Inhalt
Einleitung
1. La Rochefoucaulds Anthropologie
2. Menschliche Tugenden?
1. Tugenden bei La Rochefoucauld
2. Tugenden bei Nietzsche
3. Handlungsantrieb
1. der amour-propre bei La Rochefoucauld
2. Nietzsche: Der Wille zur Macht
3. Vergleich der Handlungsantriebe
4. Schein und Sein
1. La Rochefoucauld: Schein & Sein
2. Nietzsche: Der Mensch – nur scheinbar eindeutig
3. Fazit: Schein der Tugend, am Beispiel Demut
5. Verdrängungskünstler
1. Verdrängung bei La Rochefoucauld
2. Verdrängung bei Nietzsche
Fazit
Literaturangaben
Einleitung
„Le refus des louanges est un désir d’être loué deux fois.“[1] So analysierte ein französischer Moralist des 17. Jahrhunderts eine bestimmte Verhaltensweise in seinem gesellschaftlichen Umfeld.
Zwei Jahrhunderte später schrieb Nietzsche seine Beobachtungen menschlichen Verhaltens nieder. In einem abgewandelten biblischen Zitat äußert er sich ebenso kritisch zu derselben Art menschlicher Eitelkeit. „Lukas 18,14 verbessert: Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden. [Lukas 18,14: wer aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden]“[2].
Diese Zitate fassen in prägnanter Weise parallele anthropologische Konstanten zweier Beobachter menschlicher Verhaltensweisen. François IV. Duc de La Rochefoucauld war ein französischer Adliger des 17. Jahrhunderts. Friedrich Nietzsche, ein deutscher Professor und Philosoph, lebte im ausgehenden 19. Jahrhundert. Aufgrund dieser unterschiedlichen biographischen Komponenten ist ein direkter Vergleich der Anthropologien La Rochefoucauld’s und Nietzsches nicht möglich. Aber auch wenn sie weder Zeitgenossen waren, noch einer vergleichbaren sozialen Schicht zuzuordnen sind, sind doch zumindest Einflüsse des französischen Moralisten auf Nietzsche festzustellen, der teils direkt, teils indirekt Stellung zu den „Maximes“ nimmt.
In seinem Werk „Menschliches, Allzumenschliches“ beklagt Nietzsche, dass die Sentenzen La Rochefoucauld’s in Europa nicht genügend Resonanz fänden.
„Warum liest man nicht einmal die großen Meister der psychologischen Sentenz mehr? – denn, ohne jede Übertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der Larochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener der, welcher sie kennt und sie nicht schmäht.“[3]
Er bewundert die Kunst der „Sentenzen-Schleiferei“3. Er vergleicht die Konstruktion der Aphorismen mit dem Schärfen eines Messers, wobei alles Unnötige abgeschliffen wird; so wie hier Periphrasen verbannt werden, um die Schärfe der Aussagen zu erhöhen.
Von La Rochefoucauld vorgelebt, versucht Nietzsche, mit einem Minimum an Vokabular ein Maximum an Inhalt herzustellen. „Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der „Ewigkeit“; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche sagt – was jeder andre in einem Buche nicht sagt...“[4]
In dieser Hinsicht übertrifft er hier sogar sein Vorbild, wenn er die folgende Maxime La Rochefoucauld’s „On n’aime point à louer, et on ne loue jamais personne sans intérêt. La louange est une flatterie habile, cachée, et délicate, qui satisfait différemment celui qui la donne, et celui qui la reVoit. L’un la prend comme une récompense de son mérite; l’autre la donne pour faire remarquer son équité et son discernement.“[5]
in einem Satz zusammenfasst: „Man lobt oder tadelt, je nachdem das eine oder das andere mehr Gelegenheit gibt, unsere Urteilskraft leuchten zu lassen.“[6] Man könnte hier einwenden, dass sich die Inhalte nicht absolut gleichen, aber wie auch bei Nietzsche liegt der Schwerpunkt La Rochefoucaulds darin, dass auch das Loben nicht uneigennützig ist, sondern dazu dient, unser Beurteilungsvermögen zu zeigen.
