Gliederung
1. Einleitung
2. Eine kurze Biographie Goethes
3. Eine Analyse des Romans
3.1 Die Handlung
3.2 Zur Entstehung des Werkes
3.2.1 Der literaturhistorische Aspekt
3.2.2 Goethes Situation
3.3 Charakteristik der Hauptpersonen
3.4 Sprachlicher Stil und Form
3.5 Die Rezeptionsgeschichte
3.6 Interpretationsansätze
4. Ein literaturtheoretischer Vergleich mit Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W."
4.1 Der soziokommunikative Kontext
4.2 Die Rezeptionsgeschichte
4.3 Sprachlicher Stil und Form
4.4 Inhaltliche Überschneidungen
4.4.1 Die Hauptfiguren
4.4.2 Inhaltliche Parallelen an konkreten Textbeispielen
4.4.3 Sonstige Parallelen
5. Fazit
6. Anhang
6.1 Quellenverzeichnis
6.2 Dokumente
6.2.1 Bücher
6.2.2 Internet
1. Einleitung
Obgleich Kritiker, Literaturwissenschaftler und Literaturhistoriker sich in einem Punkt zum größten Teil einig sind, nämlich, dass es sich bei Goethes "Leiden des jungen Werther" um das wichtigste Prosawerk des deutschen Sturm und Drang und, betrachtet man stilistischen Wandel der Literatur und den Wandel in den gesellschaftlichen Konventionen seit dieser Stilepoche hiernach, die Geburt des modernen Romans zumindest in Deutschland handelt, so fällt doch, so scheint es, Edgar Wibeaus persönliches Urteil in Plenzdorfs Erzählung "Die neuen Leiden des jungen W." zunächst nicht besonders gut aus. So nörgelt er denn an der Sprache des Werther herum, da sie ihm freilich nicht zeitgerecht erscheint, und kann die Tat von Goethes Helden am Ende des Buches gar nicht verstehen, dass Werther nämlich sich selbst "ein Loch durch seine olle Birne schießt"1, wie es bei Plenzdorf heißt.
Dieses Urteil teilen wohl die meisten jungen, aber auch durchaus die älteren Leser, die wie Edgar ohne konkrete Informationen und Interpretationshilfen Goethes Meisterwerk rezipieren, da ein Zugang zu diesem gut 230 Jahre alten Text ohne einige Kenntnisse doch recht schwer ist Ziel dieses Referates soll es darum sein, eine Hilfestellung für Interpretationsansätze zu leisten und einen literarischen Bezug zu Plenzdorfs Erzählung aus dem Jahre 1972 herzustellen.
2. Eine kurze Biographie Goethes
Johann Wolfgang Goethe, der am 28. August 1749 in der Freien Reichsstadt Frankfurt alsSohn wohlhabender großbürgerlicher Eltern geboren wurde, und bereits mit 27 Jahren hoher, 1782 geadelter Staatsbeamter im Fürstentum Sachsen-Weimar-Eisenach sein sollte, muss aufgrund der Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit seines Werkes als der bedeutendste Autoren der deutschen Literatur gelten. Mit Schiller bildet er das große Dichterpaar der deutschen Klassik; ihre pragmatische Freundschaft, oft geprägt durch lyrische Wettbewerbe, hat einige der schönsten Balladen der Vergangenheit hervorgebracht. Das Universalgenie Goethe konnte in seinen 83 Lebensjahren auf seinen unzähligen Interessensfeldern Maßstäbe setzen: Goethe gelangen nicht nur als Lyriker, Epiker, Dramatiker, Essayist und Romanautor hervorragende Leistungen; er war ebenso aktiv als Verfasser diverser biographischer und autobiographischer Schriften, als Literatur - und Kunstkritiker, als Maler und bildender Künstler, als Politiker bzw. Weimarer Minister, als Leiter des Weimarer Hoftheaters, als forschender Naturwissenschaftler, wobei die Breite seiner Forschungsrichtungen höchst beeindruckend ist (Physik, Anatomie, Geologie, Botanik und Meteorologie sind nur einige).
Dies soll nicht nur nebenbei erwähnt bleiben; die universelle Bildung Goethes wird in seinem literarischen Werk durchaus deutlich; so schrieb er denn auch mit "Wilhelm Meisters Lehrjahre" 1795 den ersten deutschen Bildungsroman, der dieser Bezeichnung gerecht wird.
Drei Großphasen seines Schaffens unterscheiden wir im Großen und Ganzen: den junge Goethe, den Goethe der Weimarer Zeit bis zu Schillers Tod sowie den späten Goethe.
Natürlich ist der junge Goethe vor allem der Goethe des Sturm und Drang; sein frühes Wirken fällt ganz genau in diese Zeit von etwa 1765 bis 1786.
Gerade sein Studium in Straßburg, wo er mit Herder zusammentraf, der bekanntlich mit seiner Philosophie großen Einfluss auf den Stil und Standpunkt der "jungen Wilden" hatte, ließ Goethe in jenen Ton einstimmen, den viele seiner jungen Kollegen schon verwendeten: naturhaft, subjektiv, kraftvoll, oft irrational, immer genialistisch ("Geniezeit").
Den Höhepunkt dieser Geistesepoche sollte aber Goethe auch selber bringen, nämlich mit der Publikation seines ersten Romans "Die Leiden des jungen Werther". Aber auch andere, sehr charakteristische Stoffe, brachte Goethe in dieser Periode hervor: Das patriotische Drama "Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand" (1773), das sehr provokative Schauspiel "Stella", das in der ursprünglichen Fassung am Schluss eine Liebesbeziehung zu dritt vorschlug (dies musste allerdings später vom einsichtigeren Goethe der Klassik geändert werden), die sehr empfindsame, oft naturhafte Erlebnislyrik ("Willkommen und Abschied", "Mailied"), aber auch die großen Hymnen ("Schwager Kronos", "Prometheus", "Wanderers Sturmlied").
Das erste Weimarer Jahrzehnt (bis zur Italienischen Reise) war für Goethe eine geistig überaus belastende Zeit, weil er vor allem von administrativen Aufgaben beansprucht wurde. Einige größere Werke wurden begonnen, kaum eines beendet 1786 floh er förmlich, geplagt von deutscher Beamtenpedanterie, nach Italien; der zweijährige Aufenthalt dort gab ihm schöpferische Kraft zurück sowie den Sinn für die antike Welt und ihre heroischen Sagen, Mythologien, Überlieferungen 1794 begann auch die Freundschaft mit Schiller, welche der Produktivität Goethes einen weiteren Schub verlieh. Eine Vielzahl früher klassischer Stücke entstanden: "Iphigenie auf Tauris" (1787), "Egmont" (1788) und das "Faust"-Fragment (1790).
Im zweiten Weimarer Jahrzehnt, dem eigentlichen klassischen Jahrzehnt bis zum Tode Friedrich Schillers 1805, beendete Goethe vor allem auf Drängen seines Dichterfreundes seinen vierbändigen Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre", außerdem bearbeitete er zus ammen mit Schiller die "Xenien" und schuf die großen Balladen von 1797 (z. B. "Der Zauberlehrling", "Die Braut von Korinth"), "Hermann und Dorothea", ein Versepos nach antikem Vorbild, zudem wurde "Faust. Der Tragödie erster Teil." 1806 fertiggestellt, 1808 publiziert.
Der alte, der späte Goethe führte im wesentlichen die Arbeit aus Weimarer Zeit in klassischem Stile fort; lyrische Meisterwerke wie der "West-östliche Divan" (1819) oder die "Marienbader Elegie" (1823) sind Reflexionen zu verschiedenen Liebesbeziehungen, von denen Goethe in seinem Leben recht viele geführt und gepflegt hatte; außerdem verarbeitete er Erinnerungen an seine "Italienische Reise" (1816/17), schrieb eine Fortsetzung zu "Wilhelm Meisters Lehrjahre" mit dem Titel "Wilhelm Meisters Wanderjahre" (1829); den zweiten Teil des Faust bearbeitete Goethe bis wenige Wochen vor seinem Tod.
