 6 zuerst genannt. Die Schweiz versteht sich durch diesen subtilen Hinweis nicht als vollumfänglich zuständiger Wohlfahrtsstaat (Staatsbild der Präambel).
Diese Liste ist nicht abschliessend und erhebt dadurch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bestimmt lassen sich – je nach Betrachter – noch einige weitere Funktionen in der Präambel finden. Zudem ist sie dynamisch und offen genug verfasst, so dass es jeder Generation frei steht, „hinter der Formel das zu suchen, was ihrer Ansicht nach bedeutsam ist.“[77]
4.3. Anrufung Gottes (invocatio Dei)
4.3.1. Einführung
Das vorliegende Kapitel [78] widmet sich den juristischen und theologischen Interpretationsversuchen und der Wirkungsgeschichte der Invokation Gottes in der BV. Ihre historische Herkunft von der frühen Eidgenossenschaft bis 1874 wurde bereits in Kapitel 0 erörtert.
Die Anrufung Gottes zu Beginn der Verfassung muss eine Herausforderung für jeden von uns sein, denn eine Worthülse an solch prominenter Stelle wäre falsch platziert. Die Gegner einer invocatio Dei sehen in ihr eine Anmassung und ein belastetes, christliches Relikt, das in einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft nicht mehr tragbar sei. Für die Befürworter steht der Name Gottes – der schon im Begriff Eid genossenschaft implizit ausgedrückt werde – für den verpflichtenden Horizont jenseits aller menschlichen Machteinwirkung, an der sich auch das Menschenwerk Verfassung zu orientieren habe.[79]
„Im Namen Gottes“ bezeichnet zweifellos kein Stellvertretungsverhältnis[80] und meint schon gar nicht die besondere Auserwähltheit des Schweizervolkes vor Gott[81] wie gewisse volkstümlich-nationalistische Kreise noch heute die Einleitung zur Präambel deuten.[82]
Die Menschen erbitten mit dem Anruf das Wohlwollen und den Schutz Gottes. Der Anrufung Gottes kommt nach dem Staatsrechtler J.-F. Aubert vor allem die Funktion zu, uns an die Relativität der Dinge zu erinnern und uns Bescheidenheit zu lehren.[83] Es lassen sich freilich weitere Funktionen in der invocatio Dei finden.
4.3.2. Funktion der invocatio Dei
Die Botschaft des Bundesrates für eine neue Bundesverfassung erachtet die Aufnahme der Invokation Gottes in die neue Präambel formell als „hochbedeutsamen Traditionsanschluss“. Materiell soll sie darauf hinweisen, dass neben den Menschen und dem Staat eine höhere Macht bestehe, wodurch „der Wert des Irdischen relativiert“ werden soll.[84]
Der Anrufung Gottes können nachfolgende Funktionen zugemessen werden. Diese Liste ist nicht abschliessend gedacht und kann je nach Betrachter beliebig erweitert werden.
1) Historische Funktion Die Anrufung Gottes verweist auf das christlich-abendländische Fundament des schweizerischen Staatsdenkens und erfüllt damit eine aufschlussreiche historische Funktion.[85]
2) Symbolische Funktion In konzentrierter Form bildet die Invokation die Ambivalenz staatlicher Autorität ab und verweist auf eine das Staatswesen transzendierende Macht, die den staatlichen Machtanspruch relativiert. Mit der Berufung auf eine höhere Macht erinnert die Verfassung daran, dass sie selbst und das gesamte darauf aufgebaute Staatswesen nur unvollkommenes Menschenwerk ist.
Der Name Gottes wird keineswegs angerufen um die staatliche Herrschaft zu legitimieren, wie dies bei den Königen im Mittelalter und im Absolutismus gemacht wurde. Vielmehr ist die Anrufung Gottes in symbolischer Hinsicht in einem durchaus herrschaftskritischen Sinne zu verstehen.[86]
3) Staatspolitische Funktion Im Gottesanruf kommt der Grundkonsens zum Ausdruck, dass staatliches Recht und Handeln auf einer gemeinsamen Wertordnung beruht, die sich der Staat selbst eben gerade nicht geben kann, sondern die er voraussetzen muss.[87] Der moralische Boden der staatlichen Gemeinschaft definiert sich heute wohl vermehrt aus einer zivilreligiösen[88], säkularisierten Humanität heraus als durch das rein christlich-abendländische Gedankengut. Die Anerkennung einer gemeinsamen moralischen Basis gibt im politischen Alltag Orientierung und Halt und schafft damit Vertrauen in den Staat. Darin liegt die primäre staatspolitische Bedeutung der invocatio Dei.[89]
4) Machtbegrenzende Funktion Ein Verfassungsstaat, der in seiner Präambel eine höhere Macht anerkennt, verpflichtet sich nur für die Menschen im Diesseits zu sorgen, ihnen aber in ihrer individuellen Ausrichtung auf das zweite, überirdische Reich vollkommene Freiheit zu lassen. Der Staat darf dem Menschen dieses innere Reich des Glaubens weder zerstören noch staatlich kontrollieren oder reglementieren.
Das Staatswesen weiss um die Beschränktheit, Bedingtheit und Relativität seiner Macht und anerkennt daher den einzig Allmächtigen, nämlich Gott. Der Traum menschlicher Omipotenz und der Gotteskomplex (so mächtig wie Gott zu sein), hat sich in der Bibel (Turmbau zu Babel, Genesis 3 und 9) wie auch in der geschichtlichen Erfahrung als selbstzerstörerisch erwiesen.[90] Das Menschenwerk Verfassung wird durch die Invokation Gottes zu etwas schlussendlich Unvollkommenem und Vorläufigem. Die Präambel verhindert damit sowohl eine totalitäre, monotheistische Herrschaft als auch generell religionsfeindliche Handlungen des Staates.[91]
5) Legitimationsfunktion und Verfassungstreue des Bürgers Religiöse Menschen sehen in der Anrufung Gottes eine Voraussetzung für die Legitimität der Machtansprüche der Mehrheit, da sich der Staat nicht aus sich allein legitimieren könne. Gläubige erachten die invocatio Dei des Weiteren als Ankerpunkt zur Einordnung der Verfassung in eine höhere, transzendente Welt. Da die Präambel ein Bekenntnis zur beschränkten Macht des Staates beinhaltet und damit die Errichtung eines monotheistischen Staatswesens verunmöglicht, ist sie auch für Atheisten akzeptabel.[92]
4.3.3. Kurze Wirkungsgeschichte
Ernst Staehelin[93] wies schon 1935 daraufhin, dass sich die Anrufung Gottes vielleicht schon zu einer „unverbindlichen Anrufung einer Sittenordnung“ verflüchtigt habe und irgendeine Gottheit eines „pantheistischen Idealismus oder eines unbestimmten Feld-, Wald- und Wiesenpatriotismus“ gemeint sei.
