Inhaltsverzeichnis
1. Übersetzung der zugrunde liegenden Quelle
2. Historische Vorbetrachtung: Das Reichskloster Lorsch zur Zeit Karls des Großen
3. Quellenaufbau und Quellengehalt
3.1. Das Protokoll
3.2. Der Kontext
3.3. Das Eschatokoll
4. Eine kurze Übersicht über den Lorscher Codex
5. Das Kloster Lorsch im Spiegel der Kirchenpolitik unter Karl dem Großen
6. Schlussgedanke
Quellen- und Literaturangabe
1. Übersetzung der zugrunde liegenden Quelle:
„Karl, von Gottes Gnaden König der Franken und Langobarden und Schutzherr der Römer. Es sei allen unseren Getreuen, den gegenwärtigen und den zukünftigen kund, dass Abt Helmerich vor unser Angesicht trat und uns mitteilte, es seien Urkunden seines Klosters zum Heiligen Nazarius an verschiedenen Orten verloren gegangen und zerstört worden. Das (durch diese Urkunden ausgewiesene) Besitztum sei auf verschiedene Orte verteilt gewesen. Bis heute seien (die Mönche) mit demselben in unserem Reiche durch die Gnade Gottes ausgestattet gewesen und seien es auch noch zum jetzigen Zeitpunkt. Auf seine Bitte hin haben wir für ihn und für seine Vorgänger eine derartige Verfügung erlassen, da ja jenes Haus Gottes tatsächlich bis jetzt die rechtmäßige Besitzerin war. Sie mögen also durch unseren Willen und ohne jeden Vorbehalt alles und jedes, was sie rechtens und vernunftgemäß vorher als Ergebnis von Schenkungen und Tauschgeschäften besaßen, auch weiterhin in Ruhe und Ordnung behalten und in Übereinstimmung mit dem Gesetze gegebenenfalls auch verteidigen, so wie dies alles bis heute durch offene Urkunde der Einfluss der Könige verteidigt hat und von neuem bestätigt. Und um diesen Willen und dessen besseren Beachtung für alle Zeiten zu bekräftigen, haben wir sie mit unserem Ring siegeln lassen. Monogramm Karls, des glorreichsten Königs. Ich, Gilbert, habe anstelle von Rado gegengezeichnet.“
MGH D K151
2. Historische Vorbetrachtung: Das Reichskloster Lorsch zur Zeit Karls des Großen
Mit der ersten urkundlichen Erwähnung des Klosters Lorsch im Jahre 764 beginnt die Geschichte des ehemaligen Benediktinerklosters, das an der Weschnitz im heutigen Bundesland Hessen gelegen[1], bereits innerhalb weniger Jahre zu einem Zentrum der fränkisch- christlichen vita ecclesiastica aufstieg.
Im Jahr 763 hatten der Gaugraf Cancor und dessen Mutter Williswind ihr Landgut dem Kloster gestiftet.[2] Das Privatkloster wurde zunächst in einem Gutshof der Familie eingerichtet und bald darauf an den Erzbischof Chrodegang von Metz, einen äußerst einflussreichen Kirchenfürsten, übertragen.[3] Dieser erhielt kurze Zeit später von Papst Paul I. die Reliquien des Heiligen Nazarius übersandt, welche an das Lorscher Kloster gegeben wurden. Die Wirkung dieses zelebrierten Aktes war für das Kloster von großer Bedeutung, brachte es diesem doch die ersten größeren Schenkungen ein. So stieg der Stellenwert des Klosters rasch, so dass beim Tode des zweiten Abtes Gundeland 778 bereits über 1400 Güterübertragungen stattgefunden hatten.[4]
Nach dem Tode des Rheingrafen Cancor kam es 772 zum Streit um das Erbrecht, den schließlich König Karl selbst beendete. Das Kloster unterstand nun kraft seiner Autorität nicht mehr der geistlichen Gewalt des Mainzer Erzstiftes; stattdessen unterstellte er es seinem persönlichen Schutz. Die Verleihung dieses Immunitätsprivilegs hatte zur Folge, dass sämtliche Ansprüche auf den Besitz des Klosters durch umliegende Personenkreise null und nichtig wurden und der Abt den Status eines Fürstabtes, das Kloster den eines Reichsklosters mit freier Abtwahl erhielt. Das Lorscher Benediktinerkloster hatte innerhalb weniger Jahre einen Höhepunkt erreicht. Es war in unmittelbare Beziehung zum Königtum getreten.[5]
