Johann Wolfgang von Goethes Gedicht Talismane entstand 1815 als Teil der Gedichtsammlung West-östlicher Divan. In und mit diesem Gedicht werden Gott und seine Schöpfung gepriesen.
Die ersten vier der insgesamt fünf Strophen zählen vier, die letzte zählt sechs Verse. Da der formale Aufbau der letzten Versgruppe stark von dem der ersten vier abweicht, handelt es sich streng genommen nicht um eine Strophe.[1] Der Einfachheit halber nenne ich jedoch alle Versgruppen Strophen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Aufbau des Textes (Textelemente)
3. Aussageinstanzen
4. Vers- und Satzstruktur
4.1. Syntaktische Struktur
4.2. Syntaktische Figuren
5. Metrum, Reimschema und Kadenzen
6. Rhetorische Techniken
6.1. Klangfiguren
6.2. Wiederholungsfigure
6.3. Substitutionsfiguren (Tropen)
7. Schlussbemerkung
8. Literaturverzeichnis
Textanalytische Übung zu
Johann Wolfgang von Goethe >Talismane<
vorgelegt von
Dorothea Goeth
Talismane
Gottes ist der Orient!
Gottes ist der Occident!
Nord- und südliches Gelände
Ruht im Frieden seiner Hände.
-----------
Er der einzige Gerechte
Will für jedermann das Rechte.
Sey, von seinen hundert Namen,
Dieser hochgelobet! Amen.
-----------
Mich verwirren will das Irren;
Doch du weißt mich zu entwirren.
Wenn ich handle, wenn ich dichte,
Gieb du meinem Weg die Richte.
-----------
Ob ich Ird’sches denk’ und sinne
Das gereicht zu höherem Gewinne.
Mit dem Staube nicht der Geist zerstoben
Dringet, in sich selbst gedrängt, nach oben.
-----------
Im Atemholen sind zweyerley Gnaden:
Die Luft einziehn, sich ihrer zu entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank’ ihm, wenn er dich wieder entläßt.
( Einzelbewertung S. 15) Textanalytische Übung zu Johann Wolfgang von Goethe: Talismane
1. Einleitung
Johann Wolfgang von Goethes Gedicht Talismane entstand 1815 als Teil der Gedichtsammlung West-östlicher Divan. In und mit diesem Gedicht werden Gott und seine Schöpfung gepriesen.
2. Aufbau des Textes (Textelemente)
Die ersten vier der insgesamt fünf Strophen zählen vier, die letzte zählt sechs Verse. Da der formale Aufbau der letzten Versgruppe stark von dem der ersten vier abweicht, handelt es sich streng genommen nicht um eine Strophe.[1] Der Einfachheit halber nenne ich jedoch alle Versgruppen Strophen. [nein, besser nicht]
Statt, wie sonst üblich, durch eine Leerzeile voneinander abgesetzt, sind die einzelnen Strophen durch einen mittig gesetzten, kurzen Strich voneinander getrennt. Der Durchschuss zwischen dem letzen Vers der vorangehenden und dem ersten Vers der folgenden Strophe entspricht jedoch dem einer Leerzeile.
Neben diesen Strichen, dem ebenfalls mittig und in größerem Schriftgrad gesetzten Titel und den Strophen finden sich keine weiteren Elemente wie beispielsweise eine Widmung, ein Datum oder ein Motto. Schriftart, -größe und eventuell auch -position erklären sich mit den heutigen Satz- und Druckkonventionen. Das Setzen der horizontalen Striche zwischen den Strophen ist jedoch unüblich; ein Indiz, dass sie Teil des Gesamttextes sind.
Unabhängig davon, ob der vorangehende Vers mit einem Satzzeichen endet, beginnt der nachfolgende mit einem Großbuchstaben, eine für Gedichte nicht untypische Konvention. Die heute nicht mehr gebräuchliche Rechtschreibung (beispielsweise V. 12 gieb, V. 17 zweyerley) war zur Entstehungszeit des Gedichtes üblich.
3. Aussageinstanzen
Ein artikuliertes Ich tritt in der dritten Strophe sowie in den Versen 13, 21 und 22 durch die Verwendung von Personalpronomina der ersten und zweiten Person Singular (V. 11, 13 ich, V. 10 mich, V. 10, 12, 21 du/Du, V. 21, 22 dich), Verben der ersten und zweiten Person Singular (beispielsweise V. 11 ich handle, V. 10 du weißt) und einem Possessivpronomen der ersten Person Singular (V. 12 meinem) in Erscheinung.
