Es stellt sich die Frage, wie die Kluft zwischen der politischen Elite und den Bürgern überwunden werden kann. Ob und wie das funktionieren könnte, wird im Laufe der Arbeit anhand der Bürgerdialoge und der geplanten Konferenz zur Zukunft Europas überprüft. Die Thematik stellt die Forschungsfrage, ob deliberative Demokratie und die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit als Lösung für das Legitimationsdefizit in der EU gelten können. Es erfolgt eine genauere Analyse des Legitimationspotentials der von der Bertelsmann Stiftung und der Europäischen Kommission entwickelten transnationalen
Bürgerdialoge sowie der geplanten Konferenz zur Zukunft Europas. Dabei liegt der Fokus auf Öffentlichkeit durch vorhandene deliberative Formate. Deliberative Demokratie allgemein bezeichnet eine öffentliche argumentative Beratung zu politischen Entscheidungen. In diesem Sinne soll die Teilnahme von Bürgern an öffentlicher Kommunikation durch Dialoge behandelt werden.
Für das Funktionieren eines jeden politischen Systems ist Legitimation unerlässlich. Das gilt auch für die demokratische Legitimierung der Europäischen Union unter ihren Bürgern. Vor allem im Hinblick auf die gegenwärtige Corona-Krise wird europäischer Zusammenhalt umso mehr gefragt, sodass Legitimation bei EU-Bürgern entscheidend ist. Bürger müssen sich mit der EU identifizieren können. Dazu sollen Möglichkeiten für die Beteiligung in einer mit der EU verbundenen Öffentlichkeit geschaffen werden. Allgemein gilt die EU unter einem großen Teil der Bevölkerung als Elitenprojekt. Die Effizienz europäischer Entscheidungen hängt jedoch in bedeutendem Maße von der Zustimmung ihrer Bürger in den Mitgliedsstaaten ab.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Strukturen in der EU
2.1. Die EU als Gebilde sui generis
2.1.1. Supranationalismus
2.1.2. Intergouvernementalismus
3. Demokratische Legitimation in der EU
3.1. Input-, Output-, und Throughput-Legitimitation
3.2. Demokratie- und Legitimationsdefizit?
3.3. Grundströmungen und normative Demokratiemodelle
3.4. Verknüpfung von empirischer und normativer Legitimationsforschung
4. Deliberative Demokratie und eine europäische Öffentlichkeit
4.1. Deliberatives Öffentlichkeitsverständnis nach Habermas
4.2. Ergänzungen zu Habermas und Voraussetzungen einer deliberativen Bürgerbeteiligung
5. Bürgerbeteiligung in der EU
5.1. EU-Kommunikationspolitik
5.2. Partizipative Demokratie im Vertrag von Lissabon
5.3. Bürgerdialoge
5.3.1. Bürgerkonsultationen und Bürgerdialoge zur Zukunft Europas
5.3.2. Konferenz zur Zukunft Europas
6. Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und Legitimitätssteigerung durch transnationale Bürgerdialoge?
6.1. Korpus und Methodik
6.2. Herleitung der Kategorien
6.3. Öffentlichkeit und Deliberation in transnationalen Bürgerdialogen
6.3.1. Beteiligungsmöglichkeiten
6.3.2. Implementierung von Bürgerdialogen in Entscheidungsprozesse
6.3.3. Eigenschaften der Dialoge
6.3.4. Chancen von innovativen transnationalen Bürgerdialogen
6.3.5. Evaluation
6.3.6. Ergebnisorientierung
6.4. Legitimationspotential der Konferenz zur Zukunft Europas
6.5. Zusammenfassung der Hauptergebnisse
7. Fazit
8. Bibliographie
1. Einleitung
Für das Funktionieren eines jeden politischen Systems ist Legitimation unerlässlich. Das gilt auch für die demokratische Legitimierung der Europäischen Union unter ihren Bürgern. Vor allem im Hinblick auf die gegenwärtige Corona-Krise wird europäischer Zusammenhalt umso mehr gefragt, sodass Legitimation bei EU-Bürgern1 unerlässlich ist. Bürger müssen sich mit der EU identifizieren können. Dazu sollen Möglichkeiten für die Beteiligung in einer mit der EU verbundenen Öffentlichkeit2 geschaffen werden. Allgemein gilt die EU unter einem großen Teil der Bevölkerung als Elitenprojekt. Die Effizienz europäischer Entscheidungen hängt jedoch in bedeutendem Maße von der Zustimmung ihrer Bürger in den Mitgliedsstaaten ab. Es stellt sich also die Frage, wie die Kluft zwischen der politischen Elite und den Bürgern überwunden werden kann.
Ob und wie das funktionieren könnte, wird im Laufe der Arbeit anhand der Bürgerdialoge und der geplanten Konferenz zur Zukunft Europas überprüft. Die Thematik soll in diesem Rahmen behandelt werden anhand der Forschungsfrage, ob deliberative Demokratie und die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit als Lösung für das Legitimationsdefizit in der EU gelten können. Es erfolgt eine genauere Analyse des Legitimationspotentials der von der Bertelsmann Stiftung und der Europäischen Kommission entwickelten transnationalen Bürgerdialoge sowie der geplanten Konferenz zur Zukunft Europas. Dabei liegt der Fokus auf Öffentlichkeit durch vorhandene deliberative Formate. Deliberative Demokratie allgemein bezeichnet eine öffentliche argumentative Beratung zu politischen Entscheidungen. In diesem Sinne soll die Teilnahme von Bürgern an öffentlicher Kommunikation durch Dialoge behandelt werden.
Bisherige Legitimationsanalysen zogen vor allem Meinungsforschung mittels Umfragen oder Diskurse in Massenmedien heran. Diese Arbeit widmet sich dagegen dem direkten Austausch zwischen Bürgern verschiedener Mitgliedsstaaten in Bürgerdialogen. Denn Öffentlichkeit wird nicht nur in den Massenmedien hergestellt, sondern ist eine „allgemein zugängliche Sphäre der politischen Willensbildung und des Wettbewerbs pluralistischer Interessen“ (vgl. Assenbrunner, 2012: 299). Es wird an bisherige politische Öffentlichkeitsforschung im Zusammenhang mit Deliberationsforschung angeknüpft. Der Fokus liegt auf Versammlungsöffentlichkeit deliberativer Beteiligungsformate in einem physischen und digitalen Rahmen.
