Definition:
„Heimerziehung bedeutet eine erwünschtermaßen – und gesetzlich festgelegte – zeitlich begrenzte stationäre, meist heilpädagogisch-psychologisch ausgerichtete Erziehung außerhalb des ursprünglichen und natürlichen familiären Lebensfeldes durch pädagogische Fachkräfte, wobei die betroffenen Kinder und Jugendlichen in der Regel in alters- und geschlechtsgemischten Gruppen in einer Art Lebensgemeinschaft zusammengeschlossen sind.“ (Schauder, S. 7)
1. historische Entwicklung
- Wurzeln: Mittelalter (Findel- und Waisenhäuser, Klosterschulen, Hospitäler und Armenhäuser) ➔ geringer pädagogischer Anspruch, sondern vorrangig Sicherung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Wohnraum, medizinische Versorgung etc.), Erziehung zur „Arbeitsamkeit, Gottesfurcht und Demut“ (Günder 2003, S. 12)
- Drittes Reich: ideologisch ausgerichtete Erziehungsziele; Unterteilung der Kinder in 3 Kategorien: „gute Elemente“ = erbgesund, normalbegabt, rassisch wertvoll, erziehungsfähig und -würdig und eingliederungsfähig ➔ Unterbringung in Jugendheimstätten; „halbgute Elemente“ ➔ Fürsorgeerziehung; „bösen Elemente“ = schwersterziehbare ➔ ab 1940 in polizeilichen Jugendschutzlagern untergebracht, bei Volljährigkeit Überführung in Arbeitshäuser oder Konzentrationslager
- Nachkriegsentwicklung in BRD:
- zunächst „Beherbergung und Versorgung entwurzelter, […] elternloser Kinder und Jugendlicher“ (Bürger, S. 633), teilweise durch unqualifiziertes Personal wie ehemalige Soldaten (vgl. Günder 2003, S. 19)
- angewandte Disziplinierungsmaßnahmen: Strafisolation in Einzelzellen, Haarescheren, militärischer Drill und Arbeitszwang
- aber auch humanitäre, sozialpädagogisch orientierte Konzepte, z.B. Kinderdörfer (Gründung in 40er Jahren) ➔ Zielsetzung: dauerhafte Beheimatung elternloser unversorgter Kinder in familiärem Rahmen mit „unqualifizierten“ Kinderdorfmüttern
- Ende der 60er Jahre: Heimkampagne ➔ Studentenbewegung machte auf unhaltbare Zustände aufmerksam; vor allem in Hessischen Heimen Aktionen, z.B. Massenentweichungen, die auf autoritären Erziehungsstil, Missachtung grundgesetzlich verankerter Rechte, unzureichende Bildungs- und Ausbildungschancen, unzureichende Entlohnung, unzureichend ausgebildetes Personal und Isolation abgelegener Heime aufmerksam machten
- Forderung nach Demokratie und Mitgestaltungsrechten der „Insassen“
- Verringerung der Gruppengröße
- tarifgerechte Entlohnung sowie Weiter- und Fortbildungsmöglichkeiten für Erzieher(innen)
- Abschaffung von Stigmatisierungsmerkmalen, etwa Anstaltskleidung, Heime in abgelegener Lage etc.
- Abschaffung zum Teil langer Heimaufenthalte bei gleichzeitigem Fehlen einer Erziehungsplanung
- Abkehr von willkürlichen Einweisungskriterien wie „Verwahrlosung“
- Abkehr von geschlossener Unterbringung in Heimen
- Mitte der 70er Jahre: Entstehung von Kleinstheimen und Kinderhäusern
- gravierende Veränderungen der Gruppengrößen ➔ 60er Jahre: 25+ Plätze ➔ variable Gruppengrößen 5-10 Plätze
- Verbesserung der räumlichen Rahmenbedingungen ➔ individualisierte Raumprogramme, häufig mit Einzelzimmern
- Verbesserung der personellen Ausstattung ➔ höhere Betreuungsdichte, verbesserte pädagogische Qualifikation der Mitarbeiter
- veränderte Beurteilung der Problemlagen betreuter junger Menschen
- Heimerziehung in der DDR und Entwicklungen nach dem Beitritt zur BRD:
- 1947: Jugendhilfe auf sowjetischen Befehl aus Sozialwesen ausgegliedert und Volkswesen zugeordnet
- 50er Jahre: Sozialisation innerhalb der Kleinfamilie = oberste Priorität ➔ Kleinfamilie = „Grundkollektiv der sozialistischen Gesellschaft“ (Bürger, S. 640)
- „Handlungsbedarf zur Einweisung von Kindern und Jugendlichen in Heime […] wenn Eltern sozialistische Erziehung ihrer Kinder aus objektiven oder subjektiven Gründen nicht gewährleisten konnten“ (Bürger, S. 640) ➔ Heimeinweisung nach gescheiterter Republikflucht
- häufige Einweisungsgründe: Schulbummelei / Arbeitsbummelei und Jugendkriminalität
- räumliche Bedingungen: Nutzung von nicht mehr benötigten Gebäuden ➔ geringe Eignung durch Standort, Größe und Raumkonzept
- ab 70er Jahre: Neubauten für Heime ➔ bis zu 250 Plätze!
- hohe Mitarbeiterfluktuation + ungünstige personelle Bedingungen ➔ 2,8 Stellen auf 16-20 Kinder
- weitere Strukturprobleme: starre Regelkonzepte, mangelnde Beachtung individueller Problemlagen der Kinder/Jugendlichen, „militaristische“ Spezialheime, permanenter Personalmangel
2. rechtliche Grundlagen & Finanzierung
- § 34 KJHG: Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform ➔ Formulierung verweist auf alternative Institutionen
- ergänzend:
- § 5 KJHG ➔ Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten (Eltern) hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe (Einrichtung, Träger etc.)