Im Gegensatz dazu äusserte sich der bekannte Theologe Karl Barth im Zweiten Weltkrieg (1941) in der Ausdrucksweise einer christlichen Geistigen Landesverteidigungsschrift zur invocatio Dei. Dabei erläuterte er, dass die kriegsverschonte Schweiz von Gott mit besonderer Gnade gewürdigt wurde[94] und dass die vier christlich geprägten Zeichen (1. invocatio Dei in der BV, 2. der Begriff Eid genossenschaft, 3. das Schweizer kreuz und 4. die Randschrift auf dem „Fünfliber“: Dominus providebit! – Der Herr wird’s versehen) ein Aufruf an die Christen im Lande seien, gemeinsam für die Erhaltung der freiheitlich-demokratischen Schweiz – umgeben von totalitären, faschistischen Staaten – zu kämpfen, da nur ein Staatswesen wie die Schweiz vor Gott verantwortet werden könne.[95]
Die beiden Staatsrechtler Marcel Bridel und Zaccaria Giacometti sahen 1949[96] in der Invokation Gottes einen Verweis auf eine transpositive Macht und ein Bekenntnis zur Unvollkommenheit des Menschenwerks Verfassung. Die Eidgenossenschaft gründet damit in ihren Augen auf einer transzendenten, theistischen Grundlage und ist sich ihrer relativen und bedingten Staatsmacht bewusst. Hans Marti (1958) und Paul Steiner (1965)[97] waren der dezidierten Ansicht, dass die Anrufung Gottes der fundamentalste Satz der ganzen Verfassung sei, da sie damit in die christliche Wertordnung hineingestellt werde. Stellvertretend für eine neue Generation Juristen bezeichnet Peter Saladin die Präambel und insbesondere die Anrufung Gottes als „Richtpunkt für Aufbau und Handeln des Staates“[98] und misst ihr dabei wie viele andere – damals noch junge Juristen – mehr Bedeutung zu als die älteren Kommentatoren.[99]
Einige Autoren interpretieren die invocatio Dei dahingehend, dass der christlichen Gott angerufen werde, andere – heutzutage die grosse Mehrheit – sehen darin einen allgemeinen religionsunabhängigen, zivilreligiösen Verweis auf eine höhere Macht oder wie es Peter Saladin treffend formuliert: „Die Anrufung Gottes wird […] zur Anrufung einer irgendwie vorgestellten, geglaubten Transzendenz.“[100]
4.3.4. Zivilreligiöse Deutung
Der Theologe Hans Heinrich Schmid ist der Frage nachgegangen, wie es dazu kommen konnte, dass die überaus liberale, aufgeklärte und religiös neutrale Schweiz des 19. Jahrhunderts ihre Verfassung mit einer Invokation Gottes anstimmen liess.[101]
Da sich die Formel „Im Namen Gottes des Allmächtigen“ der spezifisch christlichen Inhalte wie etwa Liebe, Gnade und Vergebung nicht bedient, ist sie für alle irgendwie religiösen Menschen akzeptierbar. Diese sehr allgemeine Anrufung irgendeines Gottes ist nicht durch das Christentum, sondern von der Sprache der Aufklärung geprägt. Auch Kant kommt nicht ohne Gott aus, denn auch für die Aufklärung „ist Moral nur denkbar, wenn eine Instanz besteht, die Moralität überhaupt erst begründet und ermöglicht.“[102] Rousseau beschrieb in seinem „Contrat social“ das Konzept einer „religion civile“ (Zivilreligion), da er der Überzeugung war, dass jedes geordnete Gemeinwesen einer Religion bedürfe. Diese Zivilreligion ist nichts anderes als traditionelle Religion, die so weit reduziert wird, bis sie aufklärungskonform daherkommt. Sie enthält gewisse „Mindestelemente eines religiösen oder quasireligiösen Glaubens, für die bei allen Bürgern Konsens unterstellt werden kann.“[103] Mit anderen Worten ausgedrückt ist Zivilreligion ein „religiöser Universalkonsens über die verfassungsmässige Wertordnung.“[104] Die zivilreligiöse Anrufung Gottes gibt der Verfassung eine Perspektive, die abseits aller Partikularinteressen der Beteiligten steht und die den Blick auf das Ganze garantiert. Die Zivilreligion ist denn auch heute gelebte Wirklichkeit geworden, indem die Religionen auf breiter Front auf Aufklärungskonformität reduziert werden und wenn man ehrlich sein will sogar die Ökumene schlussendlich ein beiderseitiger Rückzug auf einen gemeinsamen zivilreligiösen Nenner darstellt.[105]
Allerdings ist die Verweltlichung der Gesellschaft so weit fortgeschritten, dass sich auch Zweifel gegenüber einer zivilreligiösen Berufung auf Gott mehren. So finden sich zahlreiche Verfassungen, v.a. aus dem 20. Jahrhundert, die auf eine invocatio Dei verzichten und sich stattdessen auf die Würde des Menschen, Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden oder allgemein auf die Menschenrechte beziehen. Auffällig dabei ist, dass dies vielfach in einem religiös anmutenden Vokabular geschieht. Da ist von einem „tiefen Glauben“ (EMRK), „unserem Glauben an die Grundrechte der Menschen“ (UN-Charta) die Rede oder es wird eine Verfassung „in feierlichem Bekenntnis zu den […] Menschenrechten“ (Verfassung Baden-Württemberg) erlassen.[106] Die Idee der Menschenrechte basiert auf der sukzessiven Selbstbewusstwerdung[107] des Menschen seit der Aufklärung und ist daher auf den Menschen zentriert. Bei einer Menschenrechtsverletzung ist der Mensch wiederum an Menschen, z. Bsp. an ein Gericht, verwiesen. Wenn wir also unsere (Verfassungs-) Perspektive dahingehend abändern, dass wir die Menschenrechte anstelle Gottes setzen, „so bleibt uns nichts anderes übrig, als an den Menschen zu glauben.“[108] Ist das wünschenswert? Ist das nicht ein klassischer Zirkelschluss, der uns nirgendwohin führt?[109]
Im Gegensatz zu einem absolut säkularen Bezug auf die Menschenrechte erhalten wir von einer zivilreligiös verstandenen Gottesanrufung eine Perspektive, die über den Menschen hinaus geht und damit wesentlich umfassender ist. Zwar ist auch eine Verfassung, die „im Namen Gottes“ geschrieben wurde ein Menschenwerk. Allerdings anerkennt der Mensch dabei, dass auch er eingebunden ist in ein weit umfassenderes Ganzes. Die Würde des Menschen kann nicht aus dem Menschen selbst entspringen. Sie hat ihren Grund in einer überirdischen Instanz, die über dem Menschen und über aller Wirklichkeit steht.[110] Die zivilreligiöse Perspektive gibt dem Menschen Autonomie, schenkt ihm aber gleichzeitig eine weitergehende Perspektive wenn das Menschenrechtskonzept an seine Grenzen stösst und in einem Zirkelschluss zu enden droht. Diese Perspektive kann nur Gott sein.[111]
