Inhalt
0. Einleitung - Der Film Noir und das Genre-Problem
0.1 To be or not to be (a genre)
0.2 Unschärfe als Grundmerkmal von „Genre“
1. Reflexivität und Genre
1.1 „Lebenszyklen“ eines Genres
1.2 Der aktive Zuschauer - Reflexivität und narrative Strategie
1.3 Neo-Noir und Genre-Definition „in retrospect“
2. Kiss Me Deadly
2.1 Produktionsbedingungen
2.2 Robert Aldrich
2.3 Mickey Spillane
2.4 Kiss Me Deadly
I. Eine Welt im Zerrspiegel
II. Der entzauberte Held
III. „All das Böse dieser Welt“ - Der McCarthyismus und die nukleare Apokalypse
3. Fazit
Literaturverzeichnis
0.Einleitung - Der Film Noir und das Genre-Problem
0.1 Tobe or not to be (a genre)
„As a single phenomenon, noir, in my view, never existed.“ 1
Im Gegensatz zu „klassischen“ Genres wie dem Horrorfilm oder Western stellt der Film Noir der 1940er und 1950er Jahre in vielen Aspekten einen Sonderfall dar:
Während eines der wichtigsten Merkmale für Genre, die Vermarktung von Filmen durch die Studios und Verleihe unter einem kategorisierenden Label, 2 sowie auch das Auswählen der Ikonographie aus einem klar umrissenen Fundus von Symbolen3 (z.B. der Revolver im Western oder die Fangzähne im Horrorfilm), in anderen Fällen klaren Aufschluss über die Beschaffenheit und Kategorisierbarkeit von Einzelwerken und den Gesamtumfang des jeweiligen Katalogs gestatten, diskutieren Kritiker und Theoretiker seit der ersten Erwähnung des Begriffs „Film Noir“4 mit ungebrochener Intensität dar- über, ob und warum es sich dabei überhaupt um ein Genre handelt.5
Dabei spielt vor allem ein äußerst unscharf umrissener Kanon an Filmen6, nicht zuletzt aber auch die Tatsache eine Rolle, dass immer wieder erwähnte „genretypische“ Stil- elemente des Film Noir, wie z.B. Chiaroscuro-Beleuchtung, Schärfentiefe und extreme Kamerawinkel, 7 die stark psychologische Zeichnung der Protagonisten8 und die Stilisie- rung der Frau als Femme Fatale9 bestenfalls in einer handvoll Filme tatsächlich alle in Erscheinung treten10.
Der weitaus größere Teil des Noir-Filmkatalogs beinhaltet nur einzelne dieser Merkmale oder lässt sie in einfacher Kombination zum Einsatz kommen.11
Vor dem Hintergrund dieser Diskussion ergibt sich aus meiner Sicht zum einen der Ein- wand, dass wohl kaum alle Western gleichermaßen mit Saloonschlägereien und bösen Großgrundbesitzern, Damsels in Distress und aufrechten Helden mit strahlend sauberen Hüten aufwarten, und auch im Horrorfilm nur selten sämtliche Varianten des Bösen vom Monster bis zum Psychopathen auf einmal vertreten sind. Zum anderen drängt sich
die Frage auf, wie stark sich Filme eines Genres denn nun eigentlich tatsächlich ähneln müssen, um sich als Teil des zugrundeliegende Kanons zu qualifizieren.
Ausserdem bleibt zu klären, welche anderen Kriterien die Genretheorie bereitstellt, um fundierte Rückschlüsse auf den Status des Phänomens Film Noir zu ermöglichen, und ob sich durch deren Anwendung ggf. eine eindeutigere Beweislage ergibt.
Zur Auflösung der Problematik um den Film Noir bedarf es also zunächst auch einer genaueren Betrachtung des Genre-Begriffs.