Beide sind der Auffassung, dass kein Handeln ohne eigenes Interesse möglich ist, was in ihren Werken deutlich zum Ausdruck kommt. Trotz aller Bewunderung hält Nietzsche La Rochefoucaulds Enthüllungen über den Menschen für nicht radikal genug. Seine Ansicht ist, dass La Rochefoucauld den Menschen demütigt und niederschmettert, ohne die religiösen und moralischen Werte zunichte zu machen. Nietzsche ist selbsternannter Nihilist, während ihm zufolge La Rochefoucauld auf dessen Vorstufe, dem Pessimismus stehen geblieben ist. Besonders viele Ähnlichkeiten und Bezüge sind bei Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches“ und „Jenseits von Gut und Böse“ zu finden.
La Rochefoucaulds Anthropologie
La Rochefoucauld formuliert in einem seiner bedeutendsten Werke, den „Maximes“, seine Gesellschaftskritik aphoristisch. Diese sprachliche Form unterstützt ihn bei dem Bemühen, den Leser zur Reflexion zu animieren. Er bringt in seinen Sätzen keine detaillierten Begründungen, sondern vermittelt dem Leser nur indirekt, dass doch die letzte Antriebsinstanz in der Eigenliebe, dem amour-propre liegt. Die Aphorismen regen dazu an, verschiedene Situationen im Hinblick auf diese Antriebskraft zu überdenken. Seine Maximen zeichnen sich durch ein bestimmtes Bauprinzip aus: La Rochefoucauld bleibt sehr vage in seinen Formulierungen, auch wenn seine Auffassung über die Motivation menschlichen Handelns sehr deutlich wird; er verfährt nach dem Schema der abwertenden Identifikation: Die Tugend x ist oft nichts anderes als das Laster y[7], wobei er das französische „ne... que“ verwendet, was in deutschen Ohren etwas verächtlich klingt. Mit diesem Stilmittel verdeutlicht er den Irrtum, in dem der Mensch sich befindet, wenn er glaubt, etwas Gutes um des Guten Willens zu tun. Hierhinter verbirgt sich ein sehr negatives Menschenbild. In dem Glauben an das, was er wahrnimmt und in der festen Überzeugung, sein Handeln bewusst selbst zu bestimmen, lebt der Mensch in einem ihm schmeichelnden Irrtum. La Rochefoucauld selbst fügt sich in dieses Menschenbild mit ein, mit dem Unterschied, dass er sich der eigenen Lasterhaftigkeit bewusst ist.
Die Beobachtung des eigenen Verhaltens soll durch seine Maximen zum tieferen Verständnis führen. Aus diesem Grunde verfasst er seine Gedanken so, dass sie über den Einzelfall hinaus weisen, so exemplarischen Charakter gewinnen und den Leser zum Weiterdenken herausfordern.
Nietzsche zeigt sich begeistert von dieser Form: „La Rochefoucauld und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung gleichen scharf zielenden Schützen, welche immer und immer wieder ins Schwarze treffen, - aber ins Schwarze der menschlichen Natur.“[8] La Rochefoucauld trifft also mit seinen Aphorismen in den Kern des menschlichen Wesens, der beiden zufolge nur dunkel sein kann. Was sich außerhalb dieses schlechten Kerns befindet, ist nicht treffenswert. Nietzsche meint also, dass La Rochefoucauld in seinen Sentenzen das sagt, was gesagt werden muss und unnötiges Beiwerk vermeidet.
Menschliche Tugenden?
Das Hauptthema der La Rochefoucauld‘schen Maximen bilden die Tugenden. Nach seiner Auffassung existieren dieselben niemals ohne egoistischen Hintergrund.