Die Komplexität des EU-Systems sowie unterschiedliche Vorstellungen darüber, was die EU sein soll, führen zu einer Vielzahl verschiedener Ansichten zur Legitimation in der Europäischen Union. Dies wird in den nächsten Kapiteln näher erläutert und verortet. Legitimation soll anhand der deliberativen Demokratietheorie untersucht werden. Darauf aufbauend erfolgt eine Betrachtung des aktuellen Standes der EU in Sachen Bürgerbeteiligung. Mithilfe einer inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse sollen schlussendlich Konzepte und erarbeitete Kriterien deliberativer Demokratie überprüft und die Forschungsfrage beantwortet werden.
2. Strukturen in der EU
Die heutige Europäische Union ist geprägt durch verschiedene Grundideen und Konzepte. Sie weist vor allem supranationale und intergouvernementale Züge auf und ist ein einzigartiger Zusammenschluss von Staaten mit geteilten Verantwortlichkeiten. Dabei wird allgemein von einem System sui generis gesprochen (vgl. Nugent 2017: 436).
Die Andersartigkeit der EU zeichnet sich durch ihren dynamischen Charakter ohne Finalität und ein komplexes Mehrebenensystem aus. Laut Thalmaier wird auch in Zukunft die Dynamik dieses politischen Systems mit ihrer Komplexität bestehen bleiben aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen der Mitgliedsstaaten von europäischer Integration sowie der Vielzahl von Akteuren auf europäischer und nationaler Ebene (vgl. Thalmaier 2007: 12f.). Dabei stellt sich die Frage, wie Demokratie in diesem System angewendet werden soll. Muss Demokratie neu begründet und auf ein europäisches Mehrebenensystem angewendet werden oder sich aus nationalstaatlichen Merkmalen ableiten (vgl. Kohler-Koch/Rittberger 2010: 2)? Mit welchen Maßstäben kann also demokratische Legitimität in diesem Kontext erfasst werden? Um diese Frage im daran anschließenden Kapitel zu beantworten, soll zunächst der Aufbau der EU mit seinen überstaatlichen, den sogenannten supranationalen, und intergouvernementalen Eigenschaften genauer erläutert werden. Außerdem wird der Entscheidungsprozess in EU-Organen und die Verflechtung der Zuständigkeiten von europäischen und nationalen Akteuren im Mehrebenensystem dargestellt. Informationen über den Aufbau des politischen Systems dienen als Hintergrundwissen für die weitergehende Betrachtung demokratischer Legitimation in der EU.
2.1. Die EU als Gebilde sui generis
Die Europäische Union ist ein weltweit einmaliger Staatenverbund bestehend aus derzeit 27 europäischen demokratischen Staaten. Sie versteht sich als repräsentative Demokratie und ihre Bürger werden durch das Europäische Parlament vertreten. Mitgliedsstaatliche Interessen liegen im Zuständigkeitsbereich des Europäischen Rates (vgl. Art. 10 EUV). Vergleicht man die EU mit typischen Eigenschaften eines Nationalstaates und denen von internationalen Organisationen, so lässt sich Folgendes beobachten: Sie besitzt Merkmale beider Formen und ist kein Staat, jedoch mehr als eine internationale Organisation (vgl. Nugent 2017: 439-441). Werden in einem Staat Entscheidungen zentral von den Staatsinstitutionen getroffen, sind in der EU nur ausgewählte Politikfelder auf den supranationalen Kompetenzbereich europäischer Institutionen übertragen (vgl. ebd.: 439). Auch von internationalen Organisationen, die auf intergouvernementaler Zusammenarbeit basieren, unterscheidet sich die EU in ihrem Aufbau durch ihre teilweise supranationalen Kompetenzen (vgl. ebd.: 441). Daran anknüpfend soll nun gezeigt werden, woraus ihre supranationalen und intergouvernementalen Eigenschaften bestehen.
2.1.1. Supranationalismus
Die Europäische Union ist nicht nur eine von den Mitgliedsstaaten abgeleitete politische Einheit, sondern besitzt eigene, sogenannte supranationale Entscheidungsbefugnisse auf europäischer Ebene (vgl. (Franzius/Preuß 2012: 62) . Regeln und Gesetze der EU gelten auf supranationaler Ebene und müssen daher von den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Supranationalismus bedeutet, dass die Mitgliedsstaaten Teile ihrer nationalen Souveränität auf die Europäische Union übertragen und somit Entscheidungsprozesse geringer beeinflussen können (vgl. Nugent 2017: 436). Dieser Vorgang des mitgliedsstaatlichen Verzichts auf Hoheitsrechte wurde in Zusammenhang mit der Vergemeinschaftung von Politikfeldern auf europäischer Ebene vor allem ab Mitte der 1980er Jahre intensiver in der Funktionsweise der EU verankert (ebd.: 437). In supranationaler Zuständigkeit sind beispielsweise die Politikfelder des Binnenmarktes wie die gemeinsame Handelspolitik und die Währungspolitik. In Bezug auf supranationale Prozesse ist die Europäische Kommission ein wichtiger Entscheidungsträger für Sekundärrecht und regulative Entscheidungen (ebd.). Sie hat alleiniges Initiativrecht inne und in der EU-Gesetzgebung werden Vorschläge für Rechtsakte hauptsächlich in ihrem Namen gemacht. Im Rat der Europäischen Union, welcher zusammen mit dem Europäischen Parlament diese Rechtsvorschriften prüft, werden die Beschlüsse inzwischen üblicherweise mit einer qualitativen Mehrheit verabschiedet. Auch der Einfluss des Parlamentes wurde im Laufe der Jahre mit den Vertragsänderungen aufgewertet.
2.1.2. Intergouvernementalismus
Anders als bei supranationalen Entscheidungen behalten die Mitgliedsstaaten bei der intergouvernementalen Zusammenarbeit ihre nationale Souveränität. Sie kooperieren mit anderen Regierungen in gemeinsamem Interesse und können selbst bestimmen, inwieweit Kooperation in bestimmten Bereichen stattfinden soll (vgl. Nugent 2017: 436).
Viele bedeutende Politikfelder der Europäischen Union wie Außenpolitik, Sozialpolitik, Bildung, Gesundheit und Strafrecht bleiben im nationalen Zuständigkeitsbereich. Die EU- Partner sprechen sich dabei ab und koordinieren Aspekte dieser Bereiche. Letztendlich liegen die ultimativen Entscheidungsrechte aber bei den Mitgliedsstaaten (ebd.: 437). Darüber hinaus werden fast alle zentralen Entscheidungen über die Ausrichtung und Prioritätensetzung europäischer Politik vorwiegend durch Einstimmigkeit im Europäischen Rat durch die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten getroffen. Auch der EU- Gesetzgebung mit der Kommission als Hauptakteur muss im Rat der Europäischen Union, welcher aus den Ministern der nationalen Regierungen besteht, zugestimmt werden. Für die Repräsentanten der Mitgliedsstaaten unerwünschte Politiken können daher nicht umgesetzt werden (ebd.).