Zivilreligion heisst in concreto gemeinsame Wertvorstellungen für Gerechtigkeit, Sittlichkeit, Wahrhaftigkeit, Nächstenliebe, Fairness, Selbstverantwortlichkeit, soziale Verantwortung für andere usf. Die Präambel verweist damit auf ständig von der Realität beanspruchte Prämissen des liberalen Verfassungsstaates, die er fortwährend voraussetzt, aber nicht selbst garantieren kann.[112] „Gott“ verstanden als Bezugsinstanz zwecks „Aktualisierung der ideellen Wertgrundlagen des Verfassungsstaates – müsste eigentlich für alle, welche die Rechte und Garantien dieser Verfassung in Anspruch nehmen […] akzeptierbar sein.“[113]
Dem widerspricht der Rabbiner Marcel Marcus, der darin eine abstrakte Verankerung einer spezifischen Religiosität in der Verfassung sieht. Erstens ist die Verfassung in seinen Augen nur für diejenigen verpflichtend, die einen Gottesglauben haben und damit seien Atheisten nicht an die Verfassung gebunden. Dies erachtet er – verständlicherweise – als verfassungsrechtlichen Unsinn. Zweitens hegt er theologische Bedenken, da ein Gläubiger allen Verkündungen im Namen Gottes Folge zu leisten habe, da sich der Mensch nicht gegen den allwissenden und allmächtigen Gott auflehnen könne. Das Wort Gottes gelte einfach. Die Verfassung würde dadurch unabänderlich, denn ein Wort Gottes könne auch nicht mit Mehrheitsbeschluss aufgehoben werden, da ja Gott über dem demokratischen Souverän stehe. Marcus erachtet es schliesslich als menschliche Anmassung und Blasphemie des Verfassungsgebers im geheiligten Namen Gottes zu sprechen.[114]
Dieser wortgetreuen Interpretation kann m. E. nicht gefolgt werden. Erstens ist eine Verfassung durch einen Rechtsakt, in der Schweiz durch eine obligatorische Abstimmung von Volk und Ständen, legitimiert und nicht alleine – wie es der Autor vorgibt – durch einen Vorspruch in der Präambel. Zudem bindet nicht die Verfassung an einen Glauben, sondern gibt umgekehrt der Glaube ein bestimmtes Verhältnis zur Verfassung vor. Nur wer schon einen Glauben hat, kann in der Präambel an diesen erinnert werden.[115] Zweitens bezweckt die Anrufung Gottes u.a. die Unterschutzstellung des vergänglichen, unvollständigen Verfassungswerkes durch Gott. Es bestand verfassungshistorisch nie die Absicht diese Anrufung in einem Stellvertreterverhältnis zu Gott zu sehen.[116] Überdies hinaus bedeutet „Im Namen Jahwehs (Gott)“ nicht nur im Auftrag Jahwehs, sondern kann auch eine Eides- und Segensformel oder eine Berufung auf die Macht Jahwehs darstellen.[117]
4.3.5. Kritik des Attributs „des Allmächtigen“
Neben der rechtspolitischen Kritik, welche die ganze Anrufung Gottes wegen ihrer (behaupteten) Unvereinbarkeit mit einer modernen, pluralistischen Gesellschaft aus der Präambel herausstreichen möchte, findet sich die eher aus theologischen Kreisen stammende Kritik am Attribut der Allmacht als einzige Qualifizierung Gottes. Eine Reduktion der Formel auf „Gott“ alleine birgt allerdings erhebliche Übersetzungsprobleme, da im Französischen „Au nom de Dieu“ auch als Fluch interpretiert werden kann. Es wurde daher die Formulierung „In Verantwortung gegenüber der Schöpfung“[118] in die Diskussion gebracht, dann aber wieder fallengelassen, da erstens der Traditionsanschluss verloren gegangen wäre, zweitens erwies sich der Begriff „Schöpfung“ als doch zu unbestimmte und die Menschen zu wenig in Pflicht nehmende Verantwortungsinstanz und drittens hätte man die Zustimmung zum Gesamtprojekt Verfassungsrevision nur unnötig in religiösen Kreisen aufs Spiel gesetzt.[119]
Ein anderer Weg sich vom Allmachtsbegriff zu lösen, unternahm der Theologe Arthur Rich[120], der geltend macht, dass „Allmacht“ als Wesensbeschreibung Gottes im Alten wie im Neuen Testament nur am Rande vorkommt und keine zentrale Bedeutung aufweist. Die primären biblischen Botschaften sind verknüpft mit den Chiffren Gerechtigkeit, Freiheit und vor allem der Liebe „als der Einheit von Gerechtigkeit und Freiheit und damit dessen, was Gott dem Menschen schenkt und was er von ihm fordert.“[121] Die Liebe als Geschenk und Forderung Gottes verstanden ist wesensmässig verwandt mit dem Recht, weil das Recht den Menschen vor dem Menschen schützt und sie zur wechselseitigen Respektierung ihrer Menschenrechte zwingt. Der Unterschied zwischen Liebe und Recht darf aber keineswegs verkannt werden: Recht ist mit Zwang durchsetzbar, Liebe nicht. In diesem Sinne schlägt Arthur Rich folgenden Satz zu Anbeginn der Präambel vor: „In Verantwortung vor Gott, der aus Liebe zum Menschen Gerechtigkeit will und vor dem nur bestehen kann, was sich in allem Wandel nach seiner Gerechtigkeit richtet.“[122]
Diesen lobenswerten Überlegungen zur Findung einer theologisch besser begründbaren und moderneren Formulierung der Anrufung Gottes standen erhebliche politische Bedenken gegenüber. Denn mit einer Umformulierung wären m. E. die Diskussionen über das neue Gottesverständnis der Verfassung erst recht ausgebrochen und man hätte sich in konfessionslosen und atheistischen Kreisen nicht mehr auf den Traditionsanschluss als Argument zur Beibehaltung der Invocatio Dei stützen können. So liegt denn auch in der Beibehaltung der alten Anrufung Gottes gewiss auch eine gute Portion realpolitischen Verstandes.[123]
4.3.6. Verhältnis zur Religionsfreiheit
Zwischen der Anrufung Gottes in der Präambel und der Religionsfreiheit in Art. 15 BV besteht ein gewisses Spannungsverhältnis.