2.1 Tugenden bei La Rochefoucauld
„Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisées. “[9] Diese Leitmaxime La Rochefoucaulds, die sich in den meisten seiner Maximen wieder finden lässt, entlarvt, was man bis dahin für tugendhaftes Handeln gehalten hat. Jede Tat, so uneigennützig sie auch erscheinen mag, hat einen egoistischen Hintergrund. „Les vertus se perdent dans l’intérêt, comme les fleuves se perdent dans la mer.“[10] Hier kommt La Rochefoucaulds negative Anthropologie zum Ausdruck; jede zu Anfang tugendhaft scheinende Tat wird schließlich zu einer eigennützigen Handlung.
In seinen Maximes veranschaulicht er seine Auffassung durch ein Beispiel: „On ne loue d’ordinaire que pour être loué.“[11]
Auch hier entlarvt er das vordergründig tugendhafte Verhalten und deckt das selbstsüchtige Motiv des Lobenden auf.
2.2 Tugenden bei Nietzsche
Auch nach Nietzsche muss ein tugendhaft handelnder Mensch folgende Eigenschaften besitzen: „Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiß, Mäßigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden.“[12]
In „Jenseits von Gut und Böse“ meint Nietzsche dazu: „... – wir werden vermutlich, wenn wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unsren heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unsren heißesten Bedürfnissen am besten vertragen lernten.“[13] Auch Nietzsche glaubt nicht an das wahrhaft Gute im Menschen. Dieses Zitat zeigt deutlich, dass wir nur dann tugendhaft handeln, wenn wir damit unsere eigenen Bedürfnisse erfüllen; somit ist der Mensch zu rein selbstlosen Taten nicht fähig.
Er führt hierzu aus:
„Meine Erfahrungen geben mir ein Anrecht auf Mißtrauen überhaupt hinsichtlich der sogenannten „selbstlosen“ Triebe, der gesamten zu Rat und Tat bereiten „Nächstenliebe“. Sie gilt mir an sich als Schwäche, als Einzelfall der Widerstandsunfähigkeit gegen Reize – das Mitleiden heißt nur bei décadents eine Tugend. Ich werfe den Mitleidigen vor, daß ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl von Distanzen leicht abhanden kommt, daß Mitleiden im Handumdrehn nach Pöbel riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich sieht – daß mitleidige Hände in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf schwere Schuld hineingreifen können. Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen Tugenden.“[14]
Er verurteilt die Menschen, die so geartet sind, dass sie jederzeit bereit zum Sprung für die Hilfe an anderen sind. Zum Einen erniedrigen sie damit denjenigen, dem sie helfen wollen, weil so deutlich wird, dass dieser in Abhängigkeit zu ihnen steht und zum anderen weichen sie dadurch ihrer notwendigen Stärke durch sich selbst aus. Die Verwendung des Begriffs „Tugenden“ im letzten Teil des Zitats von Nietzsche ist für mich ironischer Natur. Im Falle eines Irrtums meinerseits, ist hier ein Widerspruch festzustellen, da mit „vornehmen Tugenden“ keine negative Konnotation einhergeht.
„Man muss sich selber lieben lernen – also lehre ich – mit einer heilen und gesunden Liebe. Dass man es bei sich selber aushalte und nicht umherschweife. Solches Umherschweifen tauft sich „Nächstenliebe“: mit diesem Worte ist bisher am besten gelogen und geheuchelt worden, und sonderlich von solchen, die aller Welt schwer fielen.“[15]
Die Starken streben also auseinander, weil sie sich selbst genug mächtig und wert sind, während die Schwachen zueinander streben, um sich untereinander die Stärke zu bezeugen.
3. Handlungsantriebe
Die Motivationen sind in den Werken beider Autoren von besonderer Bedeutung. Sie stellen die Basis allen Handelns dar und sind zugleich ein wichtiger Differenzpunkt von Nietzsche und La Rochefoucauld.