Während es sich in den Versen 9 bis 14 an Gott wendet, spricht[2] es in den Versen 21 und 22 nicht mehr zu ihm, sondern über ihn und richtet sich an ein nicht näher bestimmtes Du. Mit diesem Wechsel des Ansprechpartners liegt eine Apostrophe vor.
In den Versen 1 bis 8 und 15 bis 20 fehlen Pronomina oder Verben der ersten und/oder der zweiten Person. Ihr Fehlen birgt zwei verschiedene Deutungsmöglichkeiten, welche Aussageinstanz an diesen Stellen zu Wort kommt.
Zum einen können diese Passagen als Gedanken des artikulierten Ichs verstanden werden. Zum anderen besteht die Möglichkeit, von einer zum artikulierten Ich hinzutretenden Aussageinstanz auszugehen, da ein Wechsel der Aussageinstanzen innerhalb eines Gedichtes grundsätzlich jederzeit möglich ist.
Die zweite Möglichkeit überzeugt eher, da in den erwähnten Passagen nicht von persönlichen Erlebnissen, Eindrücken, Gedanken oder Gefühlen die Rede ist, sondern intersubjektiv gültige Aussagen getroffen werden. Zudem thematisiert das Gedicht Gegensätze oder doch zumindest verschiedene Aspekte einer Sache, die gemeinsam ein Ganzes bilden (zum Beispiel V. 1 und 2 Orient/Occident, V. 3 und 4 nord[liches Gelände]/südliches Gelände [ Die beiden Paare Norden/Süden und Osten/Westen stehen sich als vertikale und horizontale Richtungen des Kompasses noch einmal gegenüber] , V. 9 und 10 verwirren/entwirren, V. 15 Staube/Geist, V. 19 bedrängt/erfrischt.). Hierzu passt das Vorhandensein zweier Aussageinstanzen, deren Zusammenwirken das Gedicht als Gesamtkunstwerk entstehen lässt.
Burdorf behält nur fiktionalen Gedichten den Fachterminus „fiktiver Erzähler“ für eine solche körperlose, nicht fassbare, nicht am von ihr erzählten Geschehen beteiligte Erzählinstanz vor.[3] Bei den ersten beiden Strophen des Talismane handelt es sich jedoch eher um afiktionale [?] Gedankenlyrik;[4] zudem existiert für diese Form der Erzählinstanz keine einheitliche, allgemein gebräuchliche Terminologie. Deswegen spreche ich mit den Worten der Erzähltextananlyse von einer extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählinstanz. Deren angesprochenes Pendant ist der narrative Adressat.[5]
Ob in den Versen 15 und 16 noch das artikulierte Ich oder schon die extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählinstanz spricht, ist nicht eindeutig auszumachen.
In den ersten beiden Strophen bleibt die Erzählinstanz körperlos, nicht fassbar und unbeteiligt. Sie steht über dem von ihr geschaffenen Werk wie Gott über der realen Welt. Sie trifft intersubjektive, scheinbar allgemeingültige Aussagen über Gott und sein Verhältnis zur Welt. So erzeugt sie zunächst den Eindruck von Neutralität, Unabhängigkeit und Allgemeingültigkeit. Zu diesem Eindruck trägt auch die Verwendung des Präsens bei.
Auf den zweiten Blick wird klar, dass hier keineswegs eine neutrale Beschreibung vorliegt. Zum einen behauptet die Erzählinstanz, dass Gott über die Welt gebietet, zum anderen bewertet sie dieses Gebieten positiv: Gott schenkt der Menschheit Frieden (Stophe 1) und Gerechtigkeit (Strophe 2). Im Gegenzug sollen die Menschen ihn dafür loben. Ein Gotteslob bzw. eine Lobpreisung Gottes aber ist ein Gebet, und durch das Amen erhalten die ersten beiden Strophen selbst den Charakter eines Gebets. Die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz tut das, was sie sich von den Menschen erhofft: Sie lobt Gott, sie spricht ein Gebet. Da ein Gebet mit Amen endet, und da die Erzählinstanz in der dritten Strophe wechselt, bilden die ersten beiden Strophen eine in sich geschlossene Einheit. Das Amen markiert den Schluss dieser Einheit sehr deutlich, zusätzlich verstärkt es das Sey ... hochgelobet (V. 7 und 8), da Amen wörtlich “so sei es” bedeutet.
