Walter Grode
Grundwiderspruch: >Behinderte Identität<
Die Bremer Sommeruni 2003: >Disability Studies - Behinderung neu denken<
(Erschienen 2003 in: >die taz nord/bremen< und 1992 in >Dr.med. Mabuse< - Zeitschrift im Gesundheitswesen)
>Kein Rolli, keine Chance< betitelte die taz ihren Artikel über die Bremer Sommeruni 2003 und wies schon im Untertitel milde darauf hin, daß die Unterschiede unter den Teilnehmern größer waren, als die Veranstalter voraussehen konnten.
>Für Behinderte ist Ausgrenzung Alltag, schrieb Eiken Bruhn (2003). In das Gebäude kommen sie nicht herein, weil es keinen Fahrstuhl gibt. Als Kinder werden sie in die Sonderschule abgeschoben. Die Stelle kriegen sie nicht, weil ihre statistische Lebenserwartung zu niedrig ist. Auf der seit Montag an der Bremer Universität laufenden Behinderten Sommer-Universität "Disability Studies - Behinderung - neu denken" ist dies einmal anders herum. Da erfahren die "Normalen", wie es sich anfühlt ausgeschlossen zu werden. Nur Behinderte sind zu den Weiterbildungs-Veranstaltungen am Vormittag zugelassen. Alle anderen müssen draußen bleiben und auf den Nachmittag warten.
Der Sprecher der Sommer-Uni Ottmar Miles-Paul, vergleicht die "Zulassungsbe-schränkung" mit Strategien der Frauenbewegung: "Wir brauchen genauso einen Raum für uns selbst, wo wir eigene Positionen entwickeln können." Menschen, die sich häufig von anderen helfen lassen müssen oder gar bevormundet werden, würden es schätzen, auch mal schimpfen zu können. "Wenn man ständig mit Assistenten zu tun hat, auf die man angewiesen ist, tut es gut darüber mit Leuten zu reden, die das kennen."
Doch genau wie bei der Frauenbewegung gibt es Kritik. Nicht nur von denjenigen, die ausgeschlossen werden - "das müssen die auch mal aushalten können" - sondern auch aus den eigenen Reihen. "Ich tue mich schwer mit der Abschottung - vielleicht liegt das daran, dass ich auch ein Leben ohne Behinderung kenne" sagt die 24-jährige Nadine Nullmeier, der vor vier Jahren ein Bein amputiert wurde. "Wir reden immer so viel über Integration, aber dann müssen wir auch auf die Menschen ohne Behinderungen zugehen", findet sie. Die mit 18 Jahren jüngste Teilnehmerin Nora Sties sieht das ähnlich. Auch sie wünscht sich eine Öffnung: "Und ab wann gilt man denn als behindert? Wenn der Finger fehlt oder erst der ganze Arm?"
Tatsächlich sieht man längst nicht allen der 300 fest angemeldeten Sommer-Studierenden aus Deutschland und Österreich ihre Behinderung an. Natürlich rollen überdurchschnittlich viele Rollstuhlfahrer durch die Flure, aber die Sehbehinderte erkennt man erst, als sie plötzlich verloren in der Mensa steht, weil ihre Gruppe sich zu schnell aus dem Staub gemacht hat. Wieder andere haben eine psychische Erkrankung oder ein verkürztes Bein, das im Sitzen nicht weiter auffällt. Einer lernt langsamer als andere. Die Bezeichnung "geistig behindert" lehnt er ab.
Die Vielfalt der Behinderungen sei gewollt, sagt der Sprecher Ottmar Miles-Paul. Schließlich habe man ein gemeinsames politisches Ziel: Gleichberechtigung ohne Bevormundung. Doch auf der zweiwöchigen Sommeruni wird deutlich, dass die Unterschiede nicht von allen wahrgenommen werden. Auf den Punkt gebracht: Der Rollstuhlfahrer denkt nicht unbedingt daran, was die Blinde braucht. So mußte in einem Seminar erst einmal darüber diskutiert werden, dass der Referent bei seiner PowerPoint-Präsentation sagt, was auf den Bildern zu sehen ist. Jetzt erklärt er, wie die Ikonen der Behindertenbewegung aussehen. "Ein Mann mit Cowboyhut, darauf eine amerikanische Flagge, statt Sternen ist ein Rolli-Symbol zu sehen" oder "Eine Frau im Rollstuhl, sie lächelt."
