Auf zunehmendes Interesse stoßen in den letzten Jahren Arbeiten in deren Mittelpunkt die Funktion der biomedizinischen Wissenschaft und der Ärzte innerhalb des NS-Regimes stehen. Robert Jay Lifton, Professor für Psychiatrie und Psychologie am John Jay College der Stadtuniversität von New York, ein Wissenschaftler, der durch eine Reihe von Arbeiten über die Psychologie menschlicher Extremsituationen bekannt geworden ist, hat diesen Untersuchungen eine umfangreiche psychologische Studie hinzugefügt.
Walter Grode
Die Nazi-Ärzte
Rezensionsessay zu: Robert Jay Lifton: The Nazi Doctors. Medical Killing and Psychology of Genocide. New York: Basic Books, 1986.
(Erschienen in: Politische Vierteljahresschrift 29 , Heft 3/1988)
Auf zunehmendes Interesse stoßen in den letzten Jahren Arbeiten in deren Mittelpunkt die Funktion der biomedizinischen Wissenschaft und der Ärzte innerhalb des NS-Regimes stehen. Robert Jay Lifton, Professor für Psychiatrie und Psychologie am John Jay College der Stadtuniversität von New York, ein Wissenschaftler, der durch eine Reihe von Arbeiten über die Psychologie menschlicher Extremsituationen bekannt geworden ist, hat diesen Untersuchungen eine umfangreiche psychologische Studie hinzugefügt.
Liftons Arbeit basiert nicht allein auf bereits bekannten Dokumenten, sondern darüber hinaus auf Interviews mit Überlebenden Zeitzeugen: 40 ehemaligen NS-Ärzten und Wissenschaftlern und mehr als 80 ehemaligen Häftlingsärzten. Der Autor hat diese Gespräche aufgezeichnet, Aussagen verglichen und mit dem Ziel gegenübergestellt, die Täter-Opfer Beziehungen tiefenpsychologisch zu analysieren. Er zeigt, daß die Nazi-Mediziner von Anfang an jeden Schritt der Vernichtungsmaßnahmen in führender Position kontrollierten.
Die Studie belegt überzeugend, wie die Anstaltsmorde an Behinderten und Kranken im Rahmen der sogenannten Euthanasie und die eugenische Sterilisationspraxis in personeller, politischer und organisatorischer Hinsicht die Vorstufe für den Massenmord an Juden, Zigeunern und weiteren Minderheiten bildeten. Maßgebliches Verbindungsglied war dabei die "Aktion 14f13", durch die 1941 die medizinischen Tötungs- techniken in die Konzentrationslager übertragen wurden .
Ein zentrales Merkmal der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz sieht Lifton in eben dieser besonderen Rolle der Medizin und der allgegenwärtigen Mitwirkung der Nazi-Ärzte, der "Medizinisierung der Vernichtung". Sie war gekennzeichnet durch eine barbarische Rationalität, die im dem ärztlich-ethischen Paradox vom "Heilen durch Töten" ihren Ausdruck fand. Als äußerste Zuspitzung dieses Widerspruchs hätten schließlich, so behauptet Lifton, die Häftlingsärzte durch ihre Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen im Lager die Effektivität der Gaskammern und Krematorien noch gesteigert.
An der eigentlichen medizinischen Versorgung der Häftlinge beteiligten sich die SS-und KZ-rzte kaum. Ihre Aktivität konzentrierte sich auf die Durchführung von Selektionen - in den Krankenblocks, den Arbeitslagern und an der berüchtigten Rampe. Ein anderer Teil betrieb "reine" Wissenschaft, die keinerlei ethische Grenzen kannte.
Den Kern des Buches bilden drei Täterbiographien: Josef Mengele, die Personifizierung des Massenvernichtungssystems schlechthin; Eduard Wirths, als oberster Lagerarzt von Auschwitz im Zentrum des "Konflikts" von Heilen und Vernichten und Ernst B.(anonymisiert, da noch lebend), der einzige unter den Nazi-Doktoren, der es ablehnte an Selektionen mitzuwirken. Dies sind zweifellos herausragende psychologische Studien. Bedenken löst indes das Übergewicht der methodischen "Einfühlung" aus, das Lifton nicht nur in diesen Kapiteln, den SS-Ärzten gegenüber Häftlingsärzten, Häftlingen und Asylierten zukommen läßt.
In den drei Schlußkapiteln unternimmt der Autor den Versuch den Völkermord im Rahmen psychologischer Theorie u.a. durch die Einführung von Mustern wie das der Persönlichkeitsspaltung zu erklären. Dies erscheint vor allem deshalb problematisch, weil dabei das Gewicht der politischen Strukturen des Nationalsozialismus fast vollständig außer acht gelassen wird.
Diese kritische Annotationen sollen jedoch nicht davon ablenken, daß Liftons Untersuchung, insbesondere durch die Art ihrer Explorationen, Maßstäbe für die Erforschung von Massentötungen auf tiefenpsychologischer Grundlage setzt.
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 1988, Die Nazi-Ärzte 'The Nazi Doctors. Medical Killing and Psychology of Genocide.' , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110243
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