3.1 der amour-propre bei La Rochefoucauld
Die tatsächliche Quelle der Nächstenliebe und anderer vermeintlicher Tugenden sieht La Rochefoucauld in der unbewussten Eigenliebe, dem amour-propre. Der amour - propre ist ein unberechenbares Wesen, das sich in unzähligen Gestalten, Wesenszügen und Handlungen versteckt. Der menschliche Handlungsantrieb La Rochefoucaulds lässt sich – mit fließenden Übergängen - in drei Abteilungen des menschlichen Inneren teilen: „amour-propre, humeurs, fortune: ce sont là trois faVons différentes d’affirmer que l’homme est déterminé, qu’il est irrévocablement soumis à des ‚conditions‘ qui le contraignent.“[16], wobei der Schwerpunkt beim amour - propre liegt.
Die Selbstliebe begehrt sich permanent selbst. Sie schafft sich selbst eine Leere, ein Verlangen nach sich selbst, das sich nur erfüllen kann, indem das Ich über sich selbst hinaus drängt. Der amour-propre also schafft ständig neue Bedürfnisse ebenso wie das Begehren selbst, weshalb nie eine Sättigung erreicht werden kann. Es ist auch nicht möglich, diese Beziehung des Ichs zu rationalisieren oder gar zu verändern. Sie ist das, was für Nietzsche der „Wille zur Macht“ ist. Das Prinzip des amour - propre ist dennoch nicht nur ein inneres Prinzip, sondern vielmehr ein gesellschaftliches.
La Rochefoucauld setzt den Willen zur Vollkommenheit voraus, den Willen, die engen gesellschaftlichen Konventionen der honnêteté zu erfüllen. Da dies nie völlig erreicht werden kann, wird die gesellschaftliche Welt zur „Welt des generalisierten Scheins“[17]. Die einzige Möglichkeit, diesem Zwang zu entfliehen, kostet den Preis, aus dem Gesellschaftsverbund herauszufallen, also die soziale Anerkennung zu verlieren.
Hierbei muss das Lebensumfeld La Rochefoucaulds berücksichtigt werden. In der Pariser Adelsgesellschaft des 17. Jahrhunderts war der gesellschaftliche Umgang der wichtigste Lebensinhalt. Da in dieser oberen Schicht niemand für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste und der Adel politisch entmachtet worden war, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf das kulturelle, literarische Leben und auf die Etikette. Somit hat ein Gesellschaftsausschluss für La Rochefoucauld eine viel größere Bedeutung als beispielsweise zur Zeit Nietzsches in Deutschland. Unter der Berücksichtigung dieses Umstandes gilt es nun, den amour-propre tiefer zu erforschen.
Es besteht also offenbar ein Kampf zwischen amour-propre und gesellschaftlichem Druck. Es findet jedoch keine offene Konfrontation statt, da die Grenzen durch die Aufnahme des Prinzips der Gesellschaft in das Ich verwischen. Der amour-propre zieht sich ins Innere, Verborgene zurück und er ist nur durch seine Fluchtbewegungen erkennbar. Diese sichtbaren Bewegungen im menschlichen Handeln sind unterteilbar in drei Züge: erstens das Geltungsverlangen[18], zweitens die Ausstattung des Daseins mit Glücksgütern und der Egoismus[19], drittens der Machttrieb[20].
Der amour - propre betrügt den Menschen und schmeichelt ihm durch zweckmäßiges Vergessen (Maxime 196[21] ), also Verdrängung durch Rationalisierung, wie der Fuchs, der die Trauben, die für ihn zu hoch hängen, für zu sauer erklärt.[22] Zu dieser unabhängigen Selbstaufwertung kommt das partnerabhängige Selbstwertgefühl. La Rochefoucauld schreibt hierzu: „Nous aimons toujours ceux qui nous admirent, et nous n’aimons pas toujours ceux que nous admirons.“[23] Die Werte, die jemand anstrebt, aber nie erreichen kann, werden von ihm irrational mittels des Ideals herabgesetzt.