In der dritten und vierten Strophe spricht ein artikuliertes Ich über sein Verhältnis zu Gott. Genau wie das Verhältnis von Gott zur Menschheit, ja sogar zur ganzen Schöpfung (metonymischer Gebrauch des Wortes Gelände in V. 3) wird das Verhältnis von Gott zum Einzelnen als positiv und hilfreich angesehen. Gottes Geschenke an das artikulierte Ich sind Halt, Orientierung und dadurch Sicherheit im Diesseits (V. 12 Richte) und das ewige Leben im Jenseits (V. 14 höherem Gewinne, V. 15 und 16 der Geist/dringet nach oben). Auch in diesen Sätzen wird durch die Verwendung des Präsens zum Ausdruck gebracht, dass es sich nicht um einmalige oder gelegentlich zugeteilte Gaben handelt, sondern dass Gott immer für das artikulierte Ich sorgt.
Ebenso wie die ersten beiden Strophen bilden auch die dritte und vierte Strophe zusammen eine in sich geschlossene Einheit. Dennoch teilen diese vier Strophen auf inhaltlicher und formaler Ebene so viele Gemeinsamkeiten, dass sie nicht wie zwei voneinander unabhängige Strophengruppen wirken.
Bezüglich der Erzählinstanzen bildet die fünfte Strophe die ersten vier noch einmal im Kleinen ab: Zu Beginn spricht die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz, zum Schluss redet das artikulierte Ich. Ebenso wie in den ersten beiden Strophen wird Gott zunächst gepriesen (V. 1 bis 6 resp. V. 17 bis 20), um daraus ein Handeln der Menschen abzuleiten: Gott loben (V. 7 und 8) und ihm danken (V. 20 und 21).
Anders als in den Versen 1 bis 6 beschränkt sich die Nennung dessen, was Gott den Menschen zuteil werden lässt, nicht mehr nur auf das eindeutig Schöne und Gute (V. 19 Jenes bedrängt). Aber gerade das Zusammenspiel von Gutem und Schlechten, von Leichtem und Mühsamen, Angenehmem und Unangenehmen wird als wunderbar ... gemischt bezeichnet. Konsequenterweise fordert das artikulierte Ich das Du zum Dank auf, und zwar auch für all das dem Menschen zunächst schlecht Erscheinende (V. 21 Du danke Gott, wenn er dich preßt), denn auch diese Dinge sind eine Gnade[n] Gottes.
4. Vers- und Satzstruktur
4.1. Syntaktische Struktur
Ein parataktischer Stil kennzeichnet das Gedicht. Einzelne Sätze kommen ungefähr ebenso häufig vor wie Satzverbindungen. Alle Sätze sind relativ kurz und beim ersten Lesen leicht zu verstehen. [na ja, da wäre ich mir nicht so sicher…]
Gleich zu Beginn stehen zwei zu je einem Ausrufesatz umgeformten Aussagesätze. Durch diese Ausrufe an Stelle der Aussagen wird dem Gesagten mehr Nachdruck verliehen. Gleiches gilt für den Wunsch,[6] den die extradiegetisch-heterodiegetische Aussageinstanz am Ende der zweiten Strophe äußert (V. 7 und 8 Sey, von seinen hundert Namen, dieser hochgelobet!). Als Gegenstücke zu diesen Exklamationen kann man die Aufforderungssätzen des Gedichtes sehen, welche alle mit einem Punkt enden (V. 12 Gieb du meinem Weg die Richte., V. 21 und 22 Du danke Gott, wenn er dich preßt,/und dank‘ ihm, wenn er dich wieder entläßt.) Dadurch wirken sie nicht so hart und haben eher den Charakter von Bitten als von Befehlen oder Anflehungen.
Verteilen sich, wie es im vorliegenden Gedicht häufig der Fall ist, Haupt- und ihnen zugeordnete Nebensätze oder zwei Hauptsätze einer Satzverbindung auf zwei Verse, liegt eine Grenzform zwischen Zeilenstil und Enjambements vor[7] (beispielsweise V. 9 und 10 Mich verwirren will das Irren;/Doch du weißt mich zu entwirren., V. 11 und 12 Wenn ich handle, wenn ich dichte/Gieb du meinem Weg die Richte.) Neben dieser Grenzform finden sich auch eindeutig sowohl durch Enjambements auf zwei Verse verteilte Sätze (V. 3 und 4 Nord- und südliches Gelände/Ruht im Frieden seiner Hände.) als auch Sätze, die an der Versgrenze enden (V. 1 Gottes ist der Orient!).