2.2. Mehrebenensystem der EU und governance
Wie schon erwähnt, besteht die EU aus einem komplexen Mehrebenensystem mit verschränkter Gewaltenteilung zwischen den Ebenen:
Das europäische Mehrebenensystem entspricht einer Föderation von Staaten, die Demokratie nach dem Modell des parlamentarischen Regierungssystems verwirklichen. Auf der europäischen Ebene entstand eine Form einer dualen Repräsentation des europäischen Volkes und der Völker. Die damit entstandene Struktur der Gewaltenteilung setzt sich aus drei Dimensionen zusammen: Der Verantwortungsbeziehung zwischen Regierungen und Parlamenten der Gewaltenteilung und -verschränkung zwischen EU und Mitgliedsstaaten (mit ihren regionalen Untergliederungen) und der Machtteilung zwischen Mitgliedsstaaten. (Benz 2016: 37)
Hartlapp/Wiesner (2016: 4) konzeptualisieren diese drei Dimensionen des Zusammenhangs zwischen Demokratie und Gewaltenteilung als interne Aufsplittung einer Organ-Gewalt sowie als vertikale und horizontale Teilung.
Unter interner Aufsplittung verstehen die Autoren, dass die klassische Gewaltenteilung mit einer klaren Aufteilung der legislativen, exekutiven und judikativen Gewalt in Institutionen der EU nicht funktioniert. Stattdessen handelt es sich um eine interne Aufsplittung der Zuständigkeiten der Gewalten (vgl. ebd.: 8). Das heißt, Legislative und Exekutive sind zwar in der EU zu identifizieren, jedoch lassen sie sich nicht bestimmten Institutionen komplett zuordnen. Wie schon anhand der EU-Gesetzgebung erläutert, werden sie durch supranational und intergouvernemental geprägte Organe gemeinsam ausgeübt.
In der Mehrebenenpolitik herrscht also eine Verflechtung des gemeinsamen Handelns von Akteuren, welche auf allen Ebenen jeweils über unterschiedliche Kompetenzen verfügen. Deshalb gelten Aushandlungsprozesse in der EU als komplex und es besteht wenig Transparenz für die Bürger (vgl. Lauth 2016: 19). Ein solch unübersichtliches System benötigt daher ausreichend Kontrollmechanismen, eine sogenannte Accountability oder Rechtfertigung, die Lauth (2016: 24) zufolge aus politischer und rechtlicher Kontrolle besteht. Zu den Beteiligten politischer Kontrolle zählen staatliche, politische und gesellschaftliche Akteure, beispielsweise Parlamente und Prüfungsämter (u.a. Wahlprüfungskommissionen), Vertreter der Zivilgesellschaft und die Medien (ebd.). Die Handlungsfähigkeiten der rechtlichen Kontrolle hat das Justizwesen inne, das auch für Sanktionen zuständig ist (ebd.).
Vertikale Gewalt in der EU bezeichnet Benz (2016: 39) als „Aufteilung von Macht zwischen den Ebenen der Union und den Mitgliedsstaaten“. Die Union verfüge wesentlich über im Vertragsrecht eingebettete delegierte Handlungsfähigkeiten, die als konkrete Problemlösung bestimmter Bereiche entstanden und auch weiterhin ausgeübt werden (vgl. ebd.: 40). Deshalb ist laut Benz (2016: 40) eine stetige Begründung dieser Ausübung von Kompetenzen erforderlich, sofern diese nicht eindeutig auf EU-Organe fallen. Zum Beispiel sieht das Subsidiaritätsprinzip vor, dass die Union nur in Bereichen tätig wird, welche auf mitgliedsstaatlicher Ebene nicht ausreichend behandelt werden können (Art.5 EUV).
Somit obliegt die Kommission der Subsidiaritätskontrolle und muss ihre Initiativen auch gegenüber den Parlamenten der Mitgliedsstaaten rechtfertigen (vgl. Benz 2016: 41). Diese Prozesse sind für die horizontale Dimension ebenso relevant, da interparlamentarische Zusammenarbeit gefördert wird und Kontrollen koordiniert werden müssen (vgl. ebd.: 44). Es wird deutlich, dass die EU nicht als statisch definiert werden kann und ein „ständiges Bemühen um Ausgleich, ein Bemühen, das sich aus dem Einsatz von Macht und Gegenmacht der einzelnen Institutionen ergibt“ notwendig ist (ebd.: 45). Diese im Mehrebenensystem existierende Gewaltenteilung mit ihren Kontrollmechanismen trägt einen entscheidenden Teil zur demokratischen Legitimation in der EU bei.
3. Demokratische Legitimation in der EU
Für demokratische Systeme ist demokratische Legitimation von zentraler Bedeutung. Der Begriff Demokratie stammt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt Volksherrschaft. In einer Demokratie ist es daher wichtig, dass politische Akteure nicht nur die
„Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns“ überprüfen (Lauth 2016: 27). Ebenso essenziell ist die Transparenz eines Systems, der Informationsgehalt und eine öffentliche Rechtfertigung (vgl. ebd.). Bei Betrachtung des gesamten demokratischen Prozesses müssen alle drei Funktionen berücksichtigt werden; erforderlich ist überdies Kommunikation auf Basis von Transparenz zwischen Repräsentanten und Bürgern. Lauth spricht dabei von einem wechselseitigen Dialog (vgl. ebd.). Die Rechtfertigung politischer Akteure für ihr Handeln in ihrer Gesamtheit bezeichnet demokratische Legitimation. Legitimation wird daher als Prozess verstanden, während Legitimität sich auf den Zustand bezieht (vgl. Wiesner/Harfst 2019: 12).
Um Herrschaft dauerhaft zu sichern, ist Legitimität das zentrale Anliegen eines politischen Systems (vgl. Abels 2019: 1). Legitimität definiert sich dadurch, ob eine Regierungsform beliebiger Art von den Bürgern akzeptiert wird. Sie könnte auch ohne Demokratie existieren, andersherum wäre dieses Verhältnis jedoch nicht möglich. Demokratie ist auf Legitimität angewiesen, da diese Regierungsform auf die Zustimmung ihrer Bürger ausgelegt ist (vgl. Schmidt 2020: 26). Im europäischen Mehrebenensystem kann demokratische Legitimität nur durch mehrere Kanäle entstehen und aus verschiedenen Akteuren resultieren (vgl. Abels 2019: 1). Dabei stellt sich die Frage, inwieweit eine Demokratisierung der EU erfolgen kann und wie in ihrem komplexen System demokratische Legitimität über das Zusammenwirken der verschiedenen Ebenen erzeugt wird (vgl. ebd.: 2). Im Hinblick auf diese Fragestellungen gibt es unterschiedliche Ansichten unter Experten und Wissenschaftlern. Verschiedene Ansichten über die Finalität der EU spiegeln sich auch im Legitimationsverständnis der Forscher wider. Je nachdem, ob ein Bundesstaat oder lediglich ein Staatenverbund angestrebt wird, erfolgt die Beurteilung des politischen Systems der EU nach unterschiedlichen Legitimationskriterien (vgl. Scharpf 2004: 2). Die kontroverse Debatte hinsichtlich des Bestehens eines Legitimationsdefizits in der EU ist auf die von den Forschern unterschiedlichen Legitimationsverständnisse zurückzuführen.