0.2 Unschärfe als Grundmerkmal von „Genre“
„Genre can be identified by the iconography and conventions operating within it. But genre is also a shifting and slippery term so it is never fixed, and, as we have seen, what makes genre have meaning is constantly changing.“ 1
Susan Hayward argumentiert mit Verweis auf Steve Neale, dass Genre immer im Kon- text der Geschichte und der vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen zu be- trachten ist,2 und Genres von daher nie fest stehende Definitionen, sondern sich stetig wandelnde Hilfsmittel zur Verabredung von Konventionen zwischen Produktion (Stu- dios, Filmemacher, Vertrieb) und Rezipienten sind.3
Knut Hickethier zeigt in seinem Aufsatz Genretheorie und Genreanalyse, dass die Fern- sehzeitungen der 90er Jahre zwar mehr als 2500 Genre- und Gattungsbezeichnungen zur Programmankündigung genutzt wurden, die Alltagsverständigung der Rezipienten jedoch mit wenigen allgemeinen Begriffen auskommt.4
„Dies ist deshalb möglich, weil die Bezeichungen für Genres letztlich ‚unscharf‘ und damit im kommuni- kativen Gebrauch flexibel sind. Sie sollen im Rezeptionsprozess z.B. die ohnehin diffusen Vorstellungen von Gruppen von Medienangeboten artikulieren. Diese Artikulation ist offenbar zunächst leichter möglich, wenn der Begriff nicht durch allzu präzise Festlegungen Assoziationen und Erwartungen auslöst, die vom konkreten einzelnen Film vielleicht nicht erfüllt werden.
Unschärfe ist also notwendig für das Funktionieren der Genrebegriffe im kommunikativen Gebrauch.“ 5
Eine grundlegende Eigenschaft von Genrebegriffen ist demnach ganz allgemein, dass sie eben diffus benutzt und in ihrer Auslegung immer stark von der Erwartung des jeweiligen Rezipienten geprägt sind. Dies entschärft nicht nur Neales Argument der un- gleich verteilten Stilmerkmale um einiges, es birgt auch gleichzeitig einen Grundansatz zur Entwicklung einer Gegenthese, die eine Einstufung des Film Noir als Genre ermög- licht, ohne spätere Entwicklungen wie den Neo- und British-Noir als Rechtfertigung hinzuziehen zu müssen.
Rick Altman untersucht die Filme eines Genres genauer:
„Not all film engage spectators‘ generic knowledge in the same way and to the same extent. While some films simply borrow devices from established genres, others foreground their generic characteristics to the point where the genre concept itself plays a major role in the film. (..) By definition, all films belong to some genre(s) ... but only certain films are self-consciously produced and consumed according to (or against) a specific model. “ 1
Steve Neale selbst definiert in Anlehnung an Altman zwei Grundtypen von generisch geprägten Filmen: Der generisch modellierte („generically modelled“) Film, der sich unkritisch am „Werkzeugkasten“ der Genre-Stilmittel bedient, sowie der generisch gekennzeichnete („generically marked“) Film, der bewusst mit denselben Werkzeugen spielt, diese jedoch verfremdet, pointiert und nicht selten zu einer „heimlichen Hauptfi- gur“ der Handlung werden lässt.2
Diese letztere Definition stellt im Umkehrschluss den Ausgangspunkt für die Überle- gungen dieser Arbeit dar: Sollte sich in einem oder mehreren Filmen des ursprüngli- chen Noir-Kanons (1940 - ca. 1959) eine solcherart reflexive generische Kennzeichnung finden, muss dies als starkes Argument, wenn nicht als Beweis, für die Einstufung des Film Noir als Genre gewertet werden.
1. Reflexivität und Genre
1.1 „Lebenszyklen“ eines Genres
In der Genretheorie wird übereinstimmend davon ausgegangen, dass alle Genres glei- chermaßen eine immer wiederkehrende Abfolge von Ereignissen von ihrer Entstehung bis zu ihrem Verschwinden durchlaufen.
Christian Metz, z.B., spricht von einem Zyklu s der Veränderungen („cycle of changes“): Von einer „klassischen“ Stufe zu einer Phase, in der die dort entstandenen Klassiker parodiert werden, über ein Stadium, in der die Filme die Annahme in Frage stellen, dass sie dem/einem Genre angehören, bis hin zu einer Kritik am Genre selbst.3
Knut Hickethier nennt ein - ebenfalls vierstufiges - Phasenmodell zum historischen Ver- ständnis des Genres:4
Entstehung - Stabilisierung - Erschöpfung - Neubildung5
Die Entstehung ist demnach ein längerer Zeitraum, in dem
„innerhalb einer Kulturphase Motive, Sujets und erzählerische Konstruktionen zu einer Form, bzw. einem Schema entwickelt werden, das in einzelnen Medien häufig benutzt und in den kulturellen Diskursen schließlich als Genre mit einem Namen versehen wird.“ 1
Während der Stabilisierung werden nun die etablierten Konventionen, Formen und Strukturen nun immer wieder aufgegriffen und leicht verändert, sodass schließlich eine Sammlung von Varianten entsteht, die gemeinsam das Genre repräsentieren.2
Da diese Varianten jedoch in einem engen Zusammenhang stehen, geht man davon aus, dass es nur eine begrenzte Zahl von Erzählmodellen gibt, die sich mit der Zeit immer öfter wiederholen.3
Wird das Genremodell nicht regelmäßig durch immer neue Zeitgeisteinflüsse variiert, versiegt schließlich das Interesse der Zuschauer, das Genre ist „erschöpft“.