Von nun an konnte die durch eine Flut von Schenkungen immer bedeutender werdende Reichsabtei finanziell aus dem Vollen schöpfen. Nach der Fertigstellung der Nazariusbasilika wohnte Karl, mittlerweile auch König der Langobarden, im September 774 deren feierlichen Einweihung bei. Das Lorscher Kloster als sein Kloster bezeichnend, übertrug er ihm Ländereien, Wohnhäuser, Bauern, Hörige, und vieles mehr. Die Kirchenweihe war zu einem Staatsakt emporgehoben worden.[6]
Dieser Markstein in der Geschichte des Lorscher Klosters verdeutlicht seinen damaligen Rang ebenso wie die Tatsache, dass zum Zeitpunkt des Todes Karls des Großen im Jahr 814 das Kloster mit mehr als 3000 Schenkungen gesegnet worden war.[7]
Als 778 nach dem Tod Gundelands dessen Nachfolger Helmerich zum Abt berufen wurde, stellte sich, so lässt es die deutsche Übersetzung des Codex Laureshamensis (von dem an späterer Stelle noch ausführlicher die Rede sein wird) verlautbaren, heraus, dass einige Schenkungsurkunden aus bis heute ungeklärten Gründen verschwunden waren. Daraufhin richtete Helmerich an Karl die Bitte, dem Kloster den durch die verloren gegangenen Urkunden ausgewiesenen Besitz zu bestätigen.[8]
Zu diesem Zwecke wurde die Urkunde erstellt, die Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Doch welchen Stellenwert seitens des Klosters Lorsch wie seitens des fränkischen Herrschers kann diesem Herrscherdiplom Karls des Großen beigemessen werden? Diese Frage zu beantworten soll das Ziel dieser Arbeit sein.
Im Folgenden wird somit zur Beantwortung eine Analyse der formalen Gestalt der Urkunde herangezogen werden, genau wie eine Betrachtung des Lorscher Kodex, des Werkes, in dem die Urkunde im 12. Jahrhundert Eingang gefunden hat. Anschließend wird der Versuch unternommen werden, die kirchenpolitischen Hintergründe zu beleuchten, so dass am Ende der Arbeit eine Antwort auf die gestellte Frage erfolgen kann.
3. Quellenaufbau und Quellengehalt
Bei der in dieser Arbeit behandelten Quelle handelt es sich also um eine Abschrift[9] eines Herrscherdiploms Karls des Großen, welcher kraft dieser Herrscherurkunde dem Reichskloster Lorsch dessen Besitz bestätigt. Die Kopie der Urkunde ist einerseits im Lorscher Kodex aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts neunte Urkunde im ersten Teil des Buches abgelegt.[10] Darüber hinaus ist sie auch in den Monumenta Germaniae Historica (MGH) editiert, genauer, unter der Abteilung III. Diplomata (DD), welche die mittelalterlichen Urkunden umfasst,[11] sowie in den Regesta Imperii[12].
Nach H.-W. Goetz ist eine Urkunde per definitionem „ein in bestimmten Formen abgefasstes, beglaubigtes und daher verbindliches Schriftstück, das ein Rechtsgeschäft dokumentiert.“[13] Somit folgt sowohl aus der Einordnung der Quelle in den MGH, als auch aus der inhaltlichen Analyse, wie noch gezeigt werden wird, dass hier ein rechtlicher Akt vorgenommen wird, der es sich zum Ziel macht, über die Gegenwart hinaus auch zukünftig rechtlichen Geltungsanspruch zu besitzen. Daher kann die vorliegende Urkunde in Bezug auf das Unterscheidungskriterium der Dauerhaftigkeit eindeutig als Diplom eingestuft werden, welches sich im Gegensatz zum Mandat, also einer einfachen Geschäftsurkunde, durch dauerhafter bis ewiger Rechtsgültigkeit auszeichnet. Das Diplom äußert eine feierliche Willensbekundung eines Herrschers oder einer anderen Person hohen offiziellen Ranges[14], in diesem Falle König Karls.
