Diese Arbeit betrifft das Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit, wie es sich im Licht von Walter Benjamins Theorie der Erfahrung darstellt. Inwiefern der Begriff der Erfahrung als ein Kernstück von Benjamins Philosophie und insbesondere seiner Ästhetik verstanden werden kann, soll im Laufe der Untersuchung aufgezeigt werden. Das allerdings die Art der Erfahrung die Kunst in ihrer Substanz zu treffen vermag, dafür soll eine Andeutung Heideggers aus dem Nachwort zum "Ursprung des Kunstwerkes" stehen: "Alles ist Erlebnis. Doch vielleicht ist das Erlebnis das Element, in dem die Kunst stirbt. Das Sterben geht so langsam vor sich, daß es einige Jahrhunderte braucht.".1
Obwohl Benjamin zeitlebens gegen Heidegger polemisiert hat, könnten doch diese Sätze geradezu als progammatisch für Benjamins eigenen Ansatz aufgefasst werden.2 Aber lange bevor Heidegger diese Vermutung im "Ursprung des Kunstwerks" ausspricht, hat Benjamin bereits im "Ursprung des deutschen Trauerspiels" eine kritische Alternative zu jedweder Erlebnisästhetik entworfen.3 In dessen "Erkenntniskritischer Vorrede" bündelt er noch einmal die Erkenntnisse, welche er unter anderem auch aus der Auseinandersetzung mit dem Erfahrungsbegriff der Aufklärung und der Romantik gewonnen hat. Sein eigener Erfahrungsbegriff ist bereits von Anfang an als Gegenbegriff zum lebensphilosophischen Einfühlungserlebnis gesetzt.
Frühestes Zeugnis für die Auseinandersetzung mit dem Problem der Erfahrung ist ein Artikel von Benjamin in der "Zeitschrift für die Jugend" vom Oktober 1913. Der Artikel steht unter der Überschrift: "Erfahrung". Darin lehnt sich der Einundzwanzigjärige selbstbewußt gegen eine Erfahrung in Anführungszeichen auf - gegen die, wie er es nennt, "Erfahrung" des Philisters. Es ist dies eine graue und übermächtige Erfahrung, die ausdruckslos, undurchdringlich und immer gleich auf Sinnlosigkeit des Lebens besteht. Der junge Benjamin polemisiert hier gegen die Attitüde abgeklärter Lebenserfahrung, mit der Jugend, Ideale, und Hoffnungen durch Kompromisse, Ideenarmut und Schwunglosigkeit ersetzt werden.
"Wir kennen aber Andres, was keine Erfahrung uns gibt oder nimmt: daß es Wahrheit gibt, auch wenn alles bisher Gedachte Irrtum war."4 Geradezu emphatisch redet Benjamin einer Erfahrung das Wort, die von einem geistigen Inhalt erfüllt sein soll: "Wir selber aus unserem Geist werden ihr Inhalt geben." [...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- I. Die Erkenntnis der Erfahrung
- II. Die Erfahrung der Sprache
- Sprache überhaupt
- geistiges und sprachliches Wesen
- Rekurs Theologie
- göttliche Sprache
- adamitische Namensprache
- menschliche Sprache
- mimetische Sprachtheorie
- sinnliche und unsinnliche Ähnlichkeiten
- Schrift
- Lesen
- semiotische und magische Sprachebene
- Philologie
- Geschichtsphilosophie
- lesen
- III. Die Erfahrung der Kunst
- Zusammenhang Sprache-Kunst
- Kunstformen
- Schönheit
- Sachgehalt und Wahrheitsgehalt
- nicht-auratische Kunst
- Schockerlebnis
- Eingedenken
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Dissertation "Gefährlich Lesen" von Kai-Uwe Hasenheit untersucht das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit im Licht von Walter Benjamins Theorie der Erfahrung. Ziel ist es, den Erfahrungsbegriff als zentralen Bestandteil von Benjamins Philosophie und Ästhetik zu analysieren und aufzuzeigen, wie Kunst die Wirklichkeit in ihrer Substanz treffen kann.
- Benjamins Kritik an Kants Erfahrungsbegriff und der Suche nach einem umfassenderen Erfahrungsbegriff
- Die Rolle der Sprache als Medium der Erfahrung und der Unterscheidung zwischen göttlicher, adamitischer und menschlicher Sprache
- Das mimetische Vermögen als Grundlage der unsinnlichen Ähnlichkeiten und die Bedeutung des Lesens für die Erfahrung von Kunst und Geschichte
- Die Herausforderungen der modernen Erfahrung, die durch das Schockerlebnis und den Verlust der Aura geprägt sind
- Die Bedeutung der Kunstkritik für die Erschließung des Wahrheitsgehalts von Kunstwerken
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der Dissertation ein und stellt Benjamins Theorie der Erfahrung als Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung vor. Sie beleuchtet die Kritik an der "gottlosen Erfahrung" und die Suche nach einer "metaphysisch erfüllten Erfahrung".
Kapitel I analysiert Kants Erkenntnisbegriff und zeigt die Grenzen seiner Erfahrungstheorie auf. Benjamin kritisiert die Reduktion der Erfahrung auf empirisches Bewusstsein und die Vernachlässigung der "Art der Erfahrung" selbst. Er argumentiert für einen Erfahrungsbegriff, der auf einem transzendentalen Bewusstsein beruht und die Einheit von Erfahrung und Erkenntnis ermöglicht.
Kapitel II befasst sich mit Benjamins Sprachphilosophie. Er unterscheidet zwischen drei Sprachebenen: göttliche Sprache, reine adamitische Namensprache und menschliche Sprache. Die Unterscheidung zwischen Namen und Wort als Ausdruck von Erkenntnis und Mitteilung spielt eine zentrale Rolle. Benjamin argumentiert für die Magie der Sprache, die sich in der "intensiven Totalität" des Sprechens und der unsinnlichen Ähnlichkeiten manifestiert.
Kapitel III widmet sich der Erfahrung der Kunst. Benjamin zeigt, wie Kunstformen wie Malerei, Musik und Poesie auf unterschiedlichen Sprachebenen basieren und die "Sprache der Dinge" in die Sprache der Kunst übersetzen. Die Kunstkritik spielt eine entscheidende Rolle bei der Erschließung des Wahrheitsgehalts von Kunstwerken, der sich in der Aura manifestiert. Die Moderne ist durch den Verlust der Aura und das Schockerlebnis gekennzeichnet, was zu einer Krise der Kunst führt.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen Walter Benjamins Theorie der Erfahrung, den Erfahrungsbegriff, die Sprache als Medium der Erfahrung, die mimetische Sprachtheorie, unsinnliche Ähnlichkeiten, das Lesen als Erfahrung, die Kunstkritik, das auratische Kunstwerk, das Schockerlebnis und die Moderne. Die Dissertation untersucht die Bedeutung dieser Themen für die Analyse von Kunst und Wirklichkeit und stellt Benjamins einzigartige Perspektive auf diese Themen vor.
- Citar trabajo
- Kai-Uwe Hasenheit (Autor), 1994, Gefährlich Lesen - Walter Benjamins Theorie der Erfahrung, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10949
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