Der Bundesrat führt in seiner Botschaft für eine neue Bundesverfassung aus, dass der Gottesbegriff der Präambel in Anbetracht der Vielzahl der Religionen und Weltanschauungen nicht nur im christlichen Sinne verstanden werden dürfe. Der Staat sei aufgrund der Religionsfreiheit nicht befugt ein bestimmtes Bekenntnis für verbindlich zu erklären und jeder Mensch könne „Gott dem Allmächtigen“ seine individuelle Bedeutung geben.[124]
Die Religionsfreiheit garantiert dem Individuum die „religiöse und weltanschauliche Überzeugung und Entfaltung“[125] und verlangt vom Staat konfessionelle Neutralität. Damit ist aber nicht religiöse Gleichgültigkeit oder gar Wertneutralität gemeint. Der Staat hat einerseits die Pflicht, den Menschen in seinen religiösen Bedürfnissen ernst zu nehmen und ihm einen Freiraum zur Betätigung seines Glaubens zu geben. Andererseits steht auch dem Staat das Recht zu, die ihm zugrunde liegende Wertebasis (Prämisse des liberalen Verfassungsstaates[126] ) zu schützen und zur Geltung zu bringen, z. Bsp. im Schulwesen, bei der Feiertagsordnung, im Privatrecht (Bsp. Privilegierung und Schutz der Ehe zwischen Mann und Frau) und nicht zuletzt bei der kantonalen Befugnis zur öffentlich-rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften und der Vermittlung von Steuerhoheit. Der fortschreitende Wertepluralismus in der Gesellschaft erfordert vom Staat zwar Respekt und Rücksichtnahme, er verpflichtet ihn aber weder zur Anerkennung beliebiger Werte noch zur Wertneutralität.[127]
Die Religionsfreiheit umfasst auch das Recht nicht an ein transzendentes Wesen zu glauben und ein ausschliesslich Diesseits orientiertes Leben zu führen. Einige Autoren wie etwa der Theologe H.-H. Schmid[128] schliessen eine Vereinbarkeit der Invokation Gottes mit der Weltanschauung eines Atheisten von vornherein aus oder bekunden einige Mühe bei der Argumentation wie etwa P. Saladin[129], der meint, dass wir Atheisten „bloss bitten“ können die zivilreligiöse Deutung zu übernehmen. Ich möchte mich hier der Auslegung von B. Ehrenzeller anschliessen, der die zivilreligiös verstandenen Werte, auf die zu Anbeginn der Verfassung verwiesen wird, als „Aktualisierung der ideellen Wertgrundlagen des Verfassungsstaates“ bezeichnet und damit „für alle, welche die Rechte und Garantien dieser Verfassung in Anspruch nehmen […] akzeptierbar [sind]“, also auch für Atheisten.[130]
Verfassungssoziologisch betrachtet, manifestiert die Invokation Gottes die dem gesamten schweizerischen Staatsverständnis zugrunde liegende Zivilreligion im oben[131] erörterten Sinne. Dieses Bekenntnis in der Präambel der Verfassung, die in erster Linie die Mehrheit ihrer Bevölkerung und ihr (tradiertes) Staatsverständnis widerspiegelt, darf aber keineswegs auf den einzelnen Bürger angewandt werden. Diesem steht, sollte er keine Möglichkeit finden die Formel auf seine Weltanschauung zu beziehen, die Berufung auf die Religionsfreiheit zur Verfügung. Allerdings kann die invocatio Dei als religiös geprägtes Zeichen ebenso wenig einen Zwang zu einem religiösen Bekenntnis begründen wie eine grosse Vielzahl anderer religiös geprägter Symbole unseres Alltags.[132] Gegenüber dem Einzelnen ist die invocatio Dei also nichts Weiteres als ein moralischer Aufruf, der rechtlich nicht bindend ist.[133]
Das Spannungsverhältnis zwischen Präambel und der Religionsfreiheit lässt sich allen Bemühungen zum Trotz nicht ganz auflösen, da unsere Gesellschaft zwar säkularisiert und wertpluralistisch geworden ist, aber nie wertneutral sein kann[134] und ich meine zum Glück.
4.4. Erzählung (narratio)
Die der Anrufung Gottes nachfolgende Erzählung (lat. narratio) enthält die „Gründe für die Verfassungsgebung“, welche die grundlegenden Werte in der Gesellschaft als anerkannte Leitvorstellungen aktualisieren soll.[135]
Man kann sich die narratio als Bedeutungskreis vorstellen, an dessen fiktivem Anfangspunkt die invocatio Dei steht. Die zivilreligiös verstandene Anrufung Gottes verweist auf den gesellschaftlichen Basiskonsens bezüglich der grundlegendsten Wertvorstellungen, die wir Menschen („das Schweizervolk und die Kantone“, Abs. 1) auch „in Verantwortung gegenüber der Schöpfung“ (Abs. 2) als wertvoll erachten. Die narratio verweist darauf aufbauend konkret auf die klassischen, teils spezifisch schweizerischen Werte Föderalismus („im Bestreben, den Bund zu erneuern“), Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit, Frieden, Solidarität und Offenheit (Abs. 3) sowie Rücksichtnahme und Achtung um dann in den Willen des föderalistischen Vierkulturenstaates Schweiz überzuleiten, seine „Vielfalt in der Einheit zu leben“ (Abs. 4). Der Abs. 5 weist nach diesem Wertekatalog der Gegenwart den Blick in die Vergangenheit um sodann die Perspektive in die Zukunft zu öffnen, indem das ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeitsprinzip[136] zu Gunsten der „künftigen Generationen“ angesprochen wird. Diese Zukunftsperspektive hebt die Begrenztheit unserer eigenen Situation hervor und führt uns die beschränkte menschliche Macht und unsere eigene Endlichkeit vor Augen. Dieses Bewusstsein führt uns wieder zurück an den Anfang zur invocatio Dei, die wir gerade in diesem Bewusstsein an den Anfang der Präambel stellen.[137] Der Absatz 6 wurde nachträglich auf Antrag des Nationalrates eingefügt und will daher nicht so recht in den von mir vorgestellten Bedeutungskreis passen.