Wenn man überhaupt ein Merkmal als charakteristisch für das Gedicht bezeichnen könnte, dann die Ausgeglichenheit, die wunderbar[e] Mischung zwischen allen Formen des Verhältnisses von Versen und Sätzen.
Die Konjunktion „ob“ steht heute in abhängigen Entscheidungsfragesätzen,[8] das heißt sie benennt mindestens zwei Alternativen, zwischen denen sich jemand entscheiden kann. Zur Entstehungszeit des Gedichtes hatte „ob“ jedoch noch die Funktion eines Konditionalpartikels[9] und entspricht damit [(ungefähr)] dem heute verwendeten „wenn“. Statt Ob ich Ird’sches denk‘ und sinne/Das gereicht zu höherem Gewinne (V. 13 und 14) hieße es heute: [auch wenn] Wenn ich ... [sehr gut!]
4.2. Syntaktische Figuren
Entgegen der Syntax der Alltagssprache sind in vielen Sätzen die Satzglieder umgestellt. So stehen Satzglieder zwar in ununterbrochener, aber ungewöhnlicher Abfolge, es liegt eine Anastrophe vor (zum Beispiel V. 1 Gottes ist der Orient!, V. 9 Mich verwirren will das Irren;, V. 20 So wunderbar ist das Leben gemischt). In anderen Sätzen wird ein Satzglied zwischen zwei andere eingeschoben; das Hyperbaton unterbricht den Satzfluss (V. 5 und 6 Er der einzige Gerechte/will ..., V. 7 und 8 Sey, von seinen hundert Namen, dieser hochgelobet!, V. 16 Dringet, in sich selbst gedrängt, nach oben).
Durch all diese Umstellungen erhalten andere Satzglieder ein höheres Gewicht als es bei der normalen Satzstellung der Fall wäre. ((Kommentar des Dozenten bei der Besprechung: Das ist bei der Umstellung immer der Fall.)) So liegt beispielsweise das Augenmerk des Satzes Mich verwirren will das Irren; auf mich verwirren. Die Umstellung hebt den Zustand des Verwirrtseins eines Menschen, das heißt das subjektive Moment hervor, nicht das außerhalb des Menschen Liegende, das diesen Zustand hervorruft. Denn anders als die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz beschreibt das artikulierte Ich nicht die Welt und ihr Verhältnis zu Gott, sondern sein persönliches Wahrnehmen und sein persönliches Verhältnis zu Gott. Ein anderes Beispiel ist die Voranstellung der Genitivergänzung in den ersten beiden Sätzen. Durch sie wird hervorgehoben, dass niemand anders als Gott über die Welt gebietet. Außerdem klingt die Sprache durch die Verwendung von Anastrophen poetischer und erhabener. Eine solch erhabene Sprache ist dem Lob Gottes besonders angemessen.
In Vers 15 fehlt das für einen grammatisch korrekten Satz erforderliche “ist”. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Ellipse [ist noch etwas komplizierter] dazu dient, das regelmäßige Metrum beizubehalten und von der Tatsache abzulenken, dass mit zerstoben gerade bei einer intersubjektiven religiösen „Tatsache” eine Vergangenheitsform vorliegt. Zudem spricht das artikulierte Ich von einem Geschehnis, das für es noch in der Zukunft liegt.
5. Metrum, Reimschema und Kadenzen
„Reime verbinden Verse miteinander.“[10] Im Talismane reimen sich jeweils zwei aufeinanderfolgende Verse. Solche Paarreime teilen die ersten vier Strophen in zwei Gruppen von jeweils zwei besonders eng miteinander verknüpfte Verse ein. Das durchgängige Motiv der Zweiheit, des Dualismus wird auch im Reimschema aufgenommen. [sehr gut!]
Acht der elf Verspaare enden mit einem einsilbigen oder männlichen Reim, drei [genau umgekehrt] mit einem weiblichen oder zweisilbigen. Alle Reime sind rein. Am Ende von Vers 12 benutzt das artikulierte Ich sogar statt des korrekten Wortes Richtung den Neologismus Richte, damit auch hier ein reiner Reim vorliegt.