Somit zeigt auch dieses königliche Diplom bestimmte formal- inhaltliche Erscheinungen und Bezugspunkte, die gerade für die Durchsetzung der Willensbekundung, aber auch für diverse Klassifizierungen eminent wichtig sind. Diese formalen Bestandteile der Urkunde bestehen im Allgemeinen aus Protokoll, Kontext und Eschatokoll, die sich ihrerseits wiederum aus bestimmten Einzelteilen zusammensetzen. Eine Analyse, welche die genannten Merkmale untersucht, soll im Folgenden die vorliegende Quelle auf ihren Gehalt prüfen, so dass ihre grundsätzlichen Aussagen hervortreten.[15]
3.1. Das Protokoll
Nach dem der Urkunde voranstehenden Register zu Beginn des Quellentextes fehlt der Urkunde zunächst das Chrismon (C), das Christuszeichen, welches zusammen mit einer bestimmten Formel die Invocatio vornimmt, also einen übergeordneten Aussteller benennt und so von vornherein einen rechtlichen Anspruch verdeutlicht. Die folgende Intitulatio nennt den Namen und Titel des Ausstellers („ Karolus […] rex Francorum et Longobadorum ac patricius Romanorum.“) und enthält zudem die dazugehörige Devotionsformel „ gratia dei “ (Z. 18), das Gottesgnadentum und, dadurch angezeigt, die unantastbare Stellung des Herrschers.
Eine Benennung des Empfängers in Form einer Inscriptio ist des weiteren nicht vorhanden.
3.2. Der Kontext
Es folgt nach der förmlichen Intitulatio die Promulgatio (auch Publicatio genannt), die in Form einer allgemeinen Verkündungsformel sowohl die zum Zeitpunkt der Ausstellung gegenwärtigen, als auch die zukünftigen Untertanen ansprechen soll[16] („ Notum sit omnibus fidelibus nostris tam presentibus quam et futuris “). Es folgt die Narratio, eine Erzählung der Umstände und Gründe, die den Aussteller Karl dazu bewogen haben, jene Urkunde anfertigen zu lassen. Sie beginnt mit den Worten „ qualiter veniens Helmericus abba “ (Z. 20) und endet in Zeile 23 mit den Worten „ ad presens vestiti fuissent.“. Die Narratio erzählt die Vorgeschichte, in diesem Fall vom Verlust bestimmter Besitzurkunden des Klosters Lorsch, dessen Intervenient (Fürsprecher) der Abt Helmerich ist. Helmerich ist zugleich, weil Vorsteher seines Klosters, als potentieller Petent (Empfänger) anzusehen.
Nach diesen inhaltlich wie formal einleitenden Teilen erfolgt nun die eigentliche Kernaussage der Urkunde. In Form der Dispositio „ Nos pro eius petitione tale preceptum emisimus […] usque nunc auctoritas regum defensavit et denuo confirmavit.“ (Z. 23-28) wird somit urkundlich durch den kaiserlichen Willen („ nostra auctoritate “, Z. 25) sämtlicher früherer Besitz des Reichsklosters bestätigt und es darüber hinaus den Besitzern erlaubt, mehr noch auferlegt, ihre Güter im Falle einer unrechtmäßigen Enteignung auf urkundlicher Grundlage im Sinne des Gesetzes zu verteidigen.
Die Dispositio ist deshalb von zentraler inhaltlicher Bedeutung, weil in diesem Part der zugrunde liegende Rechtsinhalt, also die Kernaussage der Urkunde erfolgt.
Der Kontext schließt mit der Corroboratio. Hier finden wir bei vorliegender Quelle die Aussage vor, der Ring Karls diene als Siegel zur endgültigen Bekräftigung und rechtlichen Absicherung, wodurch die Urkunde rechtsfähig werden soll („ Et ut hec auctoritas […] de anulo nostro subter sigillavimus.“).
3.3. Das Eschatokoll
Das Eschatokoll, auch Schlussprotokoll genannt, setzt sich in der vorliegenden Urkunde aus Signumzeile und Recognitionszeile zusammen. Erstere, mit den Worten „ Signum Karoli (M.) gloriosissimi regis.“ ausformuliert, ist gleichbedeutend mit einer Unterschrift, nur ist sie nicht eigenhändig geschrieben. Dafür ist das Monogramm des Kaisers („ (M.) “) enthalten, auch wenn dieses ohne Vollziehungsstrich einhergeht. Die Signumzeile stellt mit oder wie in diesem Fall ohne Siegelzeichen im mittelalterlichen Urkundenwesen eine Art Unterschrift dar, ohne eigenhändig geschrieben zu sein.[17]
Die zuletzt aus Gründen des Authentizitätsbeweises folgende Recognitionszeile, eine notarielle Gegenzeichnung, sagt in diesem Falle aus, ein gewisser Gilbert habe anstelle von Rado gegengezeichnet. Eine Actum- und Datum- Formel, welche Zeit und Ort der urkundlichen Handlung benennt, fehlt zum Ende genau wie ein abschließender Segenswunsch, die Apprecatio.