Als er 1832 starb, hatte Goethe mit seiner Dichtkunst für den Höhepunkt der deutschen Literatur gesorgt (Begriff Klassik) und das deutsche Schriftstellertum in der "Weltliteratur" etabliert (ein Begriff, den Goethe als Kritiker 1817 selber geprägt hatte). Bis zu seinem Tod war Goethe sehr wohlhabend, doch als Dichter nie wirklich populär. Eine starke Bewusstseinswände stellte sich erst am Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein. "Faust" galt von da an als sein größtes Werk, mit dem sein Name bis heute unzertrennlich verbunden ist.
3. Eine Analyse des Romans
3.1 Die Handlung
Werther, ein bürgerlicher junger Mann, entflieht Heimat und Familie und siedelt sich in der kleinen Stadt Wahlheim an, die ihm vorher fremd war. Der erste Satz, mit dem der Roman beginnt ("Wie froh bin ich, dass ich weg bin!" 2 ) leitet bereits zum Flucht - und Ruhelosigkeitsmotiv hin, welches im Roman oft wiederkehrt und sehr charakteristisch für die Literaturepoche des Sturm und Drang ist. Der Leser erfährt (recht typisch für Form des Briefromans) nur indirekt und lückenhaft etwas überWerthers jüngere Vergangenheit, trotzdem wird schon auf ersten Seiten deutlich, dass
Werther in einer jungen Dame mit Namen Leonore Hoffnungen geweckt hat, die er nicht erfüllen konnte. Die Stadt ist ihm unangenehm, doch liebt er, wie auch andernorts, die Natur, denn schon auf den ersten Seiten wird die Kunst- und Naturverbundenheit Werthers deutlich. Werther kommt aus sehr stabilen bürgerlichen Verhältnissen und braucht deshalb keine Arbeit anzunehmen (sehr zum Verdruss seiner Mutter, die er verlassen hat, und seinem Freund Wilhelm, an den er die Briefe richtet, aus denen sich die Handlung des Romans zusammensetzt).
Werther geht also müßig und frönt der Kunst: er liebt vor allem die Malerei und liest gerne in seinem Homer, den er überall mit sich hinträgt.
Rasch findet er Anschluss an das einfache bürgerliche Stadtvolk, ko mmt auch mit gemeinen Bauernjungen ins Gespräch, die zwar sehr viel ungebildeter und sozial schwächer sind als er, aber mit denen er sich dennoch prächtig versteht, weil er sich in grundlegenden Charakterfragen sehr ähnlich mit ihnen glaubt.
Auf einem Ball begegnet er Lotte, der Tochter eines Amtsmannes, in die er sich verliebt, obwohl er weiß, dass sie in einen Mann namens Albert verlobt ist, der sich jedoch zunächst noch auf Geschäftsreise befindet.
Gemeinsame Interessen, vor allem die Liebe zur hohe n Literatur, werden bereits bei der Hinfahrt zum Ballsaal in der Kutsche deutlich; als bei einem Gewitter am gleichen Abend in einem Augenblick des Gefühlsüberschwangs Lotte eine Ode Klopstocks (nämlich das berühmte Gedicht "Die Frühlingsfeier", die aber mit Titel nicht genannt wird) anspricht, steigert sich die Leidenschaft Werthers zu Lotte noch.
Lotte und Werther verbringen nach diesem Abend viel Zeit, die nächsten 45 Tage, in inniger Freundschaft miteinander. Dann kehrt Albert kehrt zurück und Werther erkennt, dass seine Liebe zu Lotte hoffnungslos ist. Er beschließt deshalb, eine Zeit lang die Stadt zu verlassen und in den Adelsdienst zu treten, kann sich aber nicht in der höheren Gesellschaftsschicht integrieren, sodass er einen Streit mit einem vorgesetzten Sekretär anfängt, der ihm viel zu pedantische Anweisungen gibt, und beschließt, nach Wahlheim zurückzukehren, wo Lotte und Albert bereits geheiratet haben. Dort findet er auch einen von den vielen Bauernburschen wieder, der inzwischen den Liebhabe r seiner Angebeteten erschlagen hat, was Werther zutiefst rührt und mit Mitleid erfüllt, und ihn veranlasst, den Bauernjungen zu verteidigen und anzuführen, dass Mord oder Suizid manchmal der einzige Weg aus einer inneren menschlichen Krise sei. Seine Lieb e zu Lotten wird immer intensiver, seine Empfindsamkeit treibt den Stürmer und Dränger Werther immer wieder in ausweglose Leidenschaften; daher kommt es bald zu unüberbrückbaren Differenzen zwischen Albert und Werther, der darum gedanklich beschließt, Suizid zu begehen.
Kurz vor Weihnachten trifft Werther Lotte alleine in ihrem Haus; dort liest er ihr aus seiner Übersetzung des "Ossian" vor, worauf die beiden ihren Gefühlen freien Lauf lassen und sich küssen. Lotte aber reißt sich los und verbietet Werther, sie jemals wiederzusehen. Wenig später händigt Lotte Werthers Bedienten zwei Pistolen aus, die dieser sich für eine Reise seines Herrn erbittet, wobei Lotte jedoch zu ahnen scheint, was Werther vorhaben könnte. Voller Verzweiflung begeht Werther dann einen Tag vor Weihnachten Selbstmord, indem er sich mit einer der geliehenen Pistolen erschießt.
3.2 Zur Entstehung des Werkes
3.2.1 Der literaturhistorische Aspekt
Bei Goethes "Werther" handelt es ich definitiv um ein Schlüsselwerk des deutschen Sturm und Drang, eine Stilepoche, die eine Umbruchphase in der deutschen Literatur um 1775 markierte. Sie schloss sich unmittelbar an die Aufklärung an und forderte eine Abkehr von der bloßen Betonung auf Vernunft und kalten Rationalismus, wie er in der Aufklärung im Allgemeinen vertreten wurde. Bisher dominierte, aufgrund zeitlicher philosophischer Strömungen und Konventionen, der bürgerliche Glaube an Harmonie, Moral und Sittlichkeit, Rechtschaffenheit, die die Welt durchdringen, eine universale Ordnung, die bestehen sollte. Ein solch naiver Optimismus wurde von Grund auf angezweifelt von den "jungen Wilden".
Damit deuteten sie in erster Linie Rosseaus Zweifel an einer vernünftigen Natur. Rousseau, ein Philosoph der Aufklärung, der mit seiner Lehre großen Einfluss auf die neuen Geistesströmungen ausübte, hatte seinerzeit die Kluft zwischen den physikalischen Gesetzen, ihrer uneingeschränkten Geltung in der Natur und den Widersprüchen und Fehlentwicklungen der in menschlicher Gesellschaft erkannt, woraus er schlussfolgerte, dass der Mensch von Natur aus gut, die Gesellschaft, die Zivilisation dagegen schlecht und böse sein müsse. Dies äußerte sich sehr deutlich an großen, unüberwindbaren sozialen Unterschieden und Adelsschranken. Man vertrat deshalb die Haltung: Weg von der höfischen Galanterie, Wendung an das Volk. Darum tat man alles, was dem Adel verhasst war: Der weitgehend kosmopolitischen Orientierung des Hofes setzten sie die Betonung auf die nationale Kultur und die eigenen Volksüberlieferungen, die der Stürmer und Dränger ohne "künstliche" Einflüsse und gemeinhin als frisch und unangetastet betrachtete. So kam es gerade in dieser Zeit zu einer Mythologisierung von Volksüberlieferungen (auch zahlreiche Aufarbeitungen, z. B. Abenteuer des Lügenbarons Münc hhausen durch Gottfried August Bürger oder heroische Stoffe wie "Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand" von Goethe).
Die Vernunft an sich war kein fremder Begriff für den Stürmer und Dränger, nur stand er für ihn in einem anderen Sinn: für ihn geschah die Offenbarung des Vernunftprinzips (nach Kant ja das oberste Erkenntnisvermögen, das vom Verstand erfasste Erkenntnisse verbindet und Einheit von Wissen und bewusstem Handeln ermöglicht) durch die natürliche Entwicklung der "genialen" Begabung. Auch Goethe selber nannte die Zeit von etwa 1765 bis 1786 in seiner Autobiographie "Genieperiode", "in welcher eine Masse junger genialer Männer, mit aller Mutigkeit und aller Anmaßung, wie sie nur einer solchen Jahreszeit eigen sein mag, hervorbrachen, durch Anwendung ihrer Kräfte manche Freude, manches Gute durch den Missbrauch derselben manchen Verdruss und manches Übel stifteten". 3 Der Sturm und Drang war folglich keine Kritik am Vernunftgedanken an sich. So war man sich gar einig, Stürmer und Aufklärer, d ass es nichts geben darf, was einer kritischen Infragestellung durch die Vernunft entzogen wird.