Stehen die Reimwörter nicht erst am Versende, sondern schon innerhalb eines Verses (V. 9 verwirren und Irren), oder in der Mitte verschiedener Verse (gedrängt in V. 16 und bedrängt in V. 19) [Abstand zu groß], bilden sie einen Binnenreim. Das Reimwortpaar Gerechte/Rechte in der zweiten Strophe ist sowohl ein erweiterter als auch ein grammatischer [paranomatischer] ((d. h. kein grammatischer)) Reim. Im vorliegenden Fall ist die Bindung der Reimwörter untereinander jedoch bei einem grammatischen Reim größer, da neben der reinen Lautähnlichkeit auch eine Bedeutungsnähe der Reimwörter vorhanden ist.
Die Verse 1 bis 13 weisen je vier Hebungen auf, zwischen denen je eine Senkung liegt. In den Versen 14 bis 16 wird dieses alternierende Schema beibehalten, die Verse umfassen jetzt nicht mehr nur vier, sondern fünf Hebungen. Mit Ausnahme der ersten beiden Verse enden alle Verse der ersten vier Strophen mit einer weiblichen Kadenz, ohne Ausnahme beginnen sie auftaktlos, so dass, von den beiden ungefugten Versübergängen zu Beginn des Gedichtes abgesehen, gefugte Versübergänge vorliegen und die Alternation zwischen Hebungen und Senkungen – und damit der Lesefluss – nicht unterbrochen wird. Die ersten beiden Verse des Gedichts sind Liedverse, die folgenden elf Verse Romanzenverse.
„Auftaktlose ... Verse schaffen ... oft eine ruhige Atmosphäre“,[11] so auch im Talismane. Die weiblichen Kadenzen und die gefugten Versübergänge verstärken diesen Eindruck noch.
Das Metrum der ersten vier Strophen weist eine große Regelmäßigkeit auf, manche Wörter sind sogar verlängert (beispielsweise V. 8 hochgelobet, V. 14 Gewinne) oder verkürzt (zum Beispiel V. 3 Nord-[liches] Gelände oder die Elisionen Ird’sches denk‘ in V. 13), um diese strenge Regelmäßigkeit beibehalten zu können.
Die Vers libres [Knittelverse!] der fünften Strophe unterscheiden sich deutlich von den Versen aller anderen Strophen. Da sie sind metrisch nicht gebunden sind,[12] weisen sie, ebenso wie die Prosasprache, keine regelmäßige Abfolge betonter und unbetonter Silben auf.[13] Die Ordnung der ersten vier Strophen löst sich auf: Freie Füllungen (zum Beispiel in V. 17 xXxxxxXxxXx) finden sich ebenso wie aufeinanderprallende Hebungen (zum Beispiel in V. 19 XxxXXxxX). Teilweise sind sogar verschiedene Betonungen möglich, so in V. 18 xxXxxXxxxXx oder xXxxxXxxxXx. Jeder Vers steht für sich und erhält dadurch ein besonderes Gewicht.
Diese metrischen Besonderheiten, die höhere Versanzahl und die Hinwendung des artikulierten Ichs an ein Du weisen darauf hin, dass die fünfte Strophe den Schwerpunkt des Gedichtes bildet. Tatsächlich enthält Vers 20 die Kernaussage des Gedichtes, die gleichsam das bisher Gesagte zusammenfasst: So wunderbar ist das Leben gemischt.
Mit dem 20. Vers könnte das Gedicht eigentlich enden. Das artikulierte Ich leitet indes aus dem bisher Gesagten eine Anweisung für das Du ab: Dieses soll Gott danken.
[(„falsch“ beschrieben, aber passabel begründet…)]
6. Rhetorische Techniken
6.1. Klangfiguren
In jeder Strophe alliterieren Wörter eines Verses oder verschiedener Verse miteinander (beispielsweise in Strophe 3 will/weißt/wenn, wenn/Weg oder in Strophe 4 gereicht Gewinne/Geist/gedrängt). Oft finden sich im nahen Umfeld dieser Wörter Konsonanzen desselben Mitlautes (zum Beispiel in Strophe 3 verwirren/entwirren [stärker bestimmt!] ((d. h. dieses Wortpaar ist nicht nur durch Konsonanzen bestimmt, sondern darüber hinaus noch eine organische Paronomasie, siehe 6.2)) oder in Strophe 4 Dringet gedrängt) sowie Assonanzen (zum Beispiel in Strophe 4 ich Ird’sches sinne/Gewinne/Mit nicht/Dringet in sich). Diese Klanggebilde verbinden die Wörter der jeweiligen Strophe miteinander. Die vielen hellen Vokale sowie die weichen und stimmhaften Konsonanten schaffen eine ruhige, freundliche Atmosphäre.