Formal in einem lückenhaften Gesamtbild auftretend fehlt dem Diplom außer den bereits genannten Bestandteilen auch eine Sanctio, die ein Zuwiderhandeln unter Strafe stellt. Dies jedoch ist für Herrscherurkunden der Karolingerzeit ein eher übliches Charakteristikum und kann somit nicht zur Beantwortung der Frage nach dem Stellenwert des Diploms herangezogen werden. Doch nicht nur aus formaler Sicht entsteht im Gesamtbild der Urkunde der Eindruck, es ereignete sich bewusst die Anfertigung eines reichspolitisch eher mäßig wichtigen Schriftstücks, und nicht die einer herausragend bedeutender Herrscher-urkunde, die wichtigen politischen oder gesellschaftlichen Aktionen zugrunde liegt.
Auch die inhaltliche Intention der reinen Bestätigung bereits vorhandener und scheinbar auch bis dato unangefochtener Besitztümer ohne eine weitergehende Benennung und Übertragung wichtiger Aufgaben stützt diesen Eindruck.
Letztendlich macht auch die Kürze der Ausformulierung des Urkundeninhalts, im Kern bestehend aus einer kurzen Erklärung des Ausstellungsgrundes und der nachfolgenden Bestätigung jener verloren gegangenen Urkunden, den gewonnenen Eindruck alles andere als zunichte.
Diese äußeren Merkmale könnten jedoch gleichwohl die Folge einer ganz anderen zugrunde liegenden Tatsache sein. Denn die Sammlung der Lorscher Handschrift, auch Codex Laureshamensis genannt, in welcher sämtliche Urkunden, das Kloster Lorsch betreffend, in Abschriften verzeichnet wurden, tendiert im Allgemeinen zu einer leicht lückenhaften Wiedergabe, was im Folgenden näher erklärt werden soll.
4. Eine kurze Übersicht über den Lorscher Codex
Der Codex Laureshamensis ist auf mehrere Partien verteilt in den Jahren zwischen 1167 und 1195 verfasst worden.[18] Er stellt mit seinem gewaltigen Umfang von insgesamt 3836 Urkunden ein herausragendes Quellenwerk dar, das sowohl in kirchen- und reichshistorischer als auch in mittelalterlich topographischer Hinsicht eine unverzichtbare Wissensgrundlage darstellt.
Im ersten von zwei Teilen berichtet der Codex zunächst in Abschriften von 166 Urkunden, die von hoch stehenden Persönlichkeiten wie Kaisern, Königen und Päpsten ausgestellt worden sind, die Geschichte des Klosters Lorsch, um danach im zweiten Teil sämtliche Schenkungen an das Kloster zu benennen. Der erste Teil, auch Chronicon Laureshamense genannt, steht dem zweiten, dem Codex traditionum, an inhaltlichem und daher informatorischem Umfang bei weitem nach. Denn letzterer umfasst nicht nur 3670 Urkunden, die nach Gauen, und innerhalb der Gaue nach Ortschaften unterteilt sind. Er stellt außerdem die erste urkundliche Erwähnung der meisten der mehr als eintausend angeführten Orte des deutschen Sprachgebietes zwischen den Alpen und der