Die Verfassungsgeber in Abs. 1 – das Schweizervolk und die Kantone – werden in der neuen Präambel der BV 1999 vom Ursprung der Legitimation und der Entstehungsgeschichte her besehen korrekt wiedergegeben, wohingegen die alten Bundesverfassungen noch „die Schweizerische Eidgenossenschaft“ als Verfassungsgeber anführten. Die Formulierung „geben sich folgende Verfassung“ trifft das schweizerische Verständnis der Verfassung, die sich ständig weiterentwickelt und umgeschrieben wird, besser als die alte Formel „hat nachstehende Bundesverfassung angenommen“.[138]
Die Passage „In Verantwortung gegenüber der Schöpfung“ (Abs. 2) war von der Mehrheit der nationalrätlichen Kommission ursprünglich als säkularer Ersatz für die Anrufung Gottes gedacht, die dann aber von der Mehrheit nicht gestrichen werden wollte. Gegen den Absatz wurde eingewandt, dass er eine unnötige Wiederholung der Anrufung Gottes und des Abs. 5 darstelle. Dennoch verblieb die Passage einerseits als eine „ökumenische“ Geste gegenüber jenen, die den Gottesanruf ablehnen und andererseits als zeitdimensionale wie auch inhaltliche Klammer zu den „künftigen Generationen“ (Abs. 5) in der Präambel. Eine inhaltliche Klammer, weil sowohl die Verantwortung gegenüber der Schöpfung wie auch jene gegenüber den künftigen Generationen das Nachhaltigkeitsprinzip in ökologischer Hinsicht ansprechen. Dementsprechend kann der Abs. 2 auch als eine Respekterweisung gegenüber der Natur und der Umwelt interpretiert werden.[139]
Die eigentliche Erzählung beginnt mit der Gründungserinnerung „im Bestreben, den Bund zu erneuern“ (Abs. 3). Keine Erwähnung mehr findet die „schweizerische Nation“[140], die heute als vollständig etabliert gelten kann. Die Ziele des Bundes werden sodann aufgeführt: Freiheit, Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden. Neu an der Formulierung ist der veränderte Kontext und Stellenwert, da diese traditionellen schweizerischen Staatsziele „in Offenheit und Solidarität gegenüber der Welt“ erreicht werden sollen. Die Verfassung anerkennt damit die veränderten Rahmenbedingungen des zeitgenössischen Staates, der auf Grund der internationalen Verflechtung nicht mehr zwischen klassischer Innen- und Aussenpolitik unterscheiden kann. Die internationale Einbettung der traditionellen Schweizer Staatswerte in der Präambel stellt das aktuelle Spannungsfeld der schweizerischen Aussenpolitik zwischen Eigenständigkeit und Kooperation dar.[141]
Der Absatz 4 beinhaltet das für den Vierkulturenstaat Schweiz unabdingbare Toleranzgebot, das sich auf die gesamte Bevölkerung bezieht. Es spricht vom gemeinsamen Willen, bei aller kulturellen Verschiedenheit in „Rücksichtnahme und Achtung“ zusammenzuleben. Dies soll aktiver denn je geschehen, indem „die Vielfalt in der Einheit“ gelebt und nicht nur ein friedliches Nebeneinander praktiziert werden soll.[142]
Nach diesem Katalog von heraufbeschworenen – teils typisch schweizerischen – Idealen und Werthaltungen, die für das Zusammenleben in der Schweiz, mit Europa und mit der ganzen Welt von hoher Bedeutung sind, folgt in Absatz 5 der stolze Blick in die Vergangenheit um sogleich die Perspektive in die Zukunft zu öffnen. In zeitlicher Hinsicht hat die narratio damit eine Brückenfunktion inne, indem sie von den „gemeinsamen Errungenschaften“ der Vergangenheit in die Zukunft weist („Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“).[143] Damit drückt die Präambel aus, dass weit reichende politische Entscheide für die Zukunft des Landes „aus dessen Geschichte und Tradition herauswachsen müssen.“[144] Inhaltlich gesehen wird das ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeitsprinzip[145] angesprochen.
Der aus dem Verfassungsentwurf von 1977 stammende Absatz 6 bringt das Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsausübung und sozialer Verpflichtung gegenüber den Schwachen zum Ausdruck. Freiheit im Sinne des Verfassers dieses Absatzes, dem bekannten Schriftsteller Adolf Muschg, darf nicht als etwas Statisches betrachtet werden, sondern „als nie erschöpfte Aufgabe, als Anweisung zu einem befreienden Handeln auf der persönlichen wie auf der politischen Ebene.“[146] Der zweite Teil spricht die individuelle und kollektive Solidarität (Sozialstaatlichkeit) an. Muschg spricht dabei von der „öffentlich-politischen Form der in der Bergpredigt niedergelegten Aufforderung zur Nächstenliebe.“[147]
Zusammenfassend betrachtet, bildet die narratio der Präambel die mannigfaltigen Spannungsfelder der Wirklichkeit in konzentrierter Form ab. Die Spannung zwischen der nationalstaatlichen Bewahrung der traditionellen Werte und den globalen Herausforderungen und rechtlichen und moralischen Verpflichtungen, die in „Offenheit und Solidarität gegenüber der Welt“ angegangen werden sollen. Des Weiteren die Spannung zwischen Vielfalt und Einheit im Innern sowie jener zwischen Garantie und Gebrauch der Freiheit und das Spannungsfeld zwischen der Befriedigung der Bedürfnisse der heutigen Bevölkerung und der „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“. Indem die Präambel diese Spannungsfelder ausdrücklich offen legt, gibt sie den Politikern und uns allen immer wieder von neuem die wirklich wichtigen Diskussionsthemen vor und hilft so den politischen Erneuerungsprozess des Landes zu fördern.[148]
5. Rechtliche Bewertung der Präambel
5.1. Im Allgemeinen
Präambeln sind mit Zielvorgaben oder anderen programmatischen Verfassungsartikeln zu vergleichen, die eine ebenso komplexe Struktur aufweisen. Beide können als „Leitmotive der Verfassung“[149] bezeichnet werden und weisen daher durchaus normative Wirkung im Sinne des Gesamtplans Verfassung auf. Allerdings verbleibt in jeder Präambel immer ein Stück „überschiessende Tendenz“[150], also Teile und Bedeutungsschichten, die man nicht als normativ wirkend bezeichnen kann. Es muss also differenziert werden. Es können verschiedene Geltungsebenen je nach Intensität der normativen Wirkung unterschieden werden: Eine erste Schicht wirkt alleine ohne Konkretisierung in nachfolgenden Artikeln, eine zweite wirkt in Verbindung mit Verfassungsartikeln und eine dritte Schicht fungiert als „Interpretationstopoi“ für die Auslegung von einfachen Gesetzen.[151]