Die Anaphern (V. 1 und 2 Gottes ist der Orient!/Gottes ist der Occident!, V. 11 Wenn ich handle, wenn ich dichte, V. 21 und 22 wenn er dich preßt/wenn er dich wieder entläßt) treten im Talismane immer in Verbindung mit Parallelismen auf. Sie verstärken die Verbindung der einzelnen Sätze oder Satzeinheiten untereinander.
6.2. Wiederholungsfiguren
In allen über das gesamte Gedicht verteilten Parallelismen weicht der zweite Satz oder Satzteil nur insofern vom ersten ab, als in ihm ein Wort oder Ausdruck durch sein Gegenteil oder einen inhaltlich stark abweichenden Begriff ersetzt wird, so in den Versen 1 und 2, 11, 19 sowie 21 und 22. Die formale Gemeinsamkeit des Satzbaus steht in allen Parallelismen in einem Spannungsverhältnis zu den inhaltlich voneinander abweichenden Aussagen. Das Augenmerk wird durch diese Konstruktion auf die beiden Begriffe und damit auf ihre Unterschiedlichkeit oder sogar Gegenteiligkeit gelenkt. Die Gleichheit des Satzbaus und der Wortwahl verbindet die Begriffe wieder miteinander, sie betont die Gleichwertigkeit und die Gemeinsamkeiten trotz der Unterschiede: So bedeuten beispielsweise die metonymisch gebrauchten Begriffe Orient und Occident (V. 1 und 2) nicht nur verschiedene Regionen, sondern gleichzeitig auch verschiedene, sich voneinander abgrenzenden Kulturen und Religionen. Dennoch sind beide Gottes (V. 1 und 2), und nur zusammen sind sie „die ganze Welt“. Gott läßt den Menschen sowohl Unangenehmes, Schlechtes (V. 19 Jenes bedrängt, V. 21 wenn er dich preßt) als auch Gutes zuteil werden (V. 19 dieses erfrischt, V. 22 wenn er dich wieder entläßt), die Dankbarkeit der Menschen soll sich auf beides beziehen.
Handeln und Dichten stehen sich sogar erst durch den parallelen Satzbau und durch den Bezug zu den anderen Parallelismen als Gegensätze gegenüber. Und das artikulierte Ich verwirklicht das, wovon es gerade spricht: Das Dichten, denn es spricht selbst in Versen und dichtet damit. Durch diesen Parallelismus wird der hohe Stellenwert, den das Dichten für das artikulierte Ich einnimmt, hervorgehoben. [sehr gut!]
Die organische Paronomasie der Gerechte (V. 5) und das Rechte (V. 6) betont die Bedeutungsverwandschaft zwischen den beiden Begriffen. Die beiden Wörter verstärken und bestätigen sich gegenseitig. Rechte erinnert zudem an die christlichen Floskeln „Das ist würdig und recht“ sowie „Er sitzt zur Rechten Gottes“. Diese Assoziationen verstärken die Bindung von (Ge)Recht und Gott.
Hingegen betont die organische Paronomasie verwirren (V. 9) und entwirren (V. 10) den Gegensatz zwischen menschlichem, hilflosen und göttlichem, helfenden Handeln.
Auch die organische Paronomasie Staub und zerstoben (V. 15) betont die Verwandtschaft der Wortbedeutung beider Begriffe. Die so betonte Sterblichkeit und Vergänglichkeit des Körpers (metaphorisch als Staube bezeichnet) steht zudem der Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit der Seele gegenüber.
