Johann Wolfgang Goethe, Faust I
Fach: Deutsch
Kategorie: Schularbeit, 11. Schulstufe Gymnasium (AHS)
Autor: Matthäus K. Deutsch
Wortanzahl: 704
Datum: Jänner 2006
Aufgabenstellung:
In Goethes „Faust“ lassen sich wesentliche Zusammenhänge im Handlungsverlauf nur zwischen den Zeilen erkennen. Arbeite diese Stellen heraus und stelle Überlegungen an, welche Funktion sie für den Gesamtbau des Dramas haben.
Wesentliche, aber „unsichtbare“ Ereignisse in Goethes „Faust“.
Um das Drama „Faust“ wirklich verstehen zu können und als Leser beziehungsweise Zuschauer die Ereignisse, besonders in der Gretchentragödie zu begreifen, muss man zwischen den Zeilen lesen und scheinbar unwichtige Andeutungen verstehen lernen.
Goethe hat die Gretchentragödie innerhalb des Stückes nach aristotelischem Prinzip aufgebaut. Doch das Besondere daran ist, dass die wesentlichen Teile eines solchen in diesem Stück fehlen. So wird zum Beispiel der Höhepunkt der Tragödie nie gezeigt. Goethe baut noch ein retardierendes Moment ein und lässt die Spannung in der Szene „Marthens Garten“ enorm ansteigen. Margarete und Faust lieben sich, sie lieben sich so sehr, dass Gretchen in Fausts Angebot, der Mutter einen „Schlafestrunk“ zu geben, einwilligt (Vers 3514). Der Zuseher erkennt nun, dass die beiden eine Nacht miteinander verbringen werden, er wartet nun geradezu auf eine Liebesszene, doch er wartet vergebens. Diese eigentlich so wichtige Szene lässt Goethe völlig aus! Der Teil, ab dem die Handlung fällt, wegen dem Gretchen zum Kindesmord, in den Wahnsinn getrieben wird, sie fehlt! Doch man erfährt mit einigem Mitdenken, dass Gretchens Mutter an dem Trank, den sie von Faust (bzw. Mephistopheles) bekommen hat, gestorben ist und dass Gretchen schwanger ist. Doch vorerst werden nur Andeutungen gemacht. Der Leser wird im Dunkeln gelassen. Und erst einige Szenen später weiß man wirklich, woran man ist. Das macht Goethe mit voller Absicht. Man fragt sich, was los ist, man will mehr wissen, es wird einfach mehr Interesse geweckt. Schon in der nächsten Szene wird klar, dass Gretchen und Faust sexuellen Kontakt hatten, aber es ist noch nicht sicher, ob Gretchen wirklich auch schwanger ist. Gretchen ist am Brunnen einsilbig, lästert nicht mit Lieschen über die vorehelichen Kontakte von Bärbelchen (Verse 3545-77). Und in dem Monolog von Gretchen, welcher auf das Gespräch folgt, wird ein wenig Klarheit geschaffen (Vers 3584). Valentin gibt hingegen schon zu, das Gretchen schwanger ist. In dem simplen Satz „Wenn erst die Schande wird geboren“ (Vers 3740) steckt unheimlich viel Bedeutung für den Verlauf der Handlung. Einerseits sagt der Satz aus, dass Gretchen, wie vermutet, tatsächlich schwanger ist, andererseits zeigt er auch die maßlose Verachtung, die die damalige Gesellschaft „unehelichen“ Kindern entgegenbrachte. Versteht man die Bedeutungen dieses Verses, kann man unter Umständen den weiteren Verlauf des Dramas schon erahnen. Auch vom Tod der Mutter erfährt man ohne eine entsprechende Szene, in der die Mutter sterben würde. Der Zuseher erfährt nur durch den „bösen Geist“, dass die Mutter nach Einnahme des Trankes gestorben ist (Verse 3786-87). Und doch – diese beiden Ereignisse sind der Grund für die ganze Tragödie, ohne sie wäre Gretchen nie zugrunde gegangen. Das Paradoxe und zugleich Interessante dabei ist, dass genau diese Ereignisse nie auf der Bühne gezeigt werden, obwohl nach ihnen die Handlung zu fallen beginnt. Auch die wichtigste Stelle dieser eben erwähnten fallenden Handlung wurde weggelassen, da Goethe den Fall auch drastisch kürzt, um die Ereignisse in der Walpurgisnacht besser darstellen zu können. So wird der Kindermord wieder nur angedeutet, ebenso wie die Einkerkerung. Diese lässt sich durch die Vision in der Walpurgisnacht (um Vers 4185) nur erahnen, Gewissheit schafft erst der Streit im „Trüber-Tag-Feld“. Hier wird das Publikum wieder an Gretchen erinnert (obwohl nicht ein einziges Mal der Name Gretchens vorkommt) und mit einem Male darüber aufgeklärt, dass Margarethe für eine Missetat eingesperrt wurde. Man weiß weder, welche Missetat das Mädchen begangen haben soll, noch ob sie zur Todesstrafe verurteilt worden ist. Es bleibt jedem Leser und Zuseher selbst überlassen, sich seinen Teil dazu zu denken. Der erste Teil der Lösung des Rätsels folgt gleich in der letzten Szene („Kerker“). Durch die Verse 4427 und 4433 wird klar: Gretchen ist zum Tode verurteilt. Und nach dem bald darauf nachfolgenden Satz „Sie nahmen’s mir um mich zu kränken, und sagen nun ich hätt’ es umgebracht“ kann man vermuten, dass Gretchen des Kindesmorden schuldig befunden wurde. Gewissheit bekommt der Zuseher aber erst mit dem Vers 4508, wenngleich man nie erfährt, ob Margarethe nur für Kindesmord, oder aber auch wegen des unbeabsichtigten Mordes an der Mutter in den Kerker gesperrt wurde.
Schlussendlich kann man sagen, dass Goethe die wichtigsten und tragischsten Stellen in der Gretchentragödie ausgelassen hat, und dass ihm damit ein Meisterwerk gelungen ist, da man als aufmerksamer Leser wie Zuseher die Handlung doch begreift.
- Arbeit zitieren
- Matthäus Deutsch (Autor:in), 2006, Goethe, Johann Wolfgang von - Faust - Wesentliche, aber "unsichtbare" Ereignisse in Goethes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109951