3.2 Nietzsche: Der Wille zur Macht
„Er mißfällt mir“ – Warum? – „Ich bin ihm nicht gewachsen“ – Hat je ein Mensch so geantwortet?[24]. Hier sind sich La Rochefoucauld und Nietzsche einig: Diese ehrliche Antwort würde kein Mensch geben, da – und auch hier stimmen sie überein – sie nicht zur Aufwertung des Selbstbildes führen würde. Dies aber ist das Ziel des amour-propre La Rochefoucaulds ebenso wie Nietzsches Willens zur Macht. Dazu ist wichtig zu wissen, dass „Macht“ im Sinne Nietzsches, nichts mit der Wertschätzung anderer zutun hat. Es ist vielmehr das Gefühl der Macht über sich selbst. „Macht ist Unabhängigkeit, Freiheit im Sinne der Autarkie.“[25]. Der autarke Zustand kann nur gefühlt und damit bemerkt werden, wenn man die Unlust der Abhängigkeit kennt. „Wollen“ ist im ursprünglichen Sinne das Streben nach Autarkie. Im praktischen Sinne ist das „Wollen“ für Nietzsche „etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist.“[26]. Zu seiner Entstehung durchläuft der Mensch innerlich drei Schritte: Erstens die Mehrheit von Gefühlen, zweitens das Denken, drittens ein Affekt. Zunächst erlebt der Mensch einen Zustand als unangenehm und verhält sich dazu – noch ohne jedes Reflektieren und Nachdenken. Er fühlt sich aus dem Zustand gelöst, „nämlich im Weg- und Hindrängen, das man vielleicht nur als Unruhe spürt“[27]. Dieses Gefühl ist verbunden mit der körperlichen Bereitschaft zur Veränderung. Nietzsche nennt dies „Muskelgefühl“.
Im zweiten Schritt wird das Objekt des Wollens in einen Gedanken gefasst. Der Mensch nimmt sich etwas vor als etwas, das sein soll und dann, in einzelnen, denkend erarbeiteten Schritten, realisiert wird. „In jedem Willensakte“ gebe es „einen commandirenden Gedanken.“[28] Die Gefühle sind also entscheidend, die Gedanken der Ausdruck der getroffenen Entscheidung.
Zuletzt findet der Kampf ‚ich will – ich will nicht‘ statt, der von „Lethargie, Bequemlichkeit und Abhängigkeit von etwas“ beeinflusst wird. Hier zeigt sich Nietzsches „Freiheit des Willens“. Es ist der „Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss.“. Wer sich selbst befiehlt, hat Abstand gefunden und kann sich gerade deshalb mit dieser Handlung identifizieren. Durch das Gehorchen des Inneren auf das Kommando, erzielt man den „Zuwachs [...] (des) Machtgefühls.“ Die Vernunft herrscht, die Begierden fügen sich – das ist Herrschaft im Sinne Nietzsches.
3.3 Vergleich der Handlungsantriebe
Nach Nietzsche ist es also möglich, gegen seine Begierden zu entscheiden. Der Mensch bei La Rochefoucauld kann höchstens Fluchtspuren des amour-propre wahrnehmen, aber ihn keinesfalls kontrollieren. Beide sehen das ideale Menschenleben von der Vernunft geleitet. Dennoch gibt es Unterschiede in den Motiven. La Rochefoucauld bezieht in die Vernunft nur die gesellschaftlichen Zwänge, während Nietzsche nur die Vergeistigung fordert. Die Begierden können überwunden werden, der amour-propre nicht.
4. Schein und Sein
Beide Menschenbeobachter gehen davon aus, dass der Mensch sich in einer Scheinwelt bewegt, die er sich unbewusst oder bewusst selbst kreiert. Ebenso wie auch in Bezug auf die Handlungsantriebe lassen sich feine Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen feststellen.