Je nachdem, ob ich denk in Vers 13 ausdenken oder nachdenken meint und je nachdem, ob ich sinne ersinnen oder nachsinnen meint, kann eine Synonymia (bei nachdenken und nachsinnen oder ausdenken und ersinnen) oder eine koordinierende Häufung vorliegen (bei nachdenken und ersinnen oder ausdenken und nachsinnen). Zu höherem Gewinne könnte beides gereichen; mit Blick auf die in den anderen Versen vorkommenden Begriffe, die zwei verschiedene Dinge meinen, liegt es nahe, eine koordinierende Häufung anzunehmen. ((Dozent war eher für Synonymia))
6.3. Substitutionsfiguren (Tropen)
Schon die Überschrift des Gedichtes ist ein als Metapher verwendetes Synonym: Talisman, ein aus dem Arabischen stammendes Fremdwort, bezeichnet ein geheimes Zaubermittel, ein Zauberbild, und zwar sowohl in der eigentlichen als auch in der (heute nicht mehr gebräuchlichen) bildlichen Bedeutung.[14] ((entweder Metapher oder Synonym, Gedanke ist nicht ganz sauber)) Die eigentliche Bedeutung kann kaum gemeint sein, denn von einem Glück bringenden oder schützenden Gegenstand ist im Gedicht nicht die Rede. Glück bringend und schützend ist für den Gläubigen der Glaube. Die Verwendung des Plurals Talismane lässt die Schlussfolgerung zu, dass nicht nur eine Religion die allein seligmachende ist. Den Glauben allgemein allerdings mit einem Zauberbild gleichzusetzen hieße, in ihm ein Trugbild zu sehen. Noch dazu kann keinem Gläubigen daran gelegen sein, den Glauben geheim zu halten – im Gegenteil, er möchte zu dessen Verbreitung und Verkündung beitragen. Vielleicht erschließt sich die Bedeutung aus einer anderen, zur Entstehungszeit des Gedichtes geläufigen Bedeutung oder Assoziation, oder aber die Bedeutung erklärt sich aus der Gedichtsammlung, aus der das Gedicht stammt. ((Wer sich gefragt hat, was uns der Dichter damit sagen wollte: Ursprünglich sollte ein anderes Gedicht Talismane heißen bzw. dieses Gedicht sollte einen anderen Titel haben. Der Setzer hat sich damals vertan…))
Wenn das nord- und südliche[...] Gelände (V. 3) personifiziert ((personifiziert ist nicht so sehr das Gelände, sondern Gott selbst)) wird und im metaphorischen Sinne im Frieden von Gottes Händen ruht (V. 4), beschreibt dieses Bild anschaulich in wenigen Worten, dass die Menschen nicht in Angst und Schrecken, in Hektik, Unsicherheit und Misstrauen leben müssen, sondern sie können im Vertrauen auf Gott sicher, angstfrei, gelassen und glücklich sein.
Im Gegenzug sollen sie Gott zutiefst dankbar sein und ihn aus vollem Herzen loben. Das artikulierte Ich fordert dazu mit der hyperbolischen Formulierung Sey ... hochgelobet (V. 7 und 8) auf.
Der Orient (V. 1) steht als Synonym für das Morgenland, der Occident (V. 2) für das Abendland. Allerdings klingen diese Wörter genauso fremdländisch, wie es der Orient für die meisten Bewohner des Abendlandes wohl war und ist.
Die Periphrase Er der einzige Gerechte (V. 5) betont die Gerechtigkeit von allen lobens- und preisenswerten Eigenschaften Gottes. Die Fülle göttlicher Eigenschaften wird durch die hyperbolische Wendung hundert Namen (V. 7) bezeichnet. ((Bei dieser mehr oder weniger abgegriffenen Formel sollte man lieber nicht von hyperbolisch sprechen)) Da die göttlichen Eigenschaften jedoch für den Menschen unzählbar sind, liegt neben einer Hyperbel auch eine Metonymie vor. [?] Wenn das artikulierte Ich von höherem Gewinne (V. 14) spricht, meint es mit dieser Periphrase das ewige Leben.
Bevor es jedoch vom Sterben spricht, bittet das artikulierte Ich Gott um Orientierung und Halt im Leben mit der metaphorischen Formulierung, seinem Weg die Richte zu geben (V. 12).
Mit den ebenfalls metaphorischen Formulierungen wenn Gott dich preßt (V. 21) und wenn er dich wieder entläßt (V. 22) nennt das artikulierte Ich das, wofür das Du Gott danken soll: Gott übt Druck aus, Gott prüft das Du dadurch, dass er ihm Schlechtes zuteil werden lässt, Gott lässt das Du leiden. Aber er entlässt das Du auch wieder aus diesem Leiden, er lässt ihm wieder Gutes zuteil werden. Gott schenkt dem Du wieder etwas, woran dieses sich freuen kann.
Die Allegorie der Verse 17 bis 19 bestätigt, dass auch das Bedrängende, das Unangenehme eine Gnade Gottes ist. (Im Atemholen sind zweyerley Gnaden: Die Luft einziehn .../ Jenes bedrängt.) Zu der bisherigen Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Dinge tritt die Gegenüberstellung zweier Aspekte einer einzigen Sache. Neben der wörtlichen Bedeutung steht das Atemholen als lebenswichtiger und lebenserhaltender Prozess stellvertretend für alle Handlungen eines Menschen. Genau wie das Atemholen zwei Seiten hat, eine bedrängende und eine erfrischende, wohnt auch allen menschlichen Handlungen und überhaupt allen Dingen der Schöpfung immer Angenehmes, Gutes und Unangenehmes, Schlechtes inne. Gerade das Zusammenspiel der beiden Aspekte macht aber die wunderbare Mischung des Lebens aus. [sehr gut!]