Diese divergierenden Vorstellungen von Legitimation sind aus normativer Sicht in Diskussionen vertreten, welche deduktiv von philosophischen Prinzipien wie politischer Gleichheit, Gerechtigkeit, öffentlicher Diskurs oder Deliberation abgeleitet sind: „Such approaches normally set up a range of criteria or standards of evaluation by which to assess public action“ (Schmidt 2020: 30). Unterschiedliche normative Positionen und die plurale Legitimation im europäischen Kontext werden in folgendem Zitat betont:
The EU does not rest on a single principle of legitimacy, but on several. Itself the product of a compromise between numerous foundational visions, it rests on a plurality of ideas about the rightful exercise of political power. (Lord/Magnette 2004: 199)
Westliche konstitutionelle Demokratien sind dabei vor allem durch die zwei Traditionen des Republikanismus und Liberalismus geprägt (vgl. Scharpf 2009: 246). Auf diese wird zusammen mit der Theorie der deliberativen Demokratie als eine Form mit Elementen beider Traditionen eingegangen. Im Laufe der Arbeit sollen Legitimationskriterien aus der deliberativen Demokratietheorie herausgearbeitet werden.
Empirische Ansätze der Legitimationsforschung untersuchen dagegen induktiv die Einstellungen der Bürger zur Legitimation des politischen Systems. Eine große Rolle spielt, inwieweit Präferenzen der Bürger aufgenommen werden und die Legitimation politischer Entscheidungsträger dadurch bestehen bleibt. Das Kriterium der Responsivität ist für demokratische Legitimität zentral (vgl. Lauth 2016: 22). Normative und empirische Betrachtungsweisen sind eng miteinander verknüpft. Sie können nicht getrennt voneinander betrachtet werden, da sie sich gegenseitig beeinflussen. So ist es zum Beispiel möglich, normative Kriterien empirisch zu überprüfen. Die empirische Sicht hängt von normativen Prinzipien und Standards sowie was im Idealfall zu erwarten ist ab (vgl. Schmidt 2020: 30).
3.1. Input-, Output-, und Throughput-Legitimitation
Um demokratische Legitimität der EU zu erfassen, gibt es laut Scharpf (1999: 16) zwei verschiedene, aber komplementäre Legitimationsperspektiven. Diese beiden Perspektiven bezeichnet er als input-orientierte und output-orientierte Legitimation. Hinzu kommt der politische Prozess zwischen Input und Output, eine sogenannte Throughput-Legitimation, welche Schmidt (2010) und Schmidt/Wood (2019) anhand des EU-Systems definieren.
In der input-orientierten Perspektive wird die Bedeutung einer Herrschaft durch das Volk betont (vgl. Scharpf 1999: 16). Dabei erlangen politische Entscheidungen an Legitimität, wenn sie die Präferenzen des Volkes reflektieren (vgl. ebd.). Häufig werden für die Input- Legitimation Partizipation und Konsens als zentrale Begriffe erachtet. Dies erweist sich in einem komplexen verflochtenen System wie der EU als schwierig, da die Distanz zwischen den von Entscheidungen Betroffenen und deren Vertretern groß ist. Um den EU-Bürgern echte Mitsprache zu garantieren, muss zunächst diese Distanz überbrückt werden. Problematisch für die Input-Legitimation ist laut Scharpf auch der Konsens unter den Bürgern. Sogenannte Mehrheitsentscheidungen sind gemeinwohlorientiert, aber zuungunsten von Minderheiten getroffen. Die Rechtfertigung einer Mehrheitsherrschaft sieht Scharpf (1999: 17) als das Hauptproblem „input-orientierter Theorien demokratischer Legitimation.“ Um erfolgreiche Meinungs- und Willensbildungsprozesse des Volkes für die input-orientierte Demokratie im Sinne des Gemeinwohls zu erlangen, ist laut Scharpf eine kollektive Identität mit historischen, sprachlichen, kulturellen und ethnischen Gemeinsamkeiten der Bürger erforderlich (vgl. ebd.: 18f.). Somit spricht er der Europäischen Union ihre demokratische Legitimität aus der Input-Perspektive ab und hebt hervor, dass Demokratie nur auf nationaler Ebene existiere (vgl. ebd.: 20).