4.1 La Rochefoucauld: Schein & Sein
La Rochefoucauld begründet seine „Maximes“ auf dem Boden einer negativen Anthropologie, in der sich der Mensch unbewusst zwischen Schein und Wirklichkeit bewegt. In dem Glauben an das, was er wahrnimmt und in der festen Überzeugung, sein Handeln bewusst selbst zu bestimmen, lebt der Mensch in einem ihm schmeichelnden Irrtum.
La Rochefoucauld postuliert die Existenz des unberechenbaren im Unbewussten anzusiedelnden amour-propre, dessen Motive alles andere als demütig und tugendhaft sind. Derjenige, der sich demütig gibt, hat zum Ziel, sein Gegenüber zu beherrschen (Maxime 254[29] ). Jede uneigennützig scheinende Handlung ist in vielen Masken der Selbstliebe untergeordnet. Der Gelobte weist das Lob zurück, um ein weiteres Mal gelobt zu werden (Maxime 146[30] ). Der demütig Bereuende fürchtet nur die Folge seiner Handlung, er bedauert seine Tat nicht tatsächlich. (Maxime 180[31] ). Ebenso verhält es sich mit dem, der für den Vorteil des Anderen arbeitet, unter dem Vorwand, zu geben. Seine wahre Absicht liegt darin, den Anderen in seiner Schuld stehen zu haben, also dem angeblich Demütigen zu nützen (Maxime 236[32] ). Die im Alltag gezeigte Demut ist also auf den Egoismus des Handelnden zurückzuführen.
4.2 Nietzsche: Der Mensch – nur scheinbar eindeutig
Es muss auch bei Nietzsche zwischen Schein und Sein unterschieden werden. Der Mensch lässt sich leicht durch sich selbst täuschen. Die Begierden, wie der amour - propre, suchen sich einen Weg, um die Oberhand zu erlangen „denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums.“[33]. Jede Tat folgt einem Wunsch des Täters, da „ein Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig wäre, noch fabelhafter als der Vogel Phönix (ist); es ist deutlich nicht einmal vorzustellen, weil der ganze Begriff „unegoistische Handlung“ bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein Mensch etwas getan, das allein für andere und ohne jeden persönlichen Beweggrund getan wäre; ja wie wollte er etwas tun können, das ohne Bezug zu ihm wäre, also ohne innere Nötigung (welche ihren Grund doch in einem persönlichen Bedürfnis haben müsste?). Wie vermöchte das ego ohne das ego zu handeln? [...] oder wie Larochefoucauld sagt: „si on croit aimer sa maîtresse pour l’amour d’elle, on est bien trompé“.“[34] Man liebt nämlich nur die eigenen Empfindungen, die diese Person bei uns auslöst.
Für Nietzsche steckt hinter dem scheinbar tugendhaften Handeln eine andere Art von Egoismus als für La Rochefoucauld. „Der Soldat wünscht, dass er für sein siegreiches Vaterland falle, denn in dem Siege seines Vaterlands siegt sein höchstes Wünschen mit.“[35]. Zugleich möchte er als Mensch natürlich nicht sterben. Der Soldat ist also innerlich zwiegespalten. Der Überlebenswille steht dem Willen, für den Vaterlandssieg zu sterben, gegenüber. Also gibt er in jedem Fall einer seiner Neigungen nach, opfert also dem einen Teil von sich den anderen Teil von sich. Wie auch seine Entscheidung ausfällt – unegoistisch ist sie nicht. Nietzsche bezeichnet deshalb den Menschen als „Dividuum“, also teilbar – im Gegensatz zum Individuum (nicht teilbar).