Dem Prinzip der Kritik folgten auch Vertreter der Aufklärung, was eine Erklärung für Rousseaus zwielichte Rolle in europäischer Geistesgeschichte sein mag. Der eigentliche Protest der "jungen Wilden" richtete sich gegen ein einseitiges, allein auf Rationalität begründetes Menschenbild, eine dogmatische Betonung des Verstandes ohne Subjektivität: Gefordert wurde die Einigkeit, die Zusammengehörigkeit von Vernunft und Gefühl.
Stilistisch kam es zu Angriffen gegen literarische Konventionen und ästhetische Aspekte, z. B. zu einer Revolutionierung der herkömmlichen Dramenformen durch Ablehnung der Einheit von Raum, Zeit und Handlung, und der Entwicklung einer ausdrucksstarken Prosasprache statt Verse. Die Betonung lag auf dem Subjektiven, Naturgemäßen, Kraftvollen. Held unter den Charakteren war stets das Genie: vital, kompromisslos, stark, universell gebildet und intelligent, oft als Außenseiter fungierend. Zum Prototypen wurde Prometheus, der sich auflehnt gegen die Götter in der griechischen Sagenwelt, indem er den Menschen das Feuer bringt, obwohl er dazu nicht die Erlaubnis hat, wodurch es zu einem heftigen Streit mit Zeus kommt. Dazu kam eine enorme Verehrung klassischer "naturhafter" Dichtung: Die Sagen des Ossian, die Epen Homers und auch Shakespeares Dramen galten unter den Stürmern und Drängern als Pflichtlektüre.
Die gesellschaftliche Ständekritik und Auflehnung gegen die rücksichtsslose Adelshe rrschaft wird auch im "Werther" deutlich, schon allein an der Flucht Werthers vor seinen Aufgaben als Gesandter des Fürsten, die ihn zu sehr belasten, als dass er dort bleiben könnte. Aber auch in allen anderen großen Werken dieser Zeit wird die Auflehnung zu Hauptthemen verarbeitet: bei Schiller zum Beispiel muss man sich heute wundern über die Tatsache, dass er nach der ersten Aufführung von Stücken wie "Kabale und Liebe" oder "Die Räuber" nicht in ernsthafte juristische Schwierigkeiten geriet. Schließlich sind nicht wenige Autoren und Journalisten bekannt, die nach Publikationen ständekritischer Schriften lebenslänglich hinter Gitter gerieten oder gar den Tod erleiden mussten.
3.2.2 Goethes Situation
Zeitzeugen berichten, dass Goethe stets sehr garstig und schroff reagiert haben soll, wenn man ihn auf die autobiographischen Bezüge des Romans angesprochen hatte. Zeitlebens hat es diesbezüglich nur wenig konkrete Äußerungen von ihm gegeben; dabei war es schon damals für viele Rezipienten klar, dass Goethe vieles von dem, wie es im Roman beschrieben wird, eigens erlebt hatte. Die Zeit von 1772 bis 1774 war für Goethe eine sehr orientierungslose und turbulente Periode.
1772 hielt er sich im Reichskammergericht Wetzlar als Praktikant auf. Dort, in Wetzlar, kam es zur unglücklichen Liebe zu Charlotte Buff, die Goethe in Wetzlar kennenlernte auf einem nächtlichen Ball und von der er erfuhr, dass sie dieVerlobte von Kammergerichtssekretär Christian Kestner sei. Goethe besuchte die beiden nach diesem Abend recht häufig, sodass bald eine eine feste Freundschaft zwischen Charlotte Buff und Goethe entstand ; Goethe aber zerbrach daran, sich von seiner Beziehung zu der Buff nicht mehr erhoffen zu können. Die Unmöglichkeit einer Liebesbeziehung wurde von Goethe erkannt. Tief verzweifelt trat er mit dieser Erkenntnis im Herbst des Jahres seine Rückreise nach Frankfurt an. Einige Details dieser Geschichte sehr interessant: Parallelen fallen stark auf. So war auch Goethe ein begnadeter Zeichner und besaß von seiner Charlotte einen Schattenriss (genau wie Werther); die Mutter Charlottes war gestorben, worauf die Tochter sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern musste. Auch hat Werther das gleiche Geburtstagsdatum wie Goethe (28. August) und beide reisten am selben Tag von ihrer Charlotte ab (11. September). Goethe wusste ebenfalls vom Selbstmord eines Kollegen mit Namen Karl Wilhelm Jerusalem, der am Reichskammergericht arbeitete; dieser beging Suizid aufgrund einer unerwiderten Liebe zu einer Dame; wie Werther hatte er sich Pistolen von gutem Freund geliehen, nämlich von Christian Kerner, Lottes Verlobtem. Als junger Gelehrter also erfuhr Goethe, der ein Jahr zuvor promoviert war, das Missverhältnis von Gefühl und Verstand, die starre gesellschaftliche Hierarc hie und die typischen Integrationsprobleme des bürgerlichen Intellektuellen gegenüber Rationalismus und Standesschranken, am eigenen Leibe.
Circa anderthalb Jahre nach diesen Ereignissen schrieb Goethe, noch immer in schlechter Verfassung, in nur vier Wochen "Die Leiden des jungen Werther" nieder. Für ihn war dies die Befreiung von einer großen Last: "Ich hatte mich durch diese Komposition, mehr als durch jede andere, aus einem stürmischen Elemente gerettet. [...] Ich fühlte mich wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt." 4
Das Wort "Generalbeichte" beschreibt Verhältnis Leben Goethes - Romanheld Werther sehr genau; man könnte es auch so formulieren: Werther musste sterben, damit Goethe weiterleben (und weiterschreiben) konnte; denn Goethe als Vollblutdichter konnte sich nur befreien von seiner Gefühlslast, indem er seine Gedanken und bitteren Erlebnisse in einem Prosawerk verarbeitete.
3.3 Charakterisierung der Hauptpersonen
Werther ist jung und wohlhabend, da er aus einer reichen, großbürgerlichen Familie kommt. Er ist gelehrt und überaus gebildet, darüber hinaus auch künstlerisch begabt.
Er ist sehr gefühlvoll, sensibel und vital, ist aber frei von allen beruflichen und sozialen Verpflichtungen; nie ist die Rede von engen persönlichen Bindungen bzw. Bekannten- und Freundeskreisen. Werther kann als typische Genie-Figur des Sturm und Drang gelten: Er setzt das Gefühl über die Vernunft, hat wenig Sinn für materielle Werte, verachtet die uneingeschränkte Macht des Adels und hat enorme Integrationsschwierigkeiten im gesellschaftlichen Leben.
Charlotte ist eine schöne, gebildete junge Frau, die verantwortungsbewusst nach den Tugenden handelt, die sich für eine Frau aus bürgerlichen Kreisen ziemen, so etwa d ie Erziehung der Kinder ihrer verstorbenen Mutter. Sie hat die gleiche Vorliebe für Literatur, Tanz und Musik wie Werther, ist zunächst aber mit Albert verlobt, später verheiratet. Nicht nur positive Charaktereigenschaften, sondern auch Geschwätzigkeit und Koketterie werden an einigen Stellen deutlich.
Albert fungiert als Gegenbild zu Werther, als Verkörperung des aufgeklärten deutschen Kleinbürgertums: Er ist vernünftig, ordentlich, gefühlsmäßig beherrscht, sich an geltende Konventionen unkritisch anpassend und rechtschaffend. Er steht sowohl in Freundschaft (durch die Vermittlung Lottens) als auch in Rivalität zu Werther.
So stehen sich Albert und Werther auch stets bei Diskussionen mit gegensätzlichen Ansichten gegenüber (beispielsweise im Streit um die Legitimation des Selbstmordes). Werther ist der Ansicht, dass Selbstmord durchaus legitim sei, wenn ein Mensch (wie er) innerlich so zerrüttet ist, dass er des lästigen Lebens müde wird.
Albert dagegen meint, ein Suizid sei nicht zu rechtfertigen: man drücke sich so vor seinen gesellschaftlichen Pflichten und verachtet das wertvolle Leben, das Gott dem Menschen geschenkt hat.