7. Schlussbemerkung
Das Gedicht ist eine Lobpreisung Gottes und seiner Schöpfung. Die Lobpreisung beschränkt sich dabei nicht nur auf das Schöne und Gute, dessen Darstellung im Gedicht allerdings überwiegt. Sie schließt auch das ihm gegenüberstehende und es ergänzende, allen Dingen immanente, dem Menschen aber zunächst vielleicht nicht begreifliche Schlechte mit ein. Das immer wiederkehrendes Motiv der Zweiheit und des Dualismus wird besonders durch die vielen Parallelismen herausgehoben. Gerade der Gegensatz zwischen Gutem und Schlechtem macht das Leben abwechslungsreich und lebenswert, wunderbar gemischt. Wenn man wunderbar gemischt als einen ausgewogenen Zustand zwischen Chaos und Monotonie versteht, ist auch das vorliegende Gedicht wunderbar gemischt, zum Beispiel bezüglich der Versverteilung (4 resp. 6 Verse pro Strophe), der Aussageinstanzen, des Metrums (Romanzen- bzw. Liedverse und vers libres) und der Syntax.
Die Erzählinstanzen beschränken sich nicht auf die Lobpreisung. Darüber hinaus fordert das artikulierte Ich ein nicht näher bestimmtes Du zum Dank auf. Diese Aufforderung kann der reale Leser auch auf sich beziehen.
8. Literaturverzeichnis
Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Stuttgart / Weimar 1997.
Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999.
Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel / Frankfurt am Main 1995.
Lutz Götze, Ernest W. B. Hess-Lütich: Grammatik der deutschen Sprache. Sprachsystem und Sprachgebrauch, Köln 2004.
Einzelbewertung
1. Einleitung (max. 1 Bonuspunkt) 0
2. Aufbau/Textelemente (max. 3 Pkt.) 2
3. Aussageinstanzen (max. 3 Pkt.) 3
4. Vers- und Satzstruktur (max. 6 Pkt.) 5
5. Metrum, Reimschema, Kadenzen (max. 9 Pkt.) 7
6. Rhetorische Figuren (Klang, Wiederholung, Tropik) (max. 9 Pkt.) 7
7. Schlussbemerkung (max. 1 Bonuspunkt) 1
Max. 30 Pkt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
[1] Vgl. Burdorf, S. 73 f.
[2] Bei Aussage-, Erzähl- oder narrativen Instanzen handelt es sich nicht um Personen oder Erzähler, sondern um
strukturelle Funktionen des Textes, der Text ruft den Effekt der Personalität hervor. Genau genommen können
diese Instanzen daher auch nicht sprechen, sondern ihre Verwendung suggeriert, dass jemand spricht („Etwas
tut so, als würde jemand sprechen“). Vgl. auch Martinez/Scheffel, S. 85. [gut]
[3] Vgl. Burdorf, S. 203.
[4] Vgl. Burdorf, S. 168
[5] Vgl. Martinez/Scheffel, S. 85.
[6] Vgl. auch Grammatik der deutschen Sprache, S. 381.
[7] Vgl. auch Burdorf, S. 64.
[8] Vgl. Grammatik der deutschen Sprache, S. 325.
[9] http://germa63.uni-trier.de:8080/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?lemid=GO00008 oder: http://www.dwb.uni-trier.de à Online-DWB aufschlagen à Stichwort: ob (26.01.2005). [ (wäre die Bibliotheksform des DWB nicht einfacher nachzuweisen?)]
[10] Burdorf, S. 33.
[11] Burdorf, S. 78.
[12] Vgl. Burdorf, S. 123.
[13] Vgl. Burdorf, S. 11.
[14] http://germa63.uni-trier.de:8080/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?lemid=GT00721 oder: http://www.dwb.uni-trier.de à Online-DWB aufschlagen à Stichwort: Talisman, (26.01.2005).
- Arbeit zitieren
- Dorothea Goeth (Autor:in), 2005, Textanalytische Übung zu Goethe: Talismane, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109623
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