Nordsee dar, worin sein immenser historisch- topographischer Wert liegt.[19] Welchen Dienst die Mönche mit der Erstellung des Lorscher Codex der Nachwelt erweisen würden, dürfte bei der Ausarbeitung wohl kaum eine dominierende Rolle gespielt haben. Vielmehr diente diese umfangreiche Arbeit dem Ziel, den Besitz des Klosters mit einer übersichtlichen urkundlichen Beweissammlung zu untermauern und ihn so vor dem Zugriff konkurrierender Personenkreise zu schützen. Ein rascher, sicherer Zugriff auf jegliche Urkunde wurde somit mit dieser Sammlung ermöglicht. Die Urkunden sollten dabei inhaltlich wahrheitsgetreu wiedergegeben werden, was die Autoren dazu veranlasste, eine Wiedergabe in Urkundenform einem regestenartigen Auszug den Vorzug zu geben. Dies führte allerdings zu der Tatsache, dass als Preis dafür bewusst Einschränkungen innerhalb der urkundlichen Wiedergabe eingegangen wurden. So wird beispielsweise bei Tauschurkunden lediglich auf den zum Lorscher Kloster hinzukommenden Besitz verwiesen, nicht aber auf den dafür weggegebenen.[20] Hinzu kommt, dass die Schreiber die Vorlagen bei der Übertragung stilistisch verändern und inhaltlich auslassen wollten, was den damaligen Lesern unverständlich erschien. Hier zeigt sich der rein pragmatische Zweck der Handschrift, nach dem sich die Wiedergabe der Urkunden richtet. Es wurde also in der Abschrift oftmals nicht erwähnt, was inhaltlich und rechtlich nicht von entscheidendem Wert war. Die Kürzungen in den Abschriften nehmen mit der zeitlichen Abfolge ihrer Ausstellung zu, da von den insgesamt drei Schreibern, die den Kodex verfassten, nur der erste Urkundenteile wie Angaben von Zeugen, des Ortes, der Zeit, des Gegenstandes und des Gebers annähernd getreu wiedergegeben hat. Der zweite Schreiber, und im gesteigerten Maße der dritte, lassen dabei große Lücken zurück, was zu gravierenden interpretatorischen Fehlerquellen führte.[21]
Daraus erklärt sich sodann mitunter auch die in Form und Inhalt sehr kurz gehaltene Ausarbeitung der urkundlichen Quelle. Die aus der formalen und inhaltlichen Analyse gefolgerte mäßige Bedeutung wird von der Betrachtung der Entstehung des Lorscher Kodex eindeutig in Frage gestellt.
Es scheint also durchaus Vorsicht geboten, eine definitive Aussage über die Frage des Stellenwertes der Urkunde zu treffen. Eine andere, historisch- kirchenpolitische Annäherung an diese Frage kann durch die Fokussierung auf die Rolle des Klosters Lorsch zu Zeiten Karls des Großen hilfreich sein, da sich das Kloster Lorsch gerade in karolingischer Zeit wie bereits erwähnt innerhalb eines vergleichsweise sehr kurzen Zeitabschnitts einen hohen Stellenwert errang, somit also zu einem wichtigen Sendungsinstrument der Kirchenpolitik Karls und dessen karolingischen Nachfolgern avancierte, die darauf bedacht war, sich die Reichskirche durch diverse Mittel wie Schenkungen, den Ausbau der Bistumsorganisation und dem Vorantreiben innerer Reformen des klösterlichen wie kirchlichen Lebens dienstbar zu machen.[22] Es soll denn nun auch die kirchenpolitische Rolle des Lorscher Klosters zu Zeiten der Herrschaft Karls des Großen betrachtet werden.