3.4 Sprachlicher Stil und Form
Der gesamte Roman ist geprägt von einer ausdrucksstarken, emotionalen Prosasprache und einer höchst subjektiven Betonung des Gefühls und ist daher nahe am Stil der Empfindsamkeit.
Wenn Edgar Wibeau in Plenzdorfs "Neuen Leiden" behauptet: "Leute, das konnte wirklich kein Schwein lesen. Beim besten Willen nicht. [...] Das war nichts Reelles. Reiner Mist. Außerdem dieser Stil. Das wimmelte nur so von Herz und Seele und Glück und Tränen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass welche so geredet haben sollen, auch nicht vor drei Jahrhunderten." 5, dann entspricht diese Feststellung wohl weitgehend dem Urteil der meisten Jugendlichen, die in der Oberstufe gezwungen werden, Goethes Meisterwerk zu rezipieren. Für damalige Verhältnisse war Werthers Sprache dennoch etwas neues, ja nie zuvor dagewesenes: auch wenn sie für heutige Verhältnisse sehr hochtrabend, sehr fern vom Alttäglichen erscheint, so war sie damals doch ein Skandal zumindest in bürgerlichen Kreisen; ganz einfach daher, weil der Stil eine Abkehr von den sprachlichen Prinzipien war, die zum Beispiel Gellert, Goethes ehemaliger Lehrer, folgendermaßen auf den Punkt brachte: "Wer seine Gedanken gut ausdrücken will, muss die Sprache in der Gewalt haben." 6
Es war also stets Sitte für den Autor, den guten Ausdruck, den guten Ton zu wahren; hiervon distanziert sich Goethe aber ganz bewusst, als Stürmer und Dränger freilich aus Überzeugung. Der Einfluss Herders, mit dem Goethe in Straßburg Freundschaft geschlossen hatte, wird hier sehr deutlich. Seine Kritik an einer sprachlicher Pedanterie, wie in weiten Teilen der Gesellschaft vorherrschte, stieß bei den Stürmern und Drängern auf breite Zustimmung: "Wir sehen und fühlen kaum mehr, sondern denken und grübeln nur; wir dichten nicht über und in lebendiger Welt, im Sturm und im Zusammenstrom solcher Gegenstände, solcher Empfindungen; sondern erkünsteln uns entweder Thema, oder Art, das Thema zu behandeln, oder gar beides." 7
Goethe lässt seinen Helden diese Kritik auch selber formulieren: "Was ich dir erzähle, ist nicht übertrieben, nichts verzärtelt, ja ich darf wohl sagen, schwach, schwach hab' ich's erzählt und vergröbert hab' ich's, indem ich's mit unsern hergebrachten sittlichen Worten vorgetragen habe." 8
Der "Werther" besteht aus zwei Büchern. Im ersten Buch oder Teil ist die Handlung von der Ankunft Werthers in Wahlheim bis zu seiner Abreise und seinem Eintritt in den Adelsdienst geschildert; im zweiten Buch setzt die Handlung am Hofe des Fürsten ein, bis zum Suizid. Der Roman besteht durchweg aus Briefeintragungen, die an Werther an seinen Freund Wilhelm richtet und die nicht beantwortet werden, das heißt der Leser bekommt die Briefe Wilhelms nicht zu Gesichte; Werther allerdings reagiert auf Stellungnahmen von Wilhelm oft in Form von Briefen; das belegt, dass es durchaus einen gegenseitigen Briefverkehr zwischen beiden gegeben hat, aber sind eben nur Werthers Briefe durch den fiktiven Herausgeber (Wilhelm) abgedruckt. Dies hat eine Absolutierung von Werthers Gemütszustand zur Folge, die wiederum zu einer monologischen Erzählweise führt, da nur Werther als Erzähler in Erscheinung tritt und seine Gefühle offenbart.
Werthers Briefe an Wilhelm sind als Teile eines Puzzles zu lesen, das der Herausgeber zu einem Bericht chronologisch zusammengefügt hat. Dieser fügt am Anfang, am Ende und auch zwischendurch Kommentare ein, um die Handlung abzurunden, dem Leser die Verständlichkeit zu erleichtern und ihn durch das Geschehen zu führen.
Trotzdem unterscheidet sich der "Werther" gerade auch in seiner Struktur, Form und Komposition von den herkömmlichen, zuvor erschienenden Briefromanen. Das Genre war keineswegs neu, im Gegenteil zu jener Zeit recht beliebt; aber die radikal monologische Form war durchaus revolutionär.
Ist die Sprache des "Werther" sehr empfindsam und subjektiv gehalten, so sind Zeitstruktur, Beziehung der Breife zueinander sowie parallele Handlungen genauestens und sehr kunstvoll komponiert. Verfolgen wir, um dies zu verdeutlichen, wenigstens die Zeitstruktur am ersten der zwei Bücher: Der Aufbau des ersten Buches lässt sich klar in drei Felder unterteilen für einen Zeitabschnitt von etwa drei Wochen. Die Exposition bilden die ersten zehn Briefe vom 4. bis zum 30. Mai, nachdem Werther in Wahlheim angekommen ist. Es sind keine großen Zeitabstände zwischen diesen Briefen zu bemerken, was auf eine relative Ausgeglichenheit Werthers schließe n lässt. Darauf folgt eine große Unterbrechung von zwei Wochen, danach folgt ein umso längerer Brief, der längste im ganzen Buch, der vom Treffen mit Lotten handelt. In der folgenden Zeit sind die Zeitabstände schwankend, was eine euphorische Stimmung des Helden offenbart. Am 30. Juli steht die Ankunft Alberts an: in dieser Zeit findet der Leser ebenfalls eine unregelmäßige Abfolge von Briefen vor. Man kann allein deshalb auf eine zunehmende Melancholie Werthers schließen.
Auch Parallelgeschichten fügt der Autor bei: Besonders stark tritt dabei die tragische Geschichte um Bauernburschen hervor. Darin spiegelt sich Werthers Schicksal wieder und wird auch noch ausgeweitet und verallgemeinert: Werther lernt einen Bauern kennen in einem noch relativ ausgeglichenen Gemütszustand. Dieser Bauernbursche schildert Werther seine Liebe zu seiner Herrin. Werther ist gerührt; für ihn ist der Ton, mit der der Bauernbursche seine Gefühle offenbart, Ausdruck einer tiefen, ehrlichen Leidenschaft. Zugleich nimmt der Bauer ei ne Vorbildrolle für Werther ein, da er nicht imstande ist, ähnlich naiv und natürlich zu handeln und zu sprechen. Später, als der Bauernbursche den Geliebten seiner Herrin erschlägt, ergreift Werther als einziger Partei für ihn.
3.5 Die Rezeptionsgeschichte
Kurz nach der Veröffentlichung von Goethes Roman kam es zum Ausbruch eines regelrechten "Werther-Fiebers": Die Kleidung (gelbe Hose, gelbe Weste, blauer Rock), die Reden sowie die Sitten der Figur wurden nachgeahmt; auch wurden zahlreiche Selbstmorde im Werther-Stil (bei den jeweiligen Leichen wurden Ausgaben des "Werther" gefunden) begangen, sodass Goethe sich gezwun- gen sah, der zweiten Auflage des Romans im Jahr 1775 die Warnung "Sei ein Mann, und folge mir nicht nach!" hinzuzufügen. Das Publikum erkannte das Buch früh als einen Roman gegen alle geltenden Normen, darum wurde er gerade in der Jugend sehr schnell beliebt. Kirche, Adel und weite Teile des frommen Bürgertums waren jedoch empört: So äußerte gerade diese Schichten Kritik an der Verherrlichung des Selbstmordes und an der Störung des Ehefriedens, die sie in Goethes Roman sahen.