Für den einzelnen Bürger entfalten Präambeln keine normative Wirkung, da sie zu allgemein, zu politisch oder zu kulturell formuliert sind und daraus keine individuell-konkreten Rechte oder Pflichten abgeleitet werden können (non self-executing). Sie sind somit „bloss“ als moralischen Aufruf an den Menschen zu verstehen. Für die staatlichen Gewalten jedoch besitzen Präambeln – wie oben angeschnitten – in unterschiedlicher Intensität verbindliche Wirkung: von der blossen Programmatik über die Interpretationstopoi bis hin zum verbindlichen Verfassungsauftrag.[152]
5.2. In der Bundesverfassung von 1999
Die (alte) herrschende Lehre misst der Präambel keine normative und damit verpflichtende Wirkung zu. Diese Lehrmeinungen wollten ihre zur BV 1874 vorgebrachte Ansicht auch nicht auf Grund der inhaltlich fast komplett umgestalteten Präambel der BV 1999 revidieren, indem sie auf die herrschende politische Meinung während dem parlamentarischen Revisionsverfahren Bezug nehmen. Immerhin kommt der Präambel nach dieser Lehre eine starke politische Bedeutung zu und sie könne ausserdem als Auslegungshilfe fungieren – auch wenn dies das Bundesgericht noch nie praktiziert habe.[153] Der Lehrmeinung anschliessend führt auch der Bundesrat aus, dass die Präambel keinen normativen Wert aufweise.[154]
Vertreter einer neueren Lehre wie etwa Bernhard Ehrenzeller erachten diese Auffassung mit Blick auf Text und Sinn der neuen Präambel als überholt. Da die Präambel integrierender Bestandteil der Verfassung ist und nur mittels formeller Verfassungsrevision verändert werden kann wie jeder andere Verfassungsartikel auch, nimmt sie vollen Anteil an der Geltungskraft der Bundesverfassung. Ob der Präambel rechtliche Bedeutung erwächst, hängt nicht vom Begriff ab, sondern von Text und Sprache, die insgesamt betrachtet einen verpflichtenden Charakter aufweisen: Die Präambel nennt ethisch-politische Ziele und Leitprinzipien, die teilweise mit denselben Begriffen auch im Zweckartikel (Art. 2 BV) aufgelistet sind. So wie Präambel und Zweckartikel formuliert sind, ergänzen sie sich und können sogar als austauschbar aufgefasst werden, so dass auch einer völligen Integrierung des Zweckartikels in die Präambel nichts entgegenstehen würde. So kennen denn auch die wenigsten neu geschaffenen Verfassungen sowohl eine ausführliche Präambel als auch einen allgemeinen Staatszweckartikel. Somit sollte der Präambel wie auch dem Zweckartikel je nach Bedeutungsschicht dieselbe programmatische Bedeutung bzw. normative Wirkung zukommen. Zudem kommen Präambeln im Völkerrecht seit jeher als verbindliche Auslegungshilfen zur Anwendung. Trotzdem ist es nicht möglich aus der Präambel konkrete rechtliche Ansprüche oder Kompetenzen des Bundes oder der Kantone abzuleiten, da sie dafür zu wenig präzise formuliert ist und ihr Blickwinkel viel weiter als der fokussierte Einzelfall ist.[155]
Die Begriffe „Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt“ und „Rücksichtnahme und Achtung“ führt die Präambel neu in die Verfassung ein. Diese Begriffe, welche eine (neue) geistige Richtung vorgeben, bedürfen jedenfalls der Konkretisierung in der übrigen Verfassungsgebung, in der Gesetzgebung und im konkreten staatlichen Handeln. Ihnen kommt daher bei der Auslegung ein erheblicher Stellenwert zu. Neben dieser Funktion der Auslegungshilfe sind in der Präambel auch verbindliche Handlungsaufträge an die politischen Instanzen zu sehen. Diese Aufträge sind nicht justiziabel, aber trotzdem verpflichtenden Charakters, jedenfalls bei inhaltlicher Übereinstimmung mit anderen Verfassungsartikeln. Beispielsweise findet die in der Präambel angesprochene „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“ ihre technisch-juristische Entsprechung in Art. 73 BV (Nachhaltigkeitsprinzip).[156]
Es zeigt sich, dass die neue Präambel der BV 1999 eng mit der restlichen Verfassung verflochten ist und im Gegensatz zur alten Präambel in dynamischer und programmatischer Form als geistiger Wegweiser der obersten Staatsleitungsorgane dienen kann. Einzelne Teile der Präambel haben zusammen mit Verfassungsartikeln mehr als bloss programmatischen Charakter. Der Vorspruch der Verfassung dient jedenfalls als Auslegungshilfe und enthält Staatsziele und verpflichtende Handlungsaufträge an Bund und Kantone.[157] Insgesamt hat die Präambel normative Wirkung, „wenn auch der Verpflichtungs- und Bestimmtheitsgrad der einzelnen Präambelteile unterschiedlich zu bewerten ist.“[158]
Gemäss einer kritischen Betrachtung der neueren Lehre zufolge soll der Versuchung widerstanden werden, gewisse Werte ergebnisorientiert in besonderer Weise zu akzentuieren, da die in der Präambel genannten Werte sehr offen formuliert sind und allesamt in der Verfassung weiter ausgeführt werden. Die Präambel sei wie ein Inhaltsverzeichnis und diesem entnehme man ja schliesslich auch nicht mehr als dem Text. Der Präambel könne aufgrund der Offenheit der Grundwerte und deren oft bereits schon bestehenden Konkretisierung in der Verfassung faktisch keine wegweisende Funktion zukommen. Darüber hinaus habe sich die Mehrheit der Parlamentarier im Revisionsverfahren für die neue Bundesverfassung gegen eine normative Wirkungskraft ausgesprochen.[159]
M. E. verkennt die kritische Betrachtung der neueren Lehre die themenwegweisende und staatsleitungsprägende Funktion der Präambel, die durchaus verpflichtenden Charakter aufweist. Indem die Präambel die Spannungsfelder der Gegenwart und der Zukunft abbildet, verpflichtet sie die Politik immer wieder von neuem die getroffenen Lösungen und Abwägungen zu Gunsten des einen in der Präambel genannten Prinzips (Grundwert) und zu Ungunsten des anderen Prinzips neu zu überdenken. Die in Verfassung und Gesetzgebung aktuell in einer bestimmten Weise konkretisierten Grundwerte der Präambel können mit der Zeit eine ganz andere Ausgestaltung erfahren haben. Die Präambel aber wird mit ziemlicher Sicherheit noch viele Verfassungs- und noch sehr viele Gesetzesänderungen unverändert überleben. Auch darin liegt ihre normative Kraft: In ihrer Beständigkeit als Wegweiser zu allen Zeiten.