Im Gegensatz zur input-orientierten Legitimation, stehen in der output-orientierten Legitimation Regierende im Mittelpunkt und Herrschaft für das Volk rückt dabei ins Zentrum der Betrachtung (vgl. ebd.: 16). Diese „leitet Legitimität von der Fähigkeit zur Lösung von Problemen ab“ (ebd.: 20). Für output-orientierte Legitimation bedarf es laut Scharpf nicht den Voraussetzungen einer kollektiven Identität wie in der Input-Legitimation: Es wird lediglich ein ausreichend großer und dauerhafter Bestand an gemeinsamen Interessen benötigt, um kollektives Handeln durch institutionelle Arrangements rechtfertigen zu können (vgl. ebd.). Dem Autor zufolge kann die EU nur Output- Legitimation erreichen, da sie eine Koexistenz multipler Identitäten zulässt und als geeignet gilt, gemeinsame Interessen zu vertreten. Im Hinblick auf die Gewaltenteilung verhindern Institutionen durch bereits erwähnte Kontrollmechanismen gleichzeitig Machtmissbrauch und fördern effektive Problemlösungen, die dem gemeinsamen Nutzen der Bürger dienen (vgl. Scharpf 2004: 6). Jedoch lässt sich dieser eher durch individualistische Interessen mit Pareto-Entscheidungen legitimieren. Das Pareto-Kriterium besagt dabei, dass die Ergebnisse von politischen Entscheidungen „niemanden schlechter und mindestens einige besser stellen würde als im Status quo“ (ebd.). Kollektivistische Legitimationsargumente hingegen sind komplizierter herzustellen und ohne einen Kollektivbezug kann die Output-Perspektive über das Pareto-Prinzip allein nicht bestehen. Sozialpolitische Umverteilungen und andere Maßnahmen, welche Menschen sowohl bevorteilen als auch andere benachteiligen sind demnach von input-orientierten Legitimationsargumenten einer kollektiven Identität abhängig (vgl. ebd.: 7f.). Diese können aus dieser Perspektive jedoch nur im Nationalstaat umgesetzt werden. Folgende Tabelle soll demokratiebezogenen und nicht-demokratiebezogenen Input und Output vergleichen. Das dient einer besseren Übersicht über Elemente einer demokratischen Legitimation innerhalb dieser Legitimationsvariablen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Veranschaulichung demokratischer und nicht-demokratiebezogener Legitimation (Nullmeier 2010: 53)
Als ein Prozess zwischen diesen beiden Legitimationsebenen wurde zusätzlich das Konzept der Throughput-Legitimation entwickelt:
Missing has been a systems concept that would separate out the processes that absorb the input and generate the output, notionally situated in a neglected “black box“ of governance. I have proposed to label these legitimizing processes, consistent with the language of systems theory, as ”throughput“. (Schmidt 2020: 31)
Laut Schmidt/Wood (2019: 728) ist Throughput-Legitimation ein unverzichtbarer Bestandteil von Legitimität. Das gilt vor allem für Mehrebenensysteme, die eine große Distanz zwischen dem Input der Bürger und Verwaltungsprozessen sowie einen unbestimmten Policy-Output aufweisen (ebd.). Throughput-Legitimation wird beurteilt nach der Qualität der Kategorien Accountability, Transparenz und Effizienz des EU- Entscheidungsprozess einhergehend mit der Offenheit gegenüber Konsultationen und dem Einbezug von Bürgern (vgl. Schmidt 2010: 6). Accountability bedeutet, dass technokratische und politische Akteure durch Aufsichtsorgane zur Rechenschaft gezogen werden können (vgl. Schmidt/Wood 2019: 731). Machtausübende Institutionen haben dabei eine Rechenschaftspflicht. Transparenz soll den Zugang zu Informationen über Regierungsprozesse sichern (vgl. ebd.: 732). Offenheit und Teilhabe bezieht sich darauf, inwieweit Bürger und verschiedene Interessengruppen an EU-Konsultationen beteiligt werden (vgl. ebd.: 733). Throughput bezeichnet also die prozedurale Legitimation, in welcher Regierungsprozesse und Interaktionen zwischen verschiedenen Akteuren stattfinden:
[T]he EU produces policies that begin with the Commission-generated formulation of legislation with the people through access to “minority” interests from “civil society” as well as to state actors; that then continue through the various co-decision-making processes that garner input by and of the people via the Council and EP as well as further interest intermediation with the people; and that end in the decisions that deliver output for the people. (Schmidt 2010: 8)
Diese verschiedenen Legitimationsformen, Input-, Output- und Throughput-Legitimation, sind in der EU unterschiedlich verteilt und aufgeteilt zwischen der nationalen und europäischen Ebene (vgl. Schmidt 2010: 25). Im Folgenden werden die dadurch entstandenen Probleme diskutiert und ob in der EU ein Demokratie- und Legitimationsdefizit besteht.
3.2. Demokratie- und Legitimationsdefizit?
Laut Scharpf (2009: 252) besteht in der EU eine zweistufige Legitimationsbeziehung
„zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten und zwischen diesen und deren Bürgern.“ Daher sei die Union eine Regierung von Regierungen und nicht eine Regierung von Bürgern (vgl. ebd.). Aus diesem Grund plädiert Scharpf dafür, die Legitimationsargumente und Folgebereitschaft der Mitgliedsstaaten in Bezug auf die EU genauer zu betrachten. Jedoch sieht Artikel 10 (2) des Vertrags über die Europäische Union vor, dass auch Bürger direkt im Europäischen Parlament vertreten sind. Außerdem haben Bürger laut Artikel 11 Partizipationsmöglichkeiten, um die EU mitzugestalten. Diese werden später noch erläutert. Mitgliedsstaaten sind dagegen im Europäischen Rat beziehungsweise Rat repräsentiert. Somit ist eine Verschränkung von zwei Legitimationssträngen ausgehend von Bürgern und Nationalstaaten gewährleistet (vgl. Franzius/Preuß 2012: 22). Dies bezeichnet ein Modell der „ checks and balances “. Die Verteilung von Kompetenzen auf die Institutionen ist nicht gleichwertig. Jedoch können die verschiedenen Organe demokratische Legitimation im Gesetzgebungsprozess herstellen (vgl. ebd.). Die EU bezieht zwar einen Großteil ihrer demokratischen Legitimation aus den Mitgliedsstaaten, jedoch benötigt sie mit zunehmendem Einfluss auch vermehrt eigene Mechanismen für ihre Sicherung (vgl. ebd.: 21). Da Demokratie ihren Ursprung im Nationalstaat fand und auch problemlos durch Mehrheitsentscheide regiert werden konnte, lässt sich das Problem der EU durch folgendes Zitat erklären:
Da staatliche Entscheidungen immer häufiger Wirkungen außerhalb der jeweiligen staatlichen Grenzen entfalten, schwindet der demokratische Zusammenhang zwischen Urheberschaft und Betroffenheit. Hier liegt das Problem. (Franzius/Preuß 2012: 33)
Vor allem seit dem Beschluss des Maastricht-Vertrags, welcher 1993 in Kraft trat, wurde die Debatte um das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU angestoßen (vgl. Abels 2019: 4). Hintergrund war die Ablehnung des Vertrags im ersten dänischen Referendum. Somit konnte man beobachten, dass der über lange Zeit hinweg geltende zustimmende Konsens der Bürger (permissive consensus) sich zu einem einschränkenden Dissens (constraining dissensus) entwickelte (vgl. ebd.). Es bildeten sich unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Legitimationsbewertungen der EU heraus: die no-demos These besagt, dass es ohne eine gemeinsame europäische Identität auch keine europäische Demokratie gibt und diese nur aus den Mitgliedsstaaten als Herren der Verträge resultiert (Franzius/Preuß 2012: 28). Diese Ansicht vertritt unter anderem Scharpf (1999: 18), der eine kollektive Identität aus der input- orientierten Perspektive als Voraussetzung für Demokratie in der EU hervorhebt. Dabei sei nicht nur die Herausbildung einer politischen Öffentlichkeit von Bedeutung, sondern auch soziale, kulturelle, historische oder ethnische Bedingungen spielten eine Rolle. Jedoch sind Franzius/Preuß (2012) der Ansicht, dass eine kulturelle Homogenität innerhalb Europas viele ausschließen würde. Deshalb solle man für eine hinreichende Demokratisierung der EU kein homogenes Kollektiv voraussetzen, sondern eine durch politische Partizipation herstellbare Öffentlichkeit (vgl. ebd.: 40f.).