Die Skepsis der Aufklärer an Goethes Werk ist eng verbunden mit der zeitbedingten Auffassung der Funktion von Literatur, anglehnt an Forderung Horazs, dass Litera tur erfreuen und nützlich sein, also sowohl Unterhaltungswert als auch Moral enthalten müsse; diese Funktion vermisste man im "Werther". Lessing zum Beispiel forderte außerdem, dass der Autor, schreibe er schon etwas so provokatives und zugleich triefgründ iges, dann aber auch zumindest am Ende in Erscheinung treten und klarstellen müsse, wie Werther einzuschätzen sei; er solle ihn bewerten und eventuell aufzeigen, was seine Hauptfigur falsch gemacht habe. Dies aber hatte Goethe bewusst unterlassen, was freilich für revolutionär und umso provokanter gehalten wurde. Allein, Goethe wurde mit seinem ersten Roman über Nacht berühmt; hohe Auflagen allein des "Werthers" garantierten ihm lebenslangem Wohlstand. Bis heute gilt "Die Leiden des jungen Werther" als bedeutendstes Werk des Sturm und Drang und als eigentliche Geburt des modernen Romans in Deutschland.
3.6 Interpretationsansätze
Für Goethes Werk bieten sich viele unterschiedliche Interpretationsansätze, je nach Erwartung und Standpunkt, an; freilich aufgrund der Vielschichtigkeit und dem zeitgenössischen Charakter des Werkes. Zwei der wichtigsten Ansätze sollen hier kurz vorgestellt werden.
Die geistesgeschichtliche Interpretation sieht ein literarisches Werk vordergründig als Dokument, als Primärquelle, die die zentralen Ideen und Motive einer geistesgeschichtlichen Epoche dem Rezipienten direkt offenbart. Diese Methode sieht Werther als tatkräftiges, emotionales Sturm - und-Drang-Genie, der sich isoliert und eingeschränkt fühlt in seiner Umwelt und leidet an den Grenzen und Schranken, die die Gesellschaft ihm stellt, was sich negativ auf seine enorme Schöpferkraft auswirkt (hierbei sei noch einmal betont, dass Werhter durchaus viel Potenzial, vor allem im künstlerischen Bereich aufweist, jedoch aufgrund der finanziellen Lage der Familie nicht arbeiten muss; er geht müßig; wichtig für den Vergleich mit der Figur Edgar Wibeau bei Plenzdorf im nächsten Punkt). Vor allem die Zurückweisung durch Charlotte und pedantische Adelsdienste belasten ihn. Er selbst setzt das Gefühl vor die Vernunft. Darin zeigt sich ein extremer Subjektivismus, der im Selbstmord Werthers zwar starken Ausdruck fand, jedoch auch die Erlangung des Naturrechts auf Freiheit symbolisierte, die die "jungen Wilden" forderten und die etwa 15 Jahre später in der französischen Revolution pragmatisch erkämpft wurde. Der Selbstmord wird also im "Werther" als einziger Ausweg beschrieben, dem "Kerker" des Lebens zu entfliehen. Der Konflikt zwischen Albert und Werther ist, folgt man dieser Interpretation, nicht nur eine bloße Rivalität um Lottes Liebe, sondern ebenfalls ein Bezug zum Kampf zwischen der braven, vernünftigen Aufklärung und den "jungen Wilden": Stabilität, Verstand und Sittlichkeit versus Emotionalität, Reform und Auflehnung. Als Beispiel kann hierbei die Diskussion Werthers mit Albert um das Recht auf Suizid gelten.
Die psychoanalytisch orientierten Interpretationen sind zum Beispiel von den Theorien Freuds geprägt, der schrieb: "Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigten Wirklichkeit." 9 Es liegt nahe, Feststellungen wie diese auf das Verhältnis Autor-Werk zu übertragen, das heißt, viele Literaturwissenschaftler lassen aus der Interpretation eines literarischen Textes Rückschlüsse auf die psychische Befindlichkeit des Autors zu. Nun sind wir oben bereits auf die recht schwierige Gemütslage des jungen Goethe zur Entstehungszeit seines Romans eingegangen. Da das Werk ganz offensichtlich autobiographische Züge aufweist, scheint eine Methode wie diese zur Interpretation durchaus legitim.
4. Ein literaturtheoretischer Vergleich mit Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W."
Nachdem wir nun auf Goethes "Werther" eingegangen sind, was unbed ingt nötig ist, um ein tieferes Verständnis von Plenzdorfs Erzählung zu ermöglichen, ist nun die Grundlage für einen Vergleich mit den "Neuen Leiden des jungen W." geschaffen.
4.1 Der soziokommunikative Kontext
Zwei Aspekte interessieren uns hier ganz besonders: Die Situation der Jugend in der DDR und natürlich die kulturpolitische Situation in der Deutschen Demokratischen Republik.
Zunächst einmal zur Situation der Jugend: Das Hauptmotiv ostdeutscher Bildungs - und Erziehungspolitik vor 1989/1990 ist weithin bekannt, nämlich eine extreme Tendenz zur Beeinflussung und Integration Kinder und Jugendlicher in das öffentliche Arbeits - und Alltagsleben der Erwachsenen. Jugendliche zwischen vierzehn und zwanzig Jahren wurden freilich schon als junge Sozialsten und Träger des sozialistischen Staatssystems gesehen und erkannt; es ist darum logisch, dass die angehenden Erwachsenen durch starke Einbindungen in staatliche Organisationen und Verbände sowie andere Gemeinschaften an einer tendenziellen Abweichung vom staatlich vorgeschriebenen Kurs und individueller Persönlichkeitsentwicklung gehindert werden sollten. Die allgemein gültige Ideologie des Kommunismus sollte so auch in den Köpfen der Jugendlichen reifen. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, die das diktoriale System führt und formt, erwartete von den Jugendlichen stets Aufnahmebereitschaft, Affirmation und Gehorsam; Abweichler, in welcher Form auch immer (Rowdies, landstreichende Jugendliche, westlich orientierte junge Leute oder einfach Zweifle r und Kritiker) wurden ungern gesehen, von der Gemeinschaft ausgestoßen oder auch bestraft. Die Ziele, die mit dieser Politik verbunden waren, führten zu einer starken Rolle der Jugendpolitik in der DDR und zu hohen pragmatischen Anforderungen an die Jugend.
Zitat aus dem Jugendgesetz der DDR von 1974:
Die Jugend hat "die Aufgabe,
aktiv an der Gestaltung der sozialistischen
Demokratie mitzuwirken und ihre Fähigkeit zur Teilnahme
am politischen und gesellschaftlichen Leben zu erhöhen." 10
Im "Kleinen politischen Wörterbuch der DDR 1982" heißt es: "Die Entwicklung des Menschen zur sozialistischen
Persönlichkeit kann nur in der Gemeinschaft und durch diese geschehen. Die
Tätigkeit des einzelnen zum Nutzen der Gesellschaft ermöglicht es dieser erst, alle Bedingungen zur Entfaltung der Persönlichkeit zu schaffen." 11
In der Statistik geht man davon aus, dass circa 2,3 Millionen junge Menschen zwischen 14 und 25 Jahren und somit mehr als zwei Drittel jener Altersgruppe 1972 Mitglied der FDJ waren (Mitgliedschaft freiwillig, meist Vorraussetzung zum Besuch einer Erweiterten Oberschule, Abitur, Studium). Im Allgemeinen fand an ostdeutschen Schulen und Lehrbetrieben stets eine autoritäre Erziehung statt; zentrale Werte wie Pünktli chkeit, Gründlichkeit, Leistungsbereitschaft, Ordnungsliebe, usw. wurden durch verschiedene Arten der Unterweisung vermittelt.
Die kulturpolitische Situation lässt sich so beschreiben: Anfang der siebziger Jahre kam es zu einer politischen "Tauwetterperiode" unter neuer Führung Erich Honeckers, hervorgerufen durch Entspannungen in den innerdeutschen Beziehungen und dem relativen Status quo der politischen Staaten, der sich bald auch auf die Kultur überträgt.