6. Kurze Zusammenfassung
Präambeln sind ein bis mindestens auf das zweite vorchristliche Jahrtausend rückverfolgbarer Vorspruch juristischer Dokumente, der auch heutzutage noch anzutreffen ist und vielfach mit einer wahrscheinlich aus dem Mittelalter tradierten Anrufung Gottes beginnt. Die Präambel hebt sich durch eine feierliche, emotionale und bürgernahe Sprache von der ansonsten so nüchternen Rechtssprache ab. Inhaltlich spricht sie den vorstaatlichen, überpositiven, ja geradezu bekenntnishaften Basiskonsens zu grundlegenden Werten der staatlichen Gemeinschaft an und bezieht sich dabei auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Volkes.
Die Verwendung einer Präambel mitsamt der Anrufung Gottes hat auf dem Gebiet der heutigen Schweiz eine bis ins 13. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Die Anrufung Gottes bezieht sich seit der BV von 1874 nicht mehr ausschliesslich auf den christlichen Gott. In der seither geführten Diskussion um den Sinngehalt der invocatio Dei wird heftig debattiert. Die Mehrheit der Juristen und Theologen sehen in ihr u.a. eine zivilreligiöse Bezugnahme auf gemeinsame Wertvorstellungen und eine Erinnerung an die Begrenztheit menschlicher Macht.
Die Präambel der BV von 1999 und die in ihr enthaltene Anrufung Gottes erfüllen eine Vielzahl von Funktionen, u.a. historische, symbolische, staatspolitische, normative, staatslegitimierende und machtbegrenzende Funktion.
Die der Anrufung Gottes nachfolgende Erzählung der Präambel der BV von 1999 bringt die mannigfachen Spannungsfelder der gesellschaftspolitischen Realität zur Geltung und kann daher als thematischer und durchaus auch wertungsgeladener Leitfaden dem ständigen politischen Erneuerungsprozess der Schweiz dienen.
[...]
[1] Wobei zumeist nur die Anrufung Gottes bekannt ist.
[2] Staude et al. (Red.), „Präambel“, in: Der Brockhaus Recht, Mannheim 2002; Tilch (Hrsg.), „Präambel“, in: Deutsches Rechts-Lexikon, Bd. 2, 3. Aufl., München 2001-2003.
[3] Waser-Huber, S. 1 f.; Tilch (Hrsg.), a.a.O.
[4] Waser-Huber, S. 82.
[5] Saladin, Im Namen Gottes, S. 18.
[6] Waser-Huber, S. 82 f.
[7] Fleiner, S. 27.
[8] Schmid, S. 526 f.; Fleiner, S. 27.
[9] Saladin, Im Namen Gottes, S. 18; Fleiner, S. 26.
[10] Häberle, S. 227.
[11] Häberle, S. 228.
[12] Häberle, S. 229.
[13] Häberle, S. 229.
[14] Waser-Huber, S. 1.
[15] Häberle, S. 229 ff.
[16] Häberle, S. 230.
[17] Häberle, S. 229.
[18] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 987 f.; vgl. auch Häberle, S. 239 f. und BBl 1997 I 122.
[19] Häberle, S. 230.
[20] Häberle, S. 229 ff.
[21] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 987.
[22] Häberle, S. 231.
[23] Vgl. dazu Kapitel 4.3.4.
[24] Eine ausdrückliche Bekenntnisklausel zu den Menschenrechten findet sich in der Präambel der EMRK von 1950: „in Bekräftigung ihres [der Vertragsstaaten, Anm. d. Verf.] tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten“.
[25] Häberle, S. 231 ff.
[26] Waser-Huber, S. 163 ff. und 31 ff.
[27] Häberle, S. 233.
[28] Häberle, S. 217. Bsp. der Wunsch nach der Deutschen Wiedervereinigung in der Präambel des Grundgesetzes (1949) und ihre Verwirklichung am 3. Oktober 1990.
[29] Häberle, S. 235.
[30] Häberle, S. 235; „Präambel als ein Stück Heimat der Bürger“ auch bei Fleiner, S. 26. Die meisten Volkseingaben zur Totalrevision der BV gingen zur Präambel ein, s. BBl 1997 I 122. Sie stellt demnach für den Bürger ein Stück Heimat dar, das er entweder bewahren oder verändern möchte.
[31] Häberle, S. 238.
[32] Häberle, S. 242 f.
[33] Häberle, S. 245.
[34] Häberle, S. 245; siehe heute noch Präambel der Verfassung der Republik Kuba von 1976 (Georgetown University, Washington D.C., http://www.georgetown.edu/pdba/Constitutions/Cuba/cuba1976.html, 12.10.2005).
[35] Häberle, S. 245 f.
[36] Häberle, S. 248.
[37] Vgl. dazu Kapitel 2.3.
[38] Präambel der alten Bundesverfassungen der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1848 und 1874.
[39] Aubert, Kommentar aBV, Präambel, S. 1 f.
[40] Saladin, Im Namen Gottes, S. 18; Waser-Huber, S. 84 ff. mit Beispielen und weiteren Hinweisen.
[41] Vgl. dazu Kapitel 2.2.
[42] Vgl. Waser-Huber, S. 86.
[43] Saladin, Im Namen Gottes, S. 18.
[44] Waser-Huber, S. 88.
[45] Vgl. dazu Kapitel 4.3.5.
[46] Saladin, Im Namen Gottes, S. 19.
[47] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 8.
[48] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 984; Saladin, Zur Präambel, S. 273.
[49] Mit dem Begriff „(eidgenössische) Räte“ sind in Kurzform die beiden Parlamentskammern (National- und Ständerat) gemeint, die zusammen auch als Bundesversammlung bezeichnet werden.
[50] Waser-Huber, S. 98 f.; Saladin, Im Namen Gottes, S. 19 f.
[51] Hafner, 5. Abs. im Abschnitt: „Gott in der Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft“.
[52] Darunter wird der Widerstand der katholischen Kirche und ihrer (politischen) Anhänger gegen die liberale Staatslehre verstanden.
[53] Saladin, Im Namen Gottes, S. 20; Waser-Huber, S. 99 ff.
[54] Aubert, Kommentar aBV, Präambel, S. 3 f.
[55] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 984.
[56] Vgl. Kapitel 2.7.
[57] Präambel der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR 101.
[58] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 5; BBl 1997 I 123.
[59] Mahon, commentaire CF, S. 5.
[60] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 5, 8; Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 987; BBl 1997 I 122 f.
[61] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 5 f.; Bertschi, Gächter, S. 4 f.; BBl 1997 I 122 f.
[62] BBl 1997 I 122.
[63] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 6 f.
[64] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 6.
[65] Vgl. Kapitel 2.4.
[66] Sog. verfassungspädagogische Funktion der Präambel s.a. in Kapitel 2.4 in fine.
[67] Vgl. Kapitel 2.5.
[68] Vgl. dazu Kapitel 4.3.4.