5. Das Kloster Lorsch im Spiegel der Kirchenpolitik unter Karl dem Großen
Karl der Große erhielt bereits zu Lebzeiten den Beinamen „der Große“ in erster Linie aufgrund seiner erfolgreichen Expansionspolitik, die seine Machtfülle in beinahe unbeschränkte Ausmaße anschwellen ließ. Doch eng damit verbunden und damit als ein Rückgrat für seine territorialen Expansionen nahm er die Missions- und Kirchenpolitik zur Sicherung seiner Herrschaft ins Zentrum seiner Bestrebungen. Helfen sollte bei der Verwaltung der Territorien und bei der Christianisierung der im Reiche noch weit verbreiteten heidnischen Glaubensrichtungen innerhalb der verschiedenen Stämme die Reichskirche, welche sich ihrerseits ebenfalls Vorteile durch eine enge Zusammenarbeit verschaffen konnte. Neben zahlreichen Bistumsgründungen, vor allem in eroberten Gebieten wie Sachsen, und der Einsetzung der Bischöfe und Abteien zur Unterstützung seiner Grafen und anderer Amtsträger, versuchte Karl, kircheninterne Reformen durchzusetzen und durch eine straffe Abgabenregelung, dem Kirchenzehnten, die Einkünfte aus den verschiedenen Reichsterritorien zu sichern. Reform und Vereinheitlichung waren die Mittel Karls, um eine überschaubare, effektive Verwaltungsstruktur zu schaffen. Nicht zuletzt die Vereinheitlichung der Schrift in Form der karolingischen Minuskel als Voraussetzung für die Verbreitung der christlichen Lehre war dabei von großem Wert. Doch hierfür benötigte man die Hilfe des Klerus.[23] Das Reichskloster Lorsch bildete bei den genannten Bestrebungen zusammen mit den übrigen Abteien und Bischofssitzen einen wichtigen Faktor der geistlichen Einheit und des sozialen Zusammenhalts, auch über die Herrschaft Karls hinaus.[24] Auf politischer Ebene jedoch spielte das Kloster im Einzelnen keine nennenswerte Rolle, auch wenn es mehr als einmal Ort politischer Aktionen war. Denn im Gegensatz zu anderen ähnlich großen Reichsklöstern in der Region wie Fulda oder Hersfeld betrieb man von dort aus weder religiöse Missionierungsarbeit, noch wurden wichtige verwaltungspolitische Ziele umgesetzt oder auf die kirchliche Organisation Einfluss ausgeübt.[25] Der Aufgabenbereich der Lorscher Mönche bestand dagegen hauptsächlich darin, das geistig- kulturelle Leben voranzutreiben, sowie das umliegende Land durch Rodung, Ansiedlung und Bestellung nutzbar zu machen, woraus sich auch letztendlich die ausgesprochen hohe Zahl der Schenkungen während der Regentschaft Karls des Großen erklären lässt. Andere, politisch motivierte Gründe dafür könnten gewesen sein, das einstige römische Siedlungsgebiet unter dem Auge der Kirche in den fränkischen Machtbereich einzubeziehen, einen rechtsrheinischen Vorposten der karolingischen Hausmacht mit expansiven Zielen Richtung Osten zu schaffen oder der Ausdehnung des Klosters Fulda entgegenzustreben.[26]
Ein anderer Dienst, die Heerfolgepflicht, nach der die Äbte der Reichskirchen Kontingente für militärische Operationen stellten oder in persona teilnehmen mussten, blieb dem Lorscher Kloster nicht erspart. Darüber hinaus verlangte der König Aufnahme, Beherbergung und Verpflegung für sich und seine Getreuen, wenn er sich auf seinen kontinuierlichen Reisen mit seinem Hof dorthin begab, wie im Jahre 774 zum ersten Mal der Fall.[27]
Doch auch nach Karl kamen Herrscher immer wieder nach Lorsch, das so nicht selten zum Ort wichtiger politischer Entscheidungen anderer gemacht wurde.[28] Und letztendlich spielte Lorsch auch in Bezug auf besondere Aufgaben wie die Verwahrung politischer Gegner eine Rolle, insofern, als das im Jahre 788 der gerade zuvor abgesetzte Bayernherzog Tassilo in das Lorscher Kloster überführt wurde.[29]
In der Gesamtbetrachtung der historischen Gegebenheiten während dieser Periode kann von einem hohen Rang des Reichsklosters Lorsch ausgegangen werden, auch wenn es in die reichspolitischen Ereignisse jener Jahre nicht aktiv involviert war. Die zahlreichen Schenkungen unter Karl dem Großen im Zuge der nicht völlig zu klärenden Motive zeigen in jedem Falle eine enge Verbundenheit des karolingischen Herrscherhauses, auch und gerade auf religiöser Ebene, da sich unter insgesamt sieben königlichen Toten, die in der Lorscher Gruftkirche beigesetzt sind, auch der Enkel Karls, Ludwig der Deutsche, befindet.[30]
Die Besitzungen dieses Klosters zu wahren und hierfür diese im Moment des Verlustes der urkundlich- rechtlichen Grundlage zu bestätigen, erscheint mehr als angebracht, als wichtige urkundliche Maßnahme zur Sicherung der eigenen Machtverhältnisse im Ostteil des damaligen Reiches für den König als unerlässlich.