Wir können inflgedessen eine Wendung hin zur kr itischen Stellungnahme von Schriftstellern und Intellektuellen beobachten; viele von ihnen entfernten sich vom (lange Zeit vorgeschriebenen) sozialistischen Realismus, mit einem zentralen sozialistischen Helden in Romanen und Erzählungen, die marxisitische Ideale auf den Rezipienten übertragen sollten. Es kam Anfang der Siebziger zu einer Lösung von diesem starren Schema und zu einer Theamtisierung von gesellschaftlichen Konflikten; diese Entwicklung wurde auf dem 8. Parteitag der SED 1971 weitgehend akzeptiert und mitgetragen, was Autoren wie Ulrich Plenzdorf die Gelegenheit gab, Texte mit anderen Tönen zu veröffentlichen (Plenzdorf beispielsweise hatte "Die neuen Leiden des jungen W." schon 1968 geschrieben). Zwei Jahre später aber wurden die Töne der Poli tiker wieder heftiger. Honecker meinte in Bezug auf die literarischen und filmischen Tendenzen auf der 9. Tagung des Zentralkommitees 1973:
"Die in verschiedenen Theaterstücken und Filmen dargestellte Vereinsamung und Isolierung des Menschen von der Gesellschaft macht deutlich, dass die Grundhaltung solcher Werke dem Anspruch des Sozialismus an Kunst und Kultur engegenstehen." 12
Von da an folgten immer wieder Versuche von Politikern, der kulturpolitischen Entspannung entgegenzuwirken, um mehr Kontrolle über die Arbeiten der Künstler zu gewinnen, was mit einigen Ausweisungen und Haftstrafen, vor allem über Autoren (z.B. Wolf Biermann oder Günther Kunert) auch weitgehend erreicht wurde. Wir sehen also durchaus einen Vergleich zur gesellschaftlichen Situation in der Sturm-und-Drang-Zeit, wenn wir an die Einschränkung der Individualität des jungen Menschen und gerade auch an freie Entfaltung des Geistes denken. Es verwundert also nicht, schon in Bezug zur Hauptfigur Edgar, dass viele Jugendliche leiden an den rigiden Anpassungszwängen und Anforderungen in einer Zeit, in der (wie Goethe es in seinem "Werther" beschreibt) die Leute offenbar nur noch leben, um zu arbeiten und sich vor der eigenen Freiheit zu fürchten scheinen.
Parallelen gibt es auch in Hinsicht der Situation des Dichters: Plenzdorf litt, gerade vor dem 8. Parteitag, mit vielen anderen kritischeren Stimmen der ostdeutschen literarischen Szene an der harten Zensur und an anderen Nachteilen, die Autoren erfuhren, deren Werke nicht der Kunstauffassung der SED-Führung entsprachen; wobei andere Schriftsteller, darunter einige Opportunisten, neutrale Werke oder verherrlichende Texte veröffentlichen durften, die nicht beschnitten wurden. Klare Vorteile erfuhren auch Autoren, die in der SED aktiv waren, z. B. Christa Wolf oder Jurek Becker. Wer sich also nicht an vorgegebene Koventionen (literarisch wie gesellschaftlich) hielt, konnte nicht mit viel Zuspruch und Akzeptanz rechnen.
4.2 Die Rezeption der Erzählung
Im März 1972 erschien Plenzdorfs Prosaerzählung, die ursprünglich ein Drehbuch für einen Film werden sollte, in der Zeitschrift "Sinn und Form". Seit Sommer desselben Jahres wurde das gleichnamige Stück, das Plenzdorf schrieb, bevor er es zu einem epischen Werk verarbeitete, an 14 verschiedenen Bühnen gespielt, was einen sensationellen Erfolg darstellte, da auch die Resonanz beim Publikum überwältigend ausfiel. Doch viele offiziöse DDR -Kritiker äußerten sich skeptisch und zurechtweisend; schließlich ging es aus Parteisicht um keine allzu geringen Gefahren: Subjektivismus, Normenfeindlichkeit, Kritik an der im Literaturunterricht vergötterten und idealisierten Vorbildkultur (wobei im Nachhinein freilich festgehalten werden muss, dass dem sozialistischen Kunstliebhaber sehr viel an Goethes "Werther" gelegen war; schließlich sah man in der Literatur der "jungen Wilden" eine Auflehnung gegen das verhasste feudale System). Natürlich fürchtete man auch darum, dass klassische Tugenden verloren gehen durch die Darstellung der Verwahrlosung,des Müßiggangs und der Abkapselung von Familie und Freunden. Diese fachlichen Stimmen aber hatten kein Gewicht gegen die eigentliche Leserschaft, die vor allem aus Jugendlichen bestand: In einer Umfrage der FDJ-Zeitschrift Forum gaben immerhin 40 Prozent der Befragten an, sie teilten die Kritik des Helden Edgar; 60 Prozent gaben sogar an, gerne mit Edgar befreundet sein zu wollen.
Für die Parteiführung war also etwas eingetreten, was ihr höchst zuwider war: eine falsche Identifikationsfigur war für die Jugend des Land es populär geworden, woraus man schlussfolgern musste, dass Plenzdorf es tatsächlich vermocht hatte, den Zeitgeist der jugendlichen Szene zu treffen und ihr eine Stimme zu geben. Für viele Literaturhistoriker ist es noch immer ein Rätsel, dass die DDR-Führung nicht schroff reagierte und die Aufführung des Stückes sowie den Verkauf des Buches verbot.
Wir erkennen also auch hier, bei der Wirkung der "Jungen Leiden", deutlich Parallelen zum "Old Werther" von Goethe: Bei beiden Werken gab es nach der Veröffentlichung viele Kontroversen und Diskussionen um moralische Dekadenz, Entsittlichung, gefährliche Einflüsse auf die Tugenden des Volkes, Forderungen nach einem Verbot, usw.
4.3 Sprachlicher Stil und strukturelle Form
Beim sprachlichen Stil können wir wohl auf Anhieb die größten Differenzen erkennen, wenn wir nur einmal zwei Textstellen einfach gegenüber stellen, in denen beide Hauptfiguren direkt von ihren Gefühlen Charlotte bzw. Charlie gegenüber berichten.
Goethes "Werther": "Nein, ich betriege mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, dass sie - o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? - daß sie mich liebt! Mich liebt! - Und wie wert ich mir selbst werde, wie ich - dir darf ich's wohl sagen, du hast Sinn für so etwas - wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt!" 13
Plenzdorfs "Neue Leiden": "Ich musste an Charlie dranbleiben. An Charlie lag mir was, aber das sagte ich wohl schon. In so einem Fall muss man dranbleiben. Ich seh' mich noch neben ihr hocken in diesem Auslauf, und die Gören spielten um uns rum. Charlie häkelte. Ein Idyll, Leute. Fehlte bloß noch, dass ich meinen Kopf in ihrem Schoß hatte." 14
Hier sieht man ganz deutlich, dass die Entstehungszeiten der beiden "W's" zweihundert Jahre auseinanderliegen. Natürlich sind beide epischen Werke jeweils durch ganz andere Sprachstile gekennzeichnet. Gemeinsam haben sie allerdings die Neuheit, das fast revolutionäre, das ich schon oben schon bei "Old Werther" versucht habe zu erklären. Zwar ist die Tatsache im Allgemeinen bekannt, dass seit J. D. Salingers "The Catcher in the Rye" (auf das Edgar sich auch selber bezieht, ohne den Titel des Buches zu nennen, was einmal mehr seinen lockeren Bezug zur Literatur klar werden lässt) jener derbe, jugendliche Umgangssprachstil, den Plenzdorf hier anwendet, in der internationalen Literaturszene nichts neues mehr; diesem Stil bedienten sich seit den frühen 50ern genügend junge Autoren vor allem in der westlichen Hemisphäre (Salinger hatte für diese Richtung Ende der vierziger Jahre eine Vorreiterrolle gespielt; dieser Aspekt ist überaus wichtig für die "Inhaltlichen Überschneidungen" unter dem vierten Punkt). Aber im sozialis tischen Ostdeutschland, wo für gewöhnlich Bücher wie "Der Fänger im Roggen" mit einem depressiven und egoistischen Hauptcharakter als Romanhelden nicht als Schulliteratur galten, reagierten sowohl Fachleute als auch die gemeine Bevölkerung sehr erstaunt auf jene neuen Töne, die Plenzdorf hervorbrachte. Man las zwar in der Freizeit durchaus Bücher von ausländischen Autoren, die gut ankamen (Edgar, der sich von Holden so sehr angesprochen fühlt, dass er sich wünschen würde, mit "diesem Salinger" mal zu telefonieren, verdeutlicht uns das); aber diesen Büchern heftete der Status des kapitalistisch-westlichen an; wenn man also die Geschichte Holden Cauldfield las, der sich Huren bestellt, sich gerne besäuft und ganze Schachteln Zigarretten in wenigen Stunden verbraucht, die Schule aufgrund miserabler Leistungen schwänzt und sich von seiner Umwelt isoliert, dann hatte man immer im Hinterkopf, dass das Ganze ja von den dekadenten Amerikanern verfasst worden war, bei denen sowieso alles drunter und drüber gehe.