4.3 Fazit Schein der Tugend am Beispiel Demut
So gibt es weder für La Rochefoucauld noch für Nietzsche wahre Demut, allerdings aus unterschiedlichen Begründungszusammenhängen heraus. Der sich demütig zeigende Mensch verfolgt La Rochefoucauld zufolge das Gegenteil, die Unterwerfung des Anderen. Er hat zum Ziel, was nur vermutet werden kann, also als Tat nicht direkt sichtbar ist. Der „Demütige“ bei Nietzsche hat das „demütige Handeln“ an sich zum Ziel, nur ist es nicht so uneigennützig wie es scheint, sondern folgt der Neigung des Handelnden.
5. Verdrängungskünstler
Der Mensch ist sehr begabt darin, seine Scheinwelt als die wahre Welt anzunehmen und Widersprüche zu verdrängen; darin stimmen beide Philosophen überein.
5.1 Verdrängung bei La Rochefoucauld
Wie aber lebt man ein Leben, das nur aus Irrtümern besteht? Man baut die Scheinwelt aus, so angenehm wie es eben geht. Der Mensch kreiert Verkleidungen für seine Umwelt und auch für sich. Jeder Handlung, für die er den Grund zu wissen glaubt, liegt ein verstecktes Motiv zugrunde.
„Il y a souvent plus d’orgueil que de bonté à plaindre les malheurs de nos ennemis; c’est pour leur faire sentir que nous sommes au-dessus d’eux que nous leur donnons des marques de compassion.“ [36] Äußerlich mag es so scheinen, als wäre der Mensch voller edlen Mitgefühls, während er tatsächlich sich an dem Unglück seiner Feinde weidet.
„Les femmes croient souvent aimer encore qu’elles n’aiment pas. L’occupation d’une intrigue, l’émotion d’esprit que donne la galanterie, la pente naturelle au plaisir d’être aimées, et la peine de refuser, leur persuadent qu’elles ont de la passion lorsqu’elles n’ont que de la coquetterie.“[37]
Deutlich wird hier, daß, was der Mensch für Liebe hält, La Rochefoucauld zufolge, seinen Ursprung in der Eitelkeit der Selbstliebe hat. Aus den Gründen, sich über andere zu erheben und der Selbstbestätigung, wird der Schein der Liebe aufrechterhalten.
Durch diese Scheinwelt täuscht der Mensch nicht nur sein Umfeld, sondern auch sich selbst. Er ist so sehr daran gewöhnt, seine Motive nicht zu hinterfragen, dass er die oberflächliche Variante seines Handlungsantriebs als Grund akzeptiert. „Nous sommes si accoutumés à nous déguiser aux autres qu’enfin nous nous déguisons à nous-mêmes.“[38]
5.2 Verdrängung bei Nietzsche
Nietzsche stimmt hier mit La Rochefoucauld überein. „Der Mensch ist schwer zu entdecken und sich selber noch am schwersten; oft lügt der Geist über die Seele.“[39] Dass der Mensch sich selbst fremd wird, ist darin begründet, dass er vor lauter Scheinen das Sein verlernt hat, wodurch er sich letztlich selbst zeigt, dass er so ist, wie er scheint. „Wenn einer sehr lange und hartnäckig etwas scheinen will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas anderes zu sein. (Der, welcher immer die Maske freundlicher Minen trägt, muss zuletzt eine Gewalt über wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, - und zuletzt wieder bekommen diese über ihn Gewalt, er ist wohlwollend.“[40]
Er entlarvt ebenso den scheinbar strukturierten Menschen und negiert sämtliche „Wesenskategorien“: „Es gibt weder „Geist“, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewusstsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: alles Fiktionen, die unbrauchbar sind[...]“[41]
Fazit
Diese Gegenüberstellung der Anthropologien beider zeigt deutlich, dass Grundzüge der „Maximes“ des französischen Moralisten selbst zwei Jahrhunderte später, ungeachtet aller politischen und sozialen Entwicklungen, noch seine Gültigkeit besaßen. Darauf weisen Nietzsches Übereinstimmungen mit La Rochefoucauld‘s Beobachtungen und Analysen menschlichen Verhaltens hin. Auch Nietzsches stilistische Orientierung an der durch La Rochefoucauld verbreiteten aphoristischen Schreibweise zeugt von seiner Begeisterung für den Meister der französischen Moralisten. Trotz aller Bewunderung war er nicht mit seiner zurückhaltenden Art einverstanden, die religiösen und moralischen Werte in seinen Maximen anzugreifen, ohne sie vollkommen zu zerstören. Beide aber kommen zu dem Schluss, dass der tugendhafte Mensch nicht existieren kann.