Auch bezüglich der Output-Legitimation in der EU existieren kontroverse Standpunkte. Moravcsik (2002) vertritt die Ansicht, dass durch sogenannte „ checks and balances “ die EU ausreichend legitimiert sei. Die verschiedenen Kontrollmechanismen von europäischen Institutionen wie die indirekte demokratische Kontrolle nationaler Regierungen und die vermehrte Kompetenzerweiterung des europäischen Parlamentes sollen Entscheidungsprozesse hinreichend legitimieren (vgl. Moravcsik 2002: 605). Außerdem sind laut Moravcsik Themen der EU-Politik für Bürger von geringer Bedeutung, da zentrale Bereiche unter anderem in der Gesundheits-, Bildungs-, und Sozialpolitik der nationalen Zuständigkeit unterliegen (vgl. ebd.: 615). Deshalb sieht er eine Ausweitung politischer Partizipation für Bürger als nicht erforderlich. Kann man jedoch durch diese Schlussfolgerungen feststellen, dass Output-Legitimation auf EU-Ebene ausreichend ist? Gegen die Ausführungen von Moravcsik lässt sich einwenden, dass nationale Parlamente trotz Aufwertung ihrer Kompetenzbereiche wenig Einfluss auf Beschlüsse im Europäischen Rat und im Rat der Europäischen Union haben (vgl. Follesdal/Hix 2006: 535). Außerdem hat das Europäische Parlament noch immer weniger Befugnisse inne als intergouvernementale Organe in der EU, speziell der Europäischen Rat (vgl. ebd.). Die Parlamentswahlen sind zudem meist von nationalen statt europäischen Belangen dominiert und Themen europäischer Politik werden in den Parteien und Medien nicht ausreichend kommuniziert (vgl. ebd.: 536). So müssten Bürger vermehrt darauf aufmerksam gemacht werden, dass in der EU getroffene Beschlüsse sich auch auf Themen von hoher Bedeutung wie Gesundheitsversorgung, Bildung, Recht, Sozialpolitik und Steuern auswirken können (vgl. ebd.: 551). Darüber hinaus stellt Schäfer fest, dass ein Demokratiedefizit in der EU der Entpolitisierung der EU-Politik mit Institutionen, die Entscheidungen delegieren, geschuldet ist (vgl. Schäfer 2006: 188). Setzt man nun den Fokus auf die Repräsentation verschiedener Interessen anstatt auf die Effizienz europäischer Entscheidungen, so wird eine input- orientierte Legitimation erforderlich (vgl. ebd.: 194). Somit ist Output-Legitimation als einzige Legitimationsgrundlage der EU nicht ausreichend.
Neben input- und output-orientierter Legitimation ist auch Throughput-Legitimation von Bedeutung. Diese ist nicht nur für Entscheidungsprozesse selbst relevant, sondern auch Vermittlungsprozesse mit Bürgern als Einflussnehmer müssen stattfinden. Außerdem bezieht sich Throughput auf Ideen und deliberative Interaktionen (vgl. Schmidt 2010: 20). Institutionelle Regeln der EU stellen laut Schmidt Hindernisse für eine Throughput- Legitimation dar. Die Einstimmigkeitsregel bei Verträgen kann wegen möglicher Verzögerungen oder gar Blockaden im Integrationsprozess problematisch werden. Im Hinblick auf das Ziel, Transparenz in der EU durch einen verbesserten Zugang zu Informationen über Entscheidungen zu gewährleisten, könnte ausgerechnet eine Informationsüberflut zu weniger Transparenz führen (vgl. ebd.: 22). Ein geeigneter Einbezug von Bürgern in Entscheidungsprozesse ist zudem problematisch. Als Lösung schlägt Schmidt eine von nationalen Parlamenten initiierte transnationale Mobilisierung von EU-Bürgern vor (vgl. ebd.). Für Throughput-Legitimation sind Accountability und zugängliche Entscheidungsprozesse sowie die Überwindung der Einstimmigkeitsregel und des Konsenses von großer Bedeutung. Außerdem ist eine stärkere deliberative Verflechtung verschiedener Akteure erforderlich (vgl. ebd.: 24).
Es existiert ein verbreiteter Konsens über die Existenz eines Legitimations- und Demokratiedefizits in der EU (vgl. Abels 2019: 13). Jedoch bestehen Diskrepanzen bezüglich der Ursachen dieses Defizits und wie es sich lindern lässt. Diese finden ihren Ursprung in unterschiedlichen Demokratietheorien und integrationspolitischen Ansichten (vgl. ebd.). Laut Abels liegt das Problem in der Trennung zwischen den Bürgern und europäischer Herrschaft:
Summa summarum besteht das zentrale Ausgangsproblem darin, dass zwar in und durch die EU kratos vergemeinschaftet wurde, aber der demos weiterhin stark national konstituiert wird. (Abels 2019: 13)
Das lässt sich unter anderem anhand der Migrationskrise erklären. Die Unterstützung einiger Mitgliedsstaaten für eine gemeinsame Lösung wird entzogen, was eine Delegitimierung der EU zur Folge hat und sich auch bei anderen Krisen, beispielsweise der Finanzkrise, beobachten ließ (vgl. ebd.: 15). Eine Lösung für dieses Problem könnte in der vermehrten Ausbildung eines europäischen Kommunikationsraums liegen (vgl. Thalmaier 2007: 4). Auch eine verstärkte Input-Legitimation wird in Betracht gezogen:
Das größte Potenzial liegt im Bereich institutioneller Änderungen, mit denen eine stärkere Partizipation am europäischen Entscheidungsprozess verbunden ist und die eine Reduzierung des seit langem beklagten Demokratiedefizits beinhalten. (Thalmaier 2007: 21)
Die Möglichkeit zur Beteiligung an einem deliberativen Kommunikationsraum zur Ausbildung von demokratischen Meinungs- und Willensprozessen und die damit einhergehende Entstehung einer Öffentlichkeit ist dabei essenziell für eine demokratische Legitimation (vgl. Habermas 1992: 374-449).
3.3. Grundströmungen und normative Demokratiemodelle
Im Folgenden soll nun auf drei verschiedene normative Demokratiemodelle zurückgegriffen werden: Die Gegenüberstellung der Traditionen des Republikanismus und Liberalismus und deliberative Demokratie als eine mögliche alternative Regierungsform in der EU. Kriterien demokratischer Legitimation hängen dabei in entscheidendem Maße von diesen unterschiedlichen Regierungsformen der Demokratietheorien ab.