Aber nun, da derartige "Pamphlets" auch im Land des real existierenden Sozialismus verfasst wurden von ostdeutschen Autoren, musste vielen harten Parteifunktionären den Verdacht nahe legen, dass westliche Verhältnisse nun auch im eigenen Land Einzug hielten. D ie sehr subjektiv gehaltene Sprache Plenzdorfs folgt also gewissermaßen ebenso Goethes Vorstellung von einer reinen Sprache, ja kommt dieser sogar noch näher, wenn man sich Goeths Forderung noch einmal ins Gedächtnis ruft: Nämlich so zu schreiben, wie es der wahren Gefühlsregung entspricht, nicht gekünstelt und hochtrabend, sondern mit möglichst einfachem Ausdruck.
Die erzählerische Struktur ist überaus geschickt angelegt: Plenzdorf spielt geradezu mit diversen Montage- und Flashbacktechniken: das Buch beginnt mit drei Zeitungsartikeln, die vom Tod Edgars berichten, dann folgt ein Gespräch zwischen seinem Vater und seiner Mutter ohne Kommentar des Erzählers (also als szenisches Erzählen). Erst an einem bestimmten Punkt schaltet sich dann Edgar, der Ich-Erzähler, ein, was schon fast etwas mystisches in die Geschichte trägt, da wir wissen, dass Edgar nicht mehr am Leben und alles was er berichtet in der Vergangenheit geschehen ist. Obwohl er auch im folgenden Erzählvorgang seinen Ich-Bericht immer wieder unterbricht, um den Leser auf weitere Dialoge in der Gegenwart zu verweisen, auf die Edgar faktisch herabschaut, also vom sogenannten "olympischen Erzählstandort" als allwissender Erzähler auf die übrigen Figuren blickt, entwickelt sich, wenn auch von vielen Rückblenden geprägt, eine sehr überschaubare chronologische Handlung bis zu Edgars Schilderung seines eigenen Todes, die sehr viel mehr Licht ins Dunkel bringt, da der Leser wie auch die anderen Figuren nicht wissen, was Edgar denn genau wiederfahren ist.
Wir stellen folglich auch hier Parallelen fest zur Form des Goetheschen Romans in Bezug auf den sehr monologisierten Charakter des Buches.
4.4 Inhaltliche Überschneidungen
Ich möchte diesen Punkt unter drei Teilaspekten analysieren, da ich dies für übe rsichtlicher halte: Die Hauptfiguren, Inhaltliche Parallelen an zwei konkreten Textbeispielen sowie sonstige Überschneidungen.
4.4.1 Die Hauptfiguren
Zunächst zu den jeweiligen Hauptfiguren Edgar Wibeau bzw. Werther.
Wir wissen von der hohen Intelligenz und Bildung Edgars: Der Erzähler Edgar teilt der Leserschaft mit, dass er am Ende seiner Schullaufbahn einen Notendurchschnitt von 1,1 hatte; ehemalige Mitschüler wie Wilhelm kommen zu Wort, die von einer regelrechten Leichtigkeit sprachen, mit der Edgar alles lernte und anwendete; außerdem berichtet Edgar von seinen Privilegien als Einserkandidat, z.B. bei der Vorführung des Erziehungsfilms, den man im Betrieb gezeigt hatte.
Auch von Werthers Bildungs- und Gelehrtenstatus wissen wir; bei Goethe gehörte die Rolle des Genies zum Geist der Zeit: Werther gilt unter den vielen Charakteren, die in Sturm -und-Drang-Zeit entwickelt wurden, wie Karl Moor in Schillers "Räubern", Götz von Berlichingen in Goethes gleichnamigem Schauspiel, oder dem Ferdinand in "Kabale und Liebe" (um nur einige zu nennen, die nach jenem gleichen Heldenbild konzipiert waren), als Prototyp und Schlüsselfigur unter ihnen.
Zu den Eigenschaften des Genies zählte aber auch die (oft ungehobelte) Auflehnung gegen verstaubte und rationale Wertevorstellungen; das trifft auf Edgar mehr als eklatant zu: Wie Werther reißt er einfach aus, verlässt Heimat und Familie, allerdings mit ganz anderen Erwartungen bezüglich seines Zielortes (statt nach Land und Natur wie Werther sehnt sich Edgar vielmehr nach dem aufregendem Großstadtleben in Berlin, wo "was los ist"; das lässt den Leser um die Tristesse wissen, mit der Jugendliche dem öden Dorfleben in der DDR begegneten und welche Gelüste sie tatsächlich antrieben, S.33); das alles geschieht, nachdem er seinem Ausbilder eine Betonplatte auf den Fuß geworfen hatte; in Berlin lebt er nichtstuerisch und trägt gammlige Kleidung, will sich lange Haare wachsen lassen (was auch so eine Sache war in der DDR) und liebt Jeans über alles. Kurz: Edgar schmeißt einfach alles hin (Lehre, Familie, Heimat), um ein entspanntes Leben zu führen; für sich, ganz individuell, fern von allen Vereinen, Organisationen und Verbänden. Dabei hat er politisch-ideologisch betrachtet keine ablehnende Haltung gegenüber dem Sozialismus eingenommen: "Ich hatte nichts gegen Lenin und die. Ich hatte auch nichts gegen den Kommunismus und das, die Abschaffung der Ausbeutung auf der ganzen Welt. Dagegen war ich nicht. Aber gegen alles andere. Dass man Bücher nach der Größe ordnet zum Beispiel."
Auch Werther äußert keine fundamentale Kritik an Ständeunterschieden des achtzehnten Jahrhunderts: "Ich weiß wohl, dass wir nicht gleich sind, noch gleich sein können; aber ich halte dafür, dass der, der nötig zu haben glaubt, vom sogenannten Pöbel sich zu entfernen, um den Respekt zu erhalten, eben so tadelhaft ist, als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde verbirgt, weil er zu unterliegen fürchtet." 15 Der Bildungsstand Werthers ist auch erkennbar an der Tatsache, dass er klassische Schriften wie die Epen Homers aus der altgriechischen und die Gesänge des Ossian aus der altenglischen Sprache übersetzt; gerade von den Werken jener Autoren, die in der Sturm-und-Drang-Zeit einen besonderen Status unter den jungen Wilden einnahmen, schwärmte Werther in hohem Grade.
Ein Vergleich mit dem Lieblingsautor Edgars, Salinger, scheint hier zunächst unpassend, da es auf ersten Blick keine Gemeinsamkeiten zu entdecken gibt zwischen der Rezeption der "Ilias" und "The Catcher in the Rye", aber erstens spielt auch jene natürliche Empfindsamkeit, die beide Figuren am Stil ihrer Lieblingsautoren fühlen, eine wichtige Rolle, sowie die Sprache in Goethes und Plenzdorfs Werk, mit der die Protagonisten ihre Lektüre und die Autoren verehren. Zu Charlie bzw. Charlotte:
In beiden Werken sind die entsprechenden Charaktere sehr kinderlieb: Lotte hat in Goethes Roman beim Tod ihrer Mutter die Verantwortung für ihre neun Geschwister übernommen, Charlie selber ist bei Plenzdorf Kindergärtnerin.
Beide sind bereits eine engere Liebesbeziehung mit anderen Protagonisten eingegangen, wenn Edgar bzw. Werther ihre "Objekte der Begierde" kennenlernen: sowohl Lotte als auch Charlie sind zunächst verlobt mit Edgar bzw. Albert; danach, nach längerem Aufenthalt des Helden in Berlin bzw. Wahlheim, heiraten sie.
Zu Dieter bzw. Albert:
Beide Charaktere sind sehr vernunftbetont und strebsam gezeichnet worden von den Autoren:
Dieter kehrt nach einem langen Aufenthalt beim Militär zurück nach Berlin, um Germanistik zu studieren (lange Laufbahn bei Armee diente vor allem dazu, das Studium zu finanzieren durch viel Hilfe vom Staat, was von geringem sozialen Status Dieters in relativem Gegensatz zu Albert kündet); weil er schon 25 Jahre alt und damit ältester Student seines Jahrgangs ist, muss er ums o härter arbeiten.