- § 8 KJHG ➔ Partizipationsrecht der Kinder/Jugendlichen entsprechend dem Entwicklungsstand
- § 36 KJHG ➔ Personensorgeberechtigte und Kind/Jugendlicher müssen vor Inanspruchnahme beraten werden bezüglich Folgen für die Entwicklung des Kindes/Jugendlichen
- § 37 KJHG: Zusammenarbeit bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie
- § 38 KJHG: Vermittlung bei der Ausübung der Personensorge
- § 39 KJHG: Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen
- § 40 KJHG: Krankenhilfe
- § 80 KJHG: Jugendhilfeplanung ➔ Kontakte zu Familie und sozialem Umfeld müssen möglich sein ➔ Einrichtung in erreichbarer Nähe
- §§ 91ff KJHG: Heranziehung zu den Kosten
- § 1666 BGB ➔ Hilfe zur Erziehung gegen der Wunsch/Willen der Eltern = keine Jugendhilfeleistung sondern „hoheitlicher Eingriff in die Elternrechte zum Schutz des Kindes“ (Bürger, S. 645)
- Kind/Jugendlicher und Eltern werden zu den Kosten der Hilfe herangezogen ➔ §§ 92, 93 KJHG
- Höhe: häusliche Ersparnis ➔ § 94 Abs. 2 KJHG ➔ Durchschnitt ca. 300 DM, max. 600-800 DM (vgl. Bürger, S. 655)
- Heranziehung nur im Rahmen der Bundessozialhilfebestimmungen
- „Restkosten“ tragen örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe (Jugendamt)
3. Angebotsformen
Kinderheime
- meist kleine überschaubare Gruppen ➔ Folge der Heimkampagne
- Gruppen = ähnlich wie Familien (kochen, essen, spielen, lernen etc.)
- Ein- bis Zweibettzimmer
- Betreuung im Schichtdienst
Außenwohngruppen und Wohngruppen
- Entstehung zu Beginn der 70er Jahre
- kleinere Heimgruppen (5-8 Kinder/Jugendliche) wohnen in Einfamilienhäusern oder in einer Etagenwohnung
- Zielgruppe meist Jugendliche ➔ erfordert und fördert Selbständigkeit
- Betreuung im Schichtdienst
- Bedarf größer als Angebot
Betreutes Wohnen
- vorrangig für Jugendliche/junge Volljährige ➔ meist Jugendliche/junge Volljährige die in Heim oder Wohngruppe Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit unter Beweis stellen konnten ➔ wohnen allein oder mit anderen Jugendlichen/jungen Volljährigen (ohne ständige Anwesenheit von Personal)
3. Zielgruppe
- „Familien, in denen sich Kinder auf Grund der familiären oder anderer Lebensbedingungen momentan oder auf längere Sicht nicht ausreichend entwickeln können“ (Günder 2000, S. 45)
- mögliche Gründe für Heimaufenthalt: Verhaltensstörungen, Schulprobleme, psychische Störungen, Umhertreiben und Weglaufen, Neigung zu Straftaten, Auffälligkeiten im sexuellen Bereich etc.
- häufig Alkoholprobleme oder andere Suchterkrankungen in der Familie, Scheidungswaisen, Partnerschaftskonflikte, psychische Störungen der Eltern, unterprivilegierte Bevölkerungsschichten[1], gescheiterte Pflegeverhältnisse, Überforderungen der Eltern,
- Heimeinweisung selten bei Erstkontakt mit Jugendamt ➔ Jugendhilfekarriere
- vorrangig 16- bis 18jährige in Institutionen; kleine Kinder vorwiegend in Pflegefamilien untergebracht
Literatur:
- Bürger, U.: Heimerziehung. In: Birtsch, V., Münstermann, K., Trede, W. (Hrsg.) 2001: Handbuch Erziehungshilfen. Leitfaden für Ausbildung, Praxis und Forschung. Münster, S. 632-663
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) 1998: Leistungen und Grenzen von Heimerziehung. Bonn
- Chassé, K. A.: Heimerziehung. In: Chassé, K. A., Wensierski, H.-J. von (Hrsg.) 2002: Praxisfelder der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim, München, S. 161-171
- Günder, R. 2000: Erziehungshilfen. Wissenswertes für Eltern. Freiburg im Breisgau
- Günder, R. 2003: Praxis und Methoden der Heimerziehung. Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe. Freiburg im Breisgau
- Hansbauer, P. 1999: Traditionsbrüche in der Heimerziehung. Analysen zur Durchsetzung der ambulanten Einzelbetreuung. Münster
- Münder, J. u.a. 2003: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim, Berlin, Basel
- Schauder, T. 2003: Heimkinderschicksale. Falldarstellungen und Anregungen für Eltern und Erzieher problematischer Kinder. Weinheim, Basel, Berlin
- Wiesner, R. u.a. 2000: SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. München
- http://129.217.205.15/akj/komdat/pdf/komdat12.pdf [03.01.2006, 13:00]
- http://www.destatis.de/presse/deutsch/pm2005/p3590082.htm [03.01.06, 16:10]
- http://www.klinge-seckach.de/download/kosten_nutzen_analyse.pdf [03.01.2006, 13:08]
- http://www.planger.de/hist02.htm [02.01.06, 15:29]
- http://www.vpk.de/mitteilungen/studien/jule.html [02.01.06, 17:25]
[...]
[1] z.B. Arbeitslosigkeit, Einkommensarmut, Wohnungsnot
- Quote paper
- Susanne Rehbein (Author), 2006, Heimerziehung - Hilfen zur Erziehung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109889
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