In der auf Aristoteles zurückgehenden republikanischen Tradition ist das Gemeinwesen gegenüber dem Individuum höhergestellt. Aufgabe der Regierung ist es daher, das Allgemeinwohl zu fördern. Die Idee des Republikanismus führt bis zu den heutigen Vertretern einer „kommunitaristischen“ Demokratietheorie (vgl. Scharpf 2009: 246). Liberalismus bezeichnet die in der Aufklärung entstandene Tradition, welche hauptsächlich durch Hobbes entwickelt wurde. Das Individuum hat darin Vorrang vor dem Gemeinwesen und die „Notwendigkeit des Schutzes individueller Interessen, und die individuelle Selbstbestimmung tritt an die Stelle der kollektiven Selbstregierung“ (ebd.: 247). Scharpf verdeutlicht, dass westliche Demokratien normative Argumente aus beiden Traditionen beziehen (vgl. ebd.: 248). Durch konstitutionelle Einschränkungen der Staatsgewalt werden Menschenrechte geschützt und betroffene Interessen erhalten Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen (vgl. ebd.). Andererseits sind sie zudem republikanisch, da sie repräsentative Demokratien darstellen: Staatsgewalt wird durch allgemeine, periodische, freie und gleiche Wahlen geformt. Dabei bilden sich politische Entscheidungen aus öffentlichen Debatten und dem Wettbewerb politischer Parteien heraus (vgl. ebd.). Auch Institutionen, die keiner direkten politischen Rechtfertigung bedürfen, müssen im „Schatten demokratischer Mehrheiten“ oder zumindest einer demokratischen verfassungsgebenden Gewalt (pouvoir constituant) handeln (ebd.). Die Ausprägungen an Liberalismus und Republikanismus unterscheiden sich in den verschiedenen Systemen westlicher Demokratien.
Die Europäische Union dagegen entspricht laut Scharpf lediglich liberalen Merkmalen. Im Schutz individueller Rechte gegenüber Mehrheiten zeigt sich deutlich die liberale Ausrichtung. Zudem sind demnach sehr hohe Konsenserfordernisse ein Hindernis für das politische kollektive Handeln der Union. Auch die Input-Struktur in Entscheidungsprozessen ist stark pluralistisch geprägt und wenig majoritär (vgl. ebd.: 249). Eine Vielzahl von Ausschüssen, Expertengruppen und Interessengruppen haben Zugang zur europäischen Ebene. Organisierte Interessen spielen eine große Rolle für die EU-Politik und die hohe Konsensschwelle dient als Minderheitenschutz (vgl. ebd.). Auch auf der Output- Seite entspricht die Effektivität der EU liberalen Standards. Von politischen Mehrheiten unabhängige Institutionen sind gegen politische Interventionen geschützt wie beispielsweise die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. An den Kriterien einer republikanischen Demokratie gemessen würde die Union hingegen demokratischer Legitimität entbehren (vgl. ebd.). Durch die hohen Konsenserfordernisse sind EU-Gesetze fast irreversibel, auch wenn sie über die Zeit hinweg weniger dem Gemeinwohl entsprächen (vgl. ebd.: 250). Jedoch können laut Scharpf aufgrund einer fehlenden kollektiven Identität keine Mehrheitsentscheidungen gegenüber Minderheiten legitimiert werden:
Es „fehlten ihnen derzeit doch alle gesellschaftlichen und institutionellen Voraussetzungen der input-orientierten Demokratie: Es gibt keine europaweiten Kommunikationsmedien und politischen Debatten, keine europaweiten politischen Parteien, keinen europaweiten, auf wichtige europapolitische Entscheidungen konzentrierten Parteienwettbewerb und keine politisch verantwortliche europäische Regierung, die antizipierend auf das mögliche Votum der Wähler in egalitären, europaweiten Wahlen reagieren müsste.“ (Scharpf 2009: 250)
Ein solches Verständnis berücksichtigt laut Thiel nicht die komplexen Regierungssysteme in der postnationalen Konstellation (vgl. Thiel 2011: 248). Ihm zufolge ist demokratische Legitimation nicht mehr nur in den Mitgliedsstaaten erforderlich, sondern auch in den „vielen Ebenen politischen Entscheidungshandelns“ (ebd.).
Als Alternative zu den beiden in einigen Merkmalen unvereinbaren Demokratietraditionen lässt sich die deliberative Demokratie anführen. Diese soll über eine Betrachtung von parlamentarischer Repräsentation und die Voraussetzungen einer kollektiven Identität hinausgehen (vgl. Frisch 2007: 713). Deliberative Demokratie setzt eher auf die Vernunft von Diskursen und Verhandlungen anstatt auf die Aggregation von individuellen Interessen oder das kollektive Ethos der Bürger. Der Fokus liegt auf der „kooperativen Suche nach gemeinsamen Problemlösungen“ (vgl. Habermas 2012: 144). Laut Frisch (2007: 713) eignet sich das deliberative Demokratiemodell besonders gut, um Legitimität jenseits des Nationalstaats zu konzeptualisieren. Dabei geht es um die diskursive Meinungs- und Willensbildung in der EU. Um die Input-Legitimation zu erhöhen, schlägt Frisch folgende Mechanismen vor: Es soll einen freien und allgemeinen Zugang für Bürger zu Prozessen der europäischen Willensbildung geben und verschiedene Foren und Arenen für politische Willensäußerungen, die in europäische Entscheidungsprozesse einfließen institutionalisiert werden (vgl. ebd.: 716). Solche Mechanismen finden in der maßgeblich von Habermas geprägten deliberativen Demokratie Berücksichtigung. Das Verfahren deliberativer Politik bildet dabei das „Kernstück des demokratischen Prozesses“ (vgl. Habermas 1992: 359). Habermas Verständnis von deliberativer Demokratie geht auf seine entwickelte Diskurstheorie zurück. Darin sind laut ihm liberale und republikanische Elemente miteinander vereint und es wird eine ideale Prozedur für Beratung und Beschlussfassung dargestellt (vgl. ebd.). Diese beschreibt Habermas Auffassung einer rationalen Diskursivität:
Die deliberative Politik gewinnt ihre legitimierende Kraft aus der diskursiven Struktur einer Meinungs- und Willensbildung, die ihre sozialintegrative Funktion nur dank derErwartung einer vernünftigen Qualität ihrer Ergebnisse erfüllen kann. (Habermas 1992: 369)
Deliberative Politik hängt nicht von einer „kollektiv handlungsfähigen Bürgerschaft“ ab, sondern von der „Institutionalisierung entsprechender Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen“ und dem „Zusammenspiel der institutionalisierten Beratungen mit informell gebildeten öffentlichen Meinungen“ (ebd.: 362). Der Fokus dieser Sichtweise liegt in der Prozeduralisierung von Volkssouveränität und einer „Rückbindung des politischen Systems an periphere Netzwerke der politischen Öffentlichkeit“, die mit dem Bild einer „dezentrierten Gesellschaft“ einhergeht (ebd.). In den vorgestellten Demokratietheorien lässt sich also insgesamt ein differenziertes Verständnis von Legitimation und Volkssouveränität beobachten.