[69] Fleiner, S. 28.
[70] Vgl. Kapitel 2.7.
[71] Ebenso: Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 988.
[72] Vgl. Kapitel 2.8.
[73] Vgl. Kapitel 2.6.
[74] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 988.
[75] Art. 41 Abs. 1 BV (Sozialziele).
[76] Vgl. Art. 6 BV: „Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei“.
[77] Fleiner, S. 26.
[78] Die Literatur zur invocatio Dei hat schier unüberblickbare Ausmasse angenommen, so dass hier nur ein Teil der publizierten Interpretationsversuche behandelt werden können.
[79] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 9.
[80] Aubert, Kommentar aBV, Präambel, S. 2.
[81] Saladin, Zur Präambel, S. 275.
[82] Aubert, Kommentar aBV, Präambel, S. 2.
[83] Aubert, Kommentar aBV, Präambel, S. 2.
[84] BBl 1997 I 122 f.
[85] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 9.
[86] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 9; vgl. zum Widerstandsrecht in der invocatio Dei: Waser-Huber, S. 217 und Fleiner, S. 28.
[87] Vgl. zu vorpositiven Werten auch Kapitel 2.5.
[88] Vgl. dazu Kapitel 4.3.4.
[89] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 9 f.
[90] Lochman, S. 21.
[91] Fleiner, S. 24 f.; Saladin, Zur Präambel, S. 271 ff.
[92] Fleiner, S. 28; Saladin, Zur Präambel, S. 273.
[93] Ernst Staehelin, Im Namen Gottes des Allmächtigen, in: Festschrift für Eberhard Vischer, Basel 1935, S. 9 (zit. nach Saladin, Im Namen Gottes, S. 16 f.).
[94] Barth, S. 15.
[95] Barth, S. 3 ff., 27 ff.
[96] Zaccaria Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1949, S. 35 (zit. nach Saladin, Im Namen Gottes, S. 16).
[97] Hans Marti, Die religiöse Präambel der Bundesverfassung, 1955, S. 3 und Paul Steiner, Im Namen Gottes des Allmächtigen, in: Stillstand und Fortentwicklung im schweizerischen Recht, Bern 1965, S. 439 (zit. nach Saladin, Im Namen Gottes, S. 16).
[98] Saladin, Zur Präambel, S. 271.
[99] Saladin, Im Namen Gottes, S. 16 f.
[100] Saladin, Zur Präambel, S. 273.
[101] Schmid, S. 527.
[102] Schmid, S. 528.
[103] N. Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion, in: Kleger/Müller (Hrsg.), Religion des Bürgers: Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986, S. 181 (zit. nach Schmid, S. 997).
[104] H. Lübbe, Staat und Zivilreligion, in: Kleger/Müller (Hrsg.), Religion des Bürgers: Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986, S. 196 (zit. nach Schmid, S. 997 f.).
[105] Schmid, S. 527 ff.
[106] Häberle, S. 217, 222 f.
[107] Schmid, S. 532.
[108] Schmid, S. 533.
[109] Schmid, S. 532 f.
[110] Schmid, S. 533 f., 536.
[111] Vgl. das Zitat des rumänischen Schriftstellers Emile Cioran: „Es leuchtet ein, dass Gott eine Lösung war und dass man nie wieder eine ebenso befriedigende finden wird.“ in: Vom Nachteil geboren zu sein, Frankfurt a. M. 1979, S. 92 (zit. nach Schmid, S. 536).
[112] E.W. Böckenförde, Recht, Staat und Freiheit, 2. A., Frankfurt a.M. 1992, S. 112 (zit. nach Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 998).
[113] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 999.
[114] Marcus, S. 276 f.
[115] Müller, S. 35.
[116] Schmid, S. 526; vgl. auch Aubert, Kommentar aBV, Präambel, S. 2.
[117] Müller, S. 33.
[118] Diese Formulierung findet sich nun in der narratio der Präambel der BV 1999.
[119] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 995 f.
[120] Rich, S. 29 ff.
[121] Rich, S. 32.
[122] Rich, S. 33.
[123] Ähnlicher Ansicht: Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 996.
[124] BBl 1997 I 122 f.
[125] Rhinow, S. 114.
[126] Vgl. Kapitel 4.3.4.
[127] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 10; Hafner, 3. Abs. im Abschnitt „Ist die Schweiz infolgedessen theologisch oder gar ekklesiologisch zu deuten?“.
[128] Schmid, S. 527.
[129] Saladin, Zur Präambel, S. 273.
[130] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 999 und Fn. 73.
[131] Vgl. Kapitel 4.3.4.
[132] Gut, S. 23.
[133] Bertschi, Gächter, S. 6 ff., Fn. 10; gleicher Meinung zur Präambel insgesamt: Häberle, S. 242.
[134] BGE 119 Ia 185 (Schwimmunterricht) zit. nach Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 999 und Fn. 74.
[135] BBl 1997 I 123.
[136] BBl 1997 I 123 f.
[137] BBl 1997 I 124.
[138] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 5; Mahon, commentaire CF, S. 6; BBl 1997 I 123.
[139] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 11; Mahon, commentaire CF, S. 8; Bertschi, Gächter, S. 10.
[140] Begriff der Präambel der BV 1848 und 1874, vgl. dazu Kapitel 3.2.
[141] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 11.
[142] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 11.
[143] Bertschi, Gächter, S. 10 f.
[144] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 11.
[145] Mahon, commentaire CF, S. 9; BBl 1997 I 123 f.; Def. Nachhaltigkeitsprinzip z. Bsp. in Rhinow, S. 41 und Fn. 93 (S. 62): „eine Entwicklung [ist] dann nachhaltig, wenn sie die heutigen Bedürfnisse zu decken vermag, ohne den künftigen Generationen die Möglichkeit zur Deckung der eigenen Bedürfnisse zu verbauen.“.
[146] Muschg, S. 33.
[147] Muschg, S. 33.
[148] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 1000.
[149] Häberle, S. 240.
[150] Häberle, S. 241.
[151] Häberle, S. 241.
[152] Häberle, S. 241 f.
[153] Mahon, commentaire CF, S. 4 f.; Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 6; Aubert, Kommentar aBV, S. 4 sprach der BV 1874 auch keine Auslegungshilfefunktion zu.
[154] BBl 1997 I 122.
[155] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 7 f.; Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 985 f. und 989 ff.
[156] Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 991 f.
[157] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 8; Ehrenzeller, Im Bestreben, S. 993.
[158] Ehrenzeller, Kommentar BV, S. 8.
[159] Bertschi, Gächter, S. 11 ff.
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- Christian Peyer (Author), 2006, Die Präambel der Bundesverfassung als Grundlage staatlichen Rechts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110330
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