6. Schlussgedanke
Der historische Hintergrund verleiht der in dieser Arbeit behandelten Herrscherurkunde letztendlich einen höheren Rang, als dies auf den ersten Blick vermuten lässt. Sind auch wichtige formale Teile der Urkunde, wie bereits festgestellt, nicht vorhanden, so lässt sich dies nach Analyse sowohl der historischen Gegebenheiten, als auch derer der Abschriftensammlung des Lorscher Codex recht eindeutig sagen. Die inhaltliche wie formale Kürze des Schriftstücks ist nicht universell geltender Ausdruck einer minderen Wichtigkeit. Vielmehr ist hier die Tatsache in den Vordergrund zu rücken, dass die nachträglichen Kürzungen während der Anfertigung der Abschriften für den Lorscher Codex wohl auch die Urkunde des „ glorissimi regis“ nicht verschont haben dürfte, auch wenn dies aufgrund mangelnder historischer Beweislage letztendlich nur eine Schlussfolgerung bleiben kann. Doch eine weitere Tatsache stützt entscheidend diese Vermutung: die formale Analyse brachte unter anderem das Fehlen einer Actum und Datum- Zeile zur Sprache. Eine zeitliche Einordnung ist somit weder dadurch noch durch eine andere Angabe innerhalb der Urkundensammlung möglich. Eine Datierung kann folglich nicht über eine grobe zeitliche Einordnung zwischen den Jahren 779 und 784 hinausgehen[31]. Hält man sich alsdann die Tatsache vor Augen, dass im zweiten Teil des Lorscher Codex wie erwähnt die Urkunden nach topographischen und nicht nach chronologischen Gesichtspunkten geordnet sind, des weiteren von den damaligen Schreibern unwichtige Passagen bei der Abschrift aus praktischen Gründen tendenziell ausgelassen wurden, so zeichnet sich doch letztendlich ein recht klares und deutliches Bild ab.
Die behandelte Urkunde Karls des Großen, die Vermutung der Auslassung inhaltlicher und formaler Teile bei der Erstellung einer Abschrift vorausgesetzt, besitzt aufgrund des Ranges und der Aufgaben des Reichsklosters Lorsch eine sehr hohe, weil rechtlich grundlegende Bedeutung für das Reichskloster, hat aber auch für den Herrscher Karl den Großen unter kirchenpolitischem Aspekt gesehen einen durchaus beachtlichen Stellenwert.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellensammlungen und Regestenwerke
Monumenta Germaniae Historica. Diplomata Karolinorum, Bd. 1, hg. von Engelbert Mühlbacher et alt., Hannover 1906 (ND München 1979).
Regesta Imperii I. 1,1: Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751- 918, hg. von Johann Böhmer/Engelbert Mühlbacher, Innsbruck² 1908.
Codex Laureshamensis, bearb. u. neu hrsg. von Karl Glöckner, Verlag des Historischen Vereins für Hessen, Darmstadt.
Literatur
Behn, F., Kloster Lorsch, E. Schneider Verlag, Mainz 1949.
Brandt, A. v. , Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften (Urban-Taschenbücher 33), Urban Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a.1998.
Fleckenstein, J., Erinnerung an Karl den Großen, in: Heimat- und Kulturverein Lorsch (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch, Sonderband 4, Laurissa Verlag, Lorsch 1980.
Goetz, H.- W., Proseminar Geschichte: Mittelalter, UTB für Wissenschaft, Stuttgart 1993.
Hülsen, F., Die Besitzungen des Klosters Lorsch in der Karolingerzeit. Ein Beitrag zur Topographie Deutschlands im Mittelalter, Matthiesen Verlag, Berlin 1913.
Knefelkamp, U., Das Mittelalter, UTB für Wissenschaft, Paderborn 2002.
Lexikon des Mittelalters, 8 Bde., München/Zürich 1980-1998.
Lorscher Codex. Urkundenbuch der ehemaligen Fürstabtei Lorsch, ins Deutsche übertragen von K. J. Minst, Lorsch 1966.
Maier, H., Ein großes Jenseits, in: Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch, Heimat- und Kulturverein Lorsch (Hrsg.), Sonderband 4, Laurissa Verlag, Lorsch 1980.
Minst, K. J., Die Beisetzungen in der Königsgruft, in: Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch, Heimat- und Kulturverein Lorsch (Hrsg.), Sonderband 4, Laurissa Verlag, Lorsch 1980.
Müller, M. et alt., Schlaglichter der Deutschen Geschichte, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2002.