Literaturangaben
1. Karl Schlechta [Hrsg.] Friedrich Nietzsche Werke Bde. I-V. Ullstein: Frankfurt/Main, Wien, Berlin, 1969.
2. La Nouvelle Revue Fran V aise, Starobinski: 1962(?), S. 39.
3. La Rochefoucauld 1678 Maximes.
4. Stierle, Nies, Französische Klassik. S. 81-133. München: Wilhelm Fink Verlag, 1985.
[...]
[1] La Rochefoucauld 1678 (im folgenden „Maxime“ genannt): Maxime 149
[2] Karl Schlechta [Hrsg.] 1969: Friedrich Nietzsche Werke Bde. I-V (im folgenden „Schlechta“ genannt): I 511 Aphorismus 97
[3] Schlechta I 476 (36)
[4] Schlechta: II 1026 (51)
[5] Maxime 144
[6] Schlechta: I 501 Aphorismus 86
[7] z.B.: Maxime 20 „La constance des sages n’est que l’art de renfermer leur agitation dans le coeur..“
[8] Schlechta I 476 Aphorismus 36
[9] Maxime
[10] Maxime 171
[11] Maxime 146
[12] Schlechta: II 655
[13] Schlechta: II 681 Aphorismus 214
[14] Schlechta: II 1075 Aphorismus 4
[15] Schlechta: II 440 Aphorismus 2
[16] La Nouvelle Revue FranVaise, Starobinski: 1962(?), S. 39.
[17] Stierle, Nies, Französische Klassik. S. 81-133. München: Wilhelm Fink Verlag, 1985.
[18] Maximen 16, 18, 149, 205
[19] Maximen 83, 180, 197, 223, 264
[20] Maximen 229, 254, 463
[21] „Nous oublions aisément nos fautes lorsqu’elles ne sont sues que de nous.“
[22] vgl. La Fontaine: Le Renard et les Raisins
[23] Maxime 294
[24] Schlechta: II 641 Aphorismus 185
[25] Günter Figal, Nietzsche – eine philosophische Einführung: S. 225. Stuttgart: Reclam, 1999.
[26] Schlechta: II 581 Aphorismus 19
[27] Figal: 1999, S. 226
[29] „L’humilité n’est souvent qu’une feinte soumission, dont on se sert pour soumettre les autres; [...]“
[30] „On ne loue d’ordinaire que pour être loué.“
[31] „Notre repentir n’est pas tant un regret du mal que nous avons fait, qu’une crainte de celui qui nous en peut arriver.“
[32] Il semble que l’amour propre soit la dupe de la bonté, et qu’il s’oublie lui-même lorsque nous travaillons pour l’avantage des autres. Cependant c’est prendre le chemin le plus assuré pour arriver à ses fins; c’est prêter à usure sous prétexte de donner; c’est enfin s’acquérir tout le monde par un moyen subtil et délicat.“
[33] Schlechta: I 15 Aphorismus 5
[34] Schlechta: I 533 Aphorismus 133
[35] Schlechta: I 490 Aphorismus 57
[36] Maxime 463
[37] Maxime 277
[38] Maxime 119
[39] Schlechta: II 441
[40] Schlechta: I 487 Aphorismus 51
[41] Schlechta: III 751
- Citar trabajo
- Dorothee Korspeter (Autor), 2003, Einflüsse La Rochefoucauld's auf die Philosophie Nietzsches am Beispiel Tugenden, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110170
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