3.4. Verknüpfung von empirischer und normativer Legitimationsforschung
Um demokratische Legitimation in der EU zu konzeptualisieren, müssen die Verflechtungen zwischen normativer und empirischer Betrachtungsweise berücksichtigt werden. Wie schon erwähnt, sind diese nicht getrennt voneinander zu beobachten; sie beeinflussen sich vielmehr gegenseitig. Normative Standards lassen sich empirisch überprüfen und empirische Studien hängen von den normativen Ansichten der Autoren ab. Pathberg (2013: 157) extrahiert in diesem Zusammenhang zwei Modelle der Legitimationsforschung: Dabei handelt es sich um Legitimitätsforschung als Messung und Legitimitätsforschung als Beurteilung. Erstere bezeichnet die Akzeptanz der Bürger, welche eine politische Ordnung hinsichtlich ihrer Legitimität selbst beurteilen. Jedoch lässt sich nicht nur anhand der Einstellungen der Bürger Legitimität ableiten. In diesem Modell wird nicht berücksichtigt, ob die tatsächliche politische Herrschaft mit dem Legitimitätsglauben ihrer Bürger übereinstimmt (vgl. ebd.: 158). Legitimitätsforschung als Beurteilung dagegen untersucht die Beziehung zwischen Einstellungen und Herrschaftsordnung. Die Beurteilung einer politischen Ordnung als legitim oder illegitim obliegt in diesem Modell dem Forscher (vgl. ebd.: 160). Diese Erkenntnisse werden grundsätzlich aus der Empirie gewonnen. Soll hingegen die normative Theorie der deliberativen Demokratie auf die Legitimitätsforschung angewandt werden, bedarf es zusätzlich anderer Kriterien und Maßstäbe. In diesem Zusammenhang arbeitet Wimmel (2009) vier Kategorien aus der empirischen und normativen Betrachtungsweise zur Erfassung demokratischer Legitimation heraus: Das Legitimitätskonzept, das Legitimitätsobjekt, die Legitimitätsvariable und den Legitimitätsstandard (vgl. Wimmel 2009: 185). Welche Voraussetzungen politische Macht benötigt, bestimmt das Legitimationskonzept. Dazu ist ein Objekt erforderlich, an welchem politische Legitimität bewertet wird (vgl. ebd.: 188). Dies kann von drei Variablen abhängig gemacht werden: Partizipation (Input), Prozess (Throughput) und Ergebnisse (Output) (vgl. ebd.: 189). Wie die EU konzeptualisiert und ob sie als Nationalstaat oder internationale Organisation angesehen wird, ist in verschiedenen Legitimitätsstandards begründet. So kann sie beispielsweise normativ an kontrafaktischen Idealsituationen legitimer Regierungsprozesse beurteilt werden (vgl. ebd.: 192). Dazu muss ein normatives Modell entwickelt werden, das als Maßstab für die Beurteilung politischer Legitimität in der EU gilt. Deliberative Demokratie und eine europäische Öffentlichkeit wären ein Beispiel eines solchen Modells. Kritisiert wird dabei häufig, dass diese Idealvorstellungen in der Realität keine Anwendung finden können (vgl. ebd.: 192). Jedoch gibt es auch Möglichkeiten zur Verwirklichung deliberativer Kriterien in der Praxis, was vor allem während der Analyse gezeigt werden soll. Der Fokus wird daher auf Anwendungsmöglichkeiten deliberativer Demokratie für die EU-Forschung gelegt mit dem Potential zur Steigerung von Legitimität.
4. Deliberative Demokratie und eine europäische Öffentlichkeit
Die von Habermas geprägte Theorie einer deliberativen Demokratie, welche auf die von ihm entwickelte Diskurstheorie zurückgeht, fokussiert sich auf die Qualität rationaler Diskurse in einer an Recht und Gesetz gebundenen Regierung und Verwaltung (vgl. Habermas 1992: 364). In einem dynamischen System wie der EU, also ein System ohne festgelegte Finalität, spielen für europäisches Regieren Lernprozesse und Anerkennung eine große Rolle (vgl. Frisch 2007: 718). Deliberative Verfahren im „Sinne von Kommunikationsprozessen, bei denen das beste Argument zählt“, können dazu einen bedeutenden Beitrag leisten (ebd.). Zudem gilt die EU als wenig hierarchisches, offenes Mehrebenensystem, dessen Struktur deliberative Prozesse begünstigt. Somit sieht Frisch die Basis für eine Integration durch Deliberation gegeben (vgl. ebd.). In der Union kann aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher europäischer Staaten keine kollektive Identität vorausgesetzt werden. Jedoch ist es mit Deliberation möglich, durch Diskussionen und Argumentationsprozesse politische Teilöffentlichkeiten zu schaffen (vgl. ebd.). Frisch erkennt in deliberativen Prozessen ein größeres Mitsprachepotential als in der Aufwertung des europäischen Parlaments, da eine prospektive Einflussnahme gefördert wird. Ersteres trägt lediglich zu einer rückwirkenden Kontrollmöglichkeit durch Wahlen bei (vgl. ebd.: 719). Daraus lässt sich schließen, dass die parlamentarische durch „dezentrale Entscheidungsfindung in deliberativen Arenen“ ergänzt werden soll (ebd.). Dabei schöpft die deliberative Politik ihre legitimierende Kraft aus der Meinungs- und Willensbildung mit ihrer diskursiven Struktur, deren sozialintegrative Funktion von der vernünftigen Qualität ihrer Ergebnisse abhängt (Habermas 1992: 369):
[...]
1 Für einen besseren Lesefluss werden männliche Formen in dieser Arbeit verwendet, welche sich jedoch auf alle Geschlechter beziehen.
2 Eine in der EU bestehende beziehungsweise entstehende Öffentlichkeit wird im Rahmen dieser Arbeit als europäische Öffentlichkeit bezeichnet
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- Julia Reinhard (Author), 2021, Deliberative Demokratie als Lösung für das Legitimationsdefizit der EU? Das Potential einer Neugestaltung von Bürgerdialogen zur Zukunft Europas, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1097036
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