„Häufig kommt es in dieser Phase zu Genreparodien. Die drohende Ermüdung eines Genres kann durch Kombination mit Elementen anderer Genres aufgefangen werden, soweit diese es zulassen. (...)
Die Möglichkeit der Neubildung von Genres beruht auf ihrer - unterschiedlichen - Variabilität und Offen- heit für die Integration von neuen Gestaltungsmerkmalen und inhaltlichen Erweiterungen. “ 4
Wenn eine Mischung mehrerer Genres gelingt, können sich daraus Subgenres oder so- gar neue Genres entwickeln.5
Hickethiers Modell scheint mir zur Beschreibung eines „Lebenszyklus“ ausgereifter, da sich die - gleichsam reflexiven - Stufen 3-4 nach Metz durch ein satirisch-kritisches Moment überschneiden und sich letztlich nur durch Gewichtung und Intention der Be- zugnahme von einander unterscheiden lassen.
Ob eine solch genaue Differenzierung wirklich nötig ist, muss anderweitig geklärt wer- den; die 3 fraglichen Stufen können durch ihre Ähnlichkeit aber letztlich der Hickethier- schen Phase der „Erschöpfung“ zugeordnet werden und stellen daher aus meiner Sicht auch keinen Widerspruch dar.
Steve Neale überprüft ähnliche Theorien von Thomas Schatz und Rick Altman, erwei- tert und kritisiert diese vor allem in Bezug auf jüngere Genres seit den 70er Jahren, denen er ein hohes Maß an Selbst-Bewusstsein („self-consciousness“) schon im Moment ihrer Entstehung zuschreibt und weist auf einige ungeklärte Fragen diesbezüglich hin.6
[...]
1 Steve Neale: „Genre and Hollywood“, London, 2000, S.173.
2 Susan Hayward: „Cinema Studies - The Key Concepts“, London, 2000, S.166.
3 ebd., S.170.
4 eingeführt von Nino Frank, 1946, präzisiert in Borde/Chaumeton: „Panorama du Film Noir Américain“, 1955, in Alain Silver, James Ursini (Hrsg.): „Film Noir Reader“, New York, 1996.
5 vgl. z.B. Todd Erickson: „Kill Me Again: Movement Becomes Genre“, 1996, in Alain Silver, James Ursini, 1996, sowie Andrew Spicer: „Film Noir“, London, 2002, S.24ff.
6 Steve Neale, 2000, S.155.
7 Andrew Spicer, 2002, S.46ff.
8 ebd., S.68f.
9 Andrew Spicer, 2002, S.21, Susan Hayward, 2000, S.130.
10 Steve Neale, 2000, S.174.
11 ebd.
1 Susan Hayward, 2000, S.170/171.
2 ebd.
3 ebd., S.169.
4 Knut Hickethier: „Genretheorie und Genreanalyse“, in Jürgen Felix (Hrsg.): „Moderne Film Theorie“, Mainz, 2002, S.64.
5 ebd.
1 Rick Altman, 1996, zitiert von Steve Neale, 2000, S.27.
2 Steve Neale, 2000, S.27ff.
3 zitiert in Susan Hayward, 2002, S.168.
4 Knut Hickethier in Jürgen Felix, 2002, S.71.
5 ebd.
1 Knut Hickethier in Jürgen Felix, 2002, S.71ff.
2 ebd.
3 Vilem Flusser, 1983, und Georg Seeßlen, 1977, zitiert von Knut Hickethier in Jürgen Felix, 2002, S.73.
4 Knut Hickethier in Jürgen Felix, 2002, S.71ff.
5 ebd.
6 Schatz beschreibt einen thematischen Fortschritt von Transparenz zu Sichtbarkeit („opacity“) und meint damit den Paradigmenwechsel von Thematisierung durch die Form hin zur Thematisierung der Form . Dieses formale Schema ist nach Neale jedoch im Hinblick auf postmoderne, vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an reflexive Genres problematisch. Steve Neale, 2000, S.211ff.
- Citation du texte
- Tobias Goeschel (Auteur), 2006, Reflexivität als Genre-Merkmal - Kiss Me Deadly und der Film Noir, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110065
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