Selzer, W., Das karolingische Reichskloster Lorsch, Bärenreiter Verlag, Kassel/Basel 1955.
Wehlt, H.-P., 1200 Jahre Reichsabtei Lorsch, in: Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch, Heimat- und Kulturverein Lorsch (Hrsg.), Sonderband 4, Laurissa Verlag, Lorsch 1980.
Im Internet
www.kloster-lorsch.de
www.uni-bamberg.de/ggeo/hilfswissenschaften/hilfswiss/Urkundenformulare.html
[...]
[1] Das ehemalige Kloster Lorsch ist seit 1991 Teil des Weltkulturerbes der UNESCO. Dies und zahlreiche weitere einführende Informationen sind u.a. auf der Internetseite www.kloster-lorsch.de einzusehen.
[2] Vgl. F. Behn, Kloster Lorsch, Mainz 1949, S.5.
[3] Vgl. H.-P. Wehlt, 1200 Jahre Reichsabtei Lorsch, in: Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch, Lorsch 1980, S. 45.
[4] Zu weiteren Motiven der hohen Zahl an Schenkungen siehe 5. Das Kloster Lorsch im Spiegel der Kirchenpolitik unter Karl dem Großen.
[5] Vgl. W. Selzer, Das karolingische Reichskloster Lorsch, Kassel, Basel 1955, S. 7 f.
[6] Vgl. H. Maier, Ein großes Jenseits, in: Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch, Lorsch 1980, S. 13.
[7] Vgl. H.-P. Wehlt, Lorsch 1980, S. 46.
[8] Vgl. Lorscher Codex. Urkundenbuch der ehemaligen Fürstabtei Lorsch, ins Deutsche übertragen von K. J. Minst, Lorsch 1966, S. 63 f.
[9] Das zu Beginn des Quellentextes fehlende Chrismon zeigt, dass hier von einer Abschrift ausgegangen werden kann.
[10] Siehe unter 4. Eine kurze Übersicht über den Lorscher Kodex
[11] Vgl. H.-W. Goetz, Proseminar Geschichte: Mittelalter, Stuttgart 1993, S. 68.
[12] RI I.1,1, Nr. 266.
[13] Zit. nach H.-W. Goetz, 1993, S. 113.
[14] Vgl. A. v. Brandt, Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften (Urban- Taschenbücher 33), Stuttgart 1998, S. 90.
[15] Die folgende Quellenanalyse soll größtenteils nach dem Muster, beschrieben in A. v. Brandt, 1998, S. 90f. sowie H.-W. Goetz, 1993, S. 123 ff., erfolgen.
[16] www.uni-bamberg.de/ggeo/hilfswissenschaften/hilfswiss/ Urkundenformulare.html
[17] Vgl. J. Spiegel, Art. „Signumzeile“ in: LexMa VII, München/Zürich 1980, Sp. 1894.
[18] Vgl. F. Hülsen, Die Besitzungen des Klosters Lorsch in der Karolingerzeit, Berlin 1965, S.19.
[19] Vgl. Lorscher Codex, Lorsch 1966, S. 7.
[20] Vgl. Hülsen, 1965, S. 22 f.
[21] Vgl. ebd., S.26 ff.
[22] Vgl. H. Müller et alt., Schlaglichter der Deutschen Geschichte, Bonn 2002, S. 32.
[23] Vgl. U. Knefelkamp, Das Mittelalter (UTB für Wissenschaft 2015), Paderborn 2002, S. 73 f.
[24] Vgl. H. Maier, Lorsch 1980, S. 22.
[25] Vgl. H.-P. Wehlt, Lorsch 1980, S. 50.
[26] Vgl. W. Selzer, Kassel, Basel 1955, S. 6.
[27] Vgl. J. Fleckenstein, Erinnerung an Karl den Großen, in: Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch, Lorsch 1980, S. 63 f.
[28] Vgl. W. Selzer, Kassel, Basel 1955, S. 8.
[29] Vgl. J. Fleckenstein, Lorsch 1980, S. 68.
[30] Vgl. K. J. Minst, Die Beisetzung en in der Königsgruft, in: Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch, Lorsch 1980, S. 135.
[31] Vgl. RI I. 1,1, Nr.266
- Arbeit zitieren
- Christian Körber (Autor:in), 2004, Analyse eines mittelalterlichen Herrscherdiploms Karls des Großen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110222
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