Auch Albert geht seinem Beruf mit viel Disziplin und Ordnungsbewusstsein nach, sodass in einigen Szenen, wie auch in den "Neuen Leiden", eine Atmosphäre der kühlen Distanz zwischen Lotte und Dieter geschaffen wird, da Lotte bzw. Charlie sich von ihren Ehegatten vernachlässigt fühlen.
Zu Willi bzw. Wilhelm:
Hier sind die Parallelen wie bei Charlotte und Charlie direkt am Wortlaut des Namens erkennbar. In beiden Büchern ist Willi bzw. Wilhelm bester Freund des Helden.
In Goethes Werk tritt Wilhelm gar nicht in Erscheinung, es wird auch wenig vom Ich-Erzähler über ihn berichtet, da dieser ja die Briefe, aus denen der Roman im Wesentlichen besteht, an Wilhelm sendet. Bei Plenzdorf tritt Willi durch einen Dialog mit seinem Vater in Erscheinung und durch Kommentar des Erzählers.
4.4.2 Inhaltliche Parallelen am konkreten Textbeispiel
Wir betrachten im Folgenden zwei Szenen, die sich inhaltlich sehr stark ähneln, nämlich der Teil, in dem sich Werther und Charlotte bzw. Edgar und Charlie zum ersten Mal begegnen. In Goethes Roman schildert Werther sehr ausführlich im Brief vom 16. Juni. Er gibt darin jedoch noch keine direkte Liebeserklärung ab; vielmehr verfällt er in pathetische Schwärmereien.
Rekapitulierend berichtet Werther im längsten Brief des Romans von der Fahrt zu einem Ball mit der Kutsche, in der auch Charlotte mitkommt; als die Fahrgemeinschaft auf Lottens Hof wartet, schaut sich Werther ein wenig um und entdeckt Lotte dabei, wie sie an ihre Geschwister Brot verteilt. Später am Abend erfährt Werther, dass Lotte mit Albert verheiratet ist. In der Nacht während einem Gewitter treten die Gefühle der beiden Charaktere deutlicher hervor, erreichen einen Höhepunkt bei Lottens Erwähnung der Ode Klopstocks.
Bei Plenzdorf ist Charlie eine selbstständige Kindergärtnerin, die, genau wie Lotte in Goethes Roman von einer Schar Kindern umringt ist (Charlie heißt im Übrigen auch Charlotte, nur passt Plenzdorf den Namen dem Geiste der modernen Zeit an). Auch hier empfindet die Hauptfigur Edgar sofort starke Gefühle für Charlotte.
Als Charlotte ihn bald darauf bezüglich eines Wandbildes besucht, beginnt Edgar mit ihr zu flirten, wobei er dem Leser aber im Nachhinein offenbart, dabei befürchtet zu haben, Maulschellen zu bekommen. Die Parallelität zu Goethes Roman tritt hier stark hervor, in dem Werther während eines Zählspiels, das Charlotte mit allen Tanzenden veranstaltet, um von der Angst vor dem Gewitter abzulenken, zwei Ohrfeigen bekommt, allerdings nur im Sinne der Spielregeln. Ein paar Tage später fertigt Edgar dann einen Schattenriss von seiner Charlie an, den er entgegen ihres Willens für sich behält, unter dem Vorwand, noch etwas daran verändern zu müssen; auch Werther fertigt Schattenriss von Lotten an, der jedoch im Gegensatz zu Edgars dilletantischem Murks gelingt.
4.4.3 Sonstige inhaltliche Parallelen
Unter den inhaltlichen und formalen Gemeinsamkeiten fällt freilich in besonderem Maße auch die Tatsache auf, dass beide Helden am Ende der Geschichten sterben, was als deutlichstes Zeichen ihres Scheiterns angesehen werden kann.
Bei Goethe ist es direkter Selbstmord, bei Plenzdorf stirbt der Held durch einen Unfall, auch wenn dieser durch einen hohen Grad von Selbstverschuldung verursacht wurde. im Gegensatz zu Werthern spielt Edgar aber nie mit dem bloßen Gedanken, sich umzubringen, auch wenn er sehr stark leidet an dem Fakt, mit Charlie niemals eine Liebesbeziehung eingehen zu können.
Auch die zeitlichen bzw. jahreszeitlichen Überschneidungen sind mehr als offensichtlich; so stirbt Edgar beispielsweise am 24. Dezember, Heiligabend; Werther erschießt sich in der Nacht des 23. Dezember, einen Tag vor Weihnachten.
Überhaupt ist der Ablauf der Handlung, der Plot, genau derselbe wie bei Goethe. Um dies hier noch einmal deutlich zu machen: In beiden Werken findet sich der Held gleich zu Anfang an einem fremden Ort wieder, an den er geflohen ist. Dort trifft der Held Charlotte, in die er sich verliebt. In beiden Fällen ist Charlotte bereits verlobt, was der Held noch nicht weiß. Dann trifft der Verlobte ein und der Held ist am Boden zerstört. Dies führt zu einer Phase der Verwirrung und unklaren Gefühlstendenzen bis zum Ende der beiden Bücher.
5. Fazit
Ziel dieses Kurzreferates war es, das Wesen von Goethes "Werther" ansatzweise zu entschlüsseln und einen guten Überblick zu geben über dieses recht komplexe Werk und den zeitgenössischen Charakter des Romans anhand von Plenzdorfs "Neuen Leiden" herzustellen. Wir haben erkannt, dass sehr starke formale und inhaltliche Zusammenhänge bestehen zwisc hen Plenzdorfs Erzählung und Goethes Meilenstein und die Frage geklärt, welche Umstände und Motive Plenzdorf zu dieser Idee anregten.
Die Themen beider Bücher sind zeitlos, wie auch die vielen Nachahmer, zu denen gewissermaßen auch Plenzdorf gezählt werden muss, beweisen. Selbstmorde und Morde aus Eifersucht und blinder Liebeswut, davon hören oder lesen wir in der Presse stetig genug, aber auch Integrationsprobleme des Intellektuellen in biederen, starr gegliederten Gesellschaftsformen, etc. spielen heute eine große Rolle.
6. Anhang
6.1 Quellenverzeichnis
6.2 Literaturverzeichnis
6.2.1 Bücher
1 Goethe, Johann Wolfgang, Werke in zwei Bänden, 1981 Carl Hanser Verlag
2 Lutz, Bernd, Deutsche Literaturgeschichte - Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2001 Verlag J. B. Metzler
3 Plenzdorf, Ulrich, Die neuen Leiden des jungen W., 1973 Hinstorff Verlag Rostock
4 Rothmann, Kurt, Literaturwissen Johann Wolfgang Goethe, 1994 Philipp Reclam jun. Stuttgart
5 Siepmann, Thomas, Lektürehilfen: Die Leiden des jungen Werther, Ernst Klett Verlag, 2002
6.2.2 Internet
http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Leiden_des_jungen_Werther Abrufdatum: 30.10.2005
http://www.fh-lueneburg.de/u1/gym03/homepage/
faecher/deutsch/plenzdorf/jugendddr.h Abrufdatum: 30.10.2005
http://www.xlibris.de/Epochen/Sturm_und_Drang/Sturm_und_Drang -2.htm Abrufdatum: 27.05.2005
http://www.fortunecity.de/lindenpark/goethe/1/wertherd.htm Abrufdatum: 28.10.2005
[...]
1 Plenzdorf, Ulrich, "Die neuen Leiden des jungen W.", 1976 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, S. 36
2 Goethe, Johann Wolfgang, Werke in zwei Bänden, 1981 Carl Hanser Verlag, S.201
3 Siepmann, Thomas, Lektürehilfen: Die Leiden des jungen Werther, Ernst Klett Verlag, 2002, S.55
4 Ebd., S. 98
5 <Anm. 1>, S. 37
6 <Anm. 3>, S. 96
7 Ebd., S. 95
8 < Anm. 2 >, S. 276
9 < Anm. 3 >, S. 89
10 http://www.fhlueneburg.de/u1/gym03 /homepage/faecher/deutsch/plenzdorf /jugendddr.h
11 Ebd.
12 Ebd.
13 < Anm. 2 >, S. 234
14 < Anm. 1 >, S. 66
15 < Anm. 2 >, S. 205
- Citation du texte
- Danny Michelsen (Auteur), 2005, Goethe, Johann Wolfgang - Die Leiden des jungen Werther - Ein Kurzreferat, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109886
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