So verschieden, wie die Behinderungen sind die Gründe, die Sommeruni zu besuchen: Während die einen sie als Forum für den wissenschaftlichen Austausch nutzen wollen. steht für andere die Selbsterfahrung im Vordergrund. Das kann zu nervenaufreibenden Diskussionen führen, wenn die einen sich über zu viele Fremdwörter beschweren und die andere keine Lust mehr haben, sich die x-te Lebensgeschichte anzuhören. "Das wäre schon okay, wenn klar wäre, an wen sich eine Veranstaltung richtet und wenn es nicht so durcheinander gehen würde", kritisiert die Psychotherapeutin Sylvia Nagel. Die 38-jährige kann außerdem überhaupt nicht verstehen, warum ausgerechnet auf einer Behindertenuniversität der Flyer und der Internetauftritt für Sehbehinderte praktisch unlesbar sind.
Doch missen möchte die Sommeruniversität niemand von denen, die sich beschweren. Dafür seien die Vorteile zu groß. Und für den Sommeruni-Sprecher Ottmar Miles-Paul sind die vielen kritischen Stimmen ein gutes Zeichen. "Die haben vollkommen Recht mit ihrer Kritik, aber das Gute daran ist, dass die Leute lernen, ihre Bedürfnisse selbst zu äußern." Das sei genau im Sinne der Sommer-Uni: Weg von der Fremd- hin zur Selbstbestimmung.<
>Was aber bedeutet dieser Minimalkonsens, wenn die einen die "Sommer-Universität" (einfach nur) zur Selbsterfahrung wünschen, während die anderen - wie die Kölner Soziologie-Professorin Anne-Waldschmidt - die Veranstaltungen als Forum für den wissenschaftlichen Austausch nutzen wollen, um einen kulturwissenschaftlichen Ansatz der Disability Studies zu etablieren, der die Perspektive (einfach) umkehrt und die Mehrheitsgesellschaft am Maßstab von "Behinderung" mißt? (Grode 2003b):
>Ganz wunderbar, merkte ich an, wie einfühlsam Eiken Bruhn en passant die Schwächen eines Modells aufgedeckt hat, das von seinen Anhängern als der Königsweg zur Integration von behinderten Menschen propagiert wird. Dieses Modell von Behinderung geht davon aus, dass Behinderte gar nicht (oder allenfalls am Rande) behindert seien, sondern von der Gesellschaft behindert würden. (Grode 2003a) Und daß sie - wie Frauen, Schwarze oder Homosexuelle - ihre ganz eigene Kultur besäßen, die nur ihnen selbst zugänglich sei. In einem solchen Modell ist die Gesellschaft - wie es ja auch den Anschein hat - in Tausendundeins Interessengruppen segmentiert, die alle gegeneinander ihr Terrain und ihre Besonderheiten verteidigen. Und selbst wenn gar nichts (mehr) zu verteidigen ist, so ist es doch immerhin die korrekte Sprache, die es zu bewachen gilt: "Andersfähige" statt Behinderte, wie es derzeit aus den USA herüberklingt.
Behinderung aber ist genau das Gegenteil von dem, was die o.g. Protagonisten intendieren. Sie verbindet nicht, sondern sie trennt die Menschen voneinander. Nicht einmal mich selbst verbindet sie mit mir, obwohl ich - nunmehr als >glücklicher Opa auf Rädern< - seit nahezu 30 Jahren im Rollstuhl sitze. Was (positive) Identität stiftet - und das gilt für alle Menschen - ist nicht dasjenige, was sie nicht können und ablehnen, sondern das, was sie können und lieben. Über diesen Grundwiderspruch vermag die "neue Behindertenbewegung", die Nichtbehinderte (nicht nur aus Selbstfindungsgründen, sondern) prinzipiell ausschließt, nicht hinauszukommen.
Die Behindertenbewegung will diesen Widerspruch - völlig zu recht, wie ich meine - nicht einmal sehen: Denn die neue - vielfach US-amerikanisch sozialisierte - "BehindertenElite" (der man ihr Behindertsein, wie die taz völlig zutreffend registriet, manchmal gar nicht ansieht) hat sich mit dem Dogma des Ausschlusses von Nichtbehinderten einen gewaltigen Platzvorteil erkämpft: >Lieber im ideologisch geschlossenen "disabilty village" der Sieger, als in einer (wie auch immer gearteten) offenen gesellschaftlichen Struktur der Drittletzte oder der Dritte<, scheint ihre dem Zeitgeist, der ja bekanntlich stets der (wirklichen) Herren eigener Geist ist, bewußtlos vorauseilende Devise.<
Diese "Lösung" - so ist freimütig zu bekennen - ließen wir freilich unberücksichtigt, als wir vor mehr als zehn Jahren gemeinsam ein Buch des Mitbegründers der westdeutschen "Krüppelbewegung" rezensierten (Grode/Grode 1992). Franz Christoph hatte darin die These vertreten, daß in demselben Maße in dem das ökologische Bewußtsein der Bevölkerung zunehme, die Verachtung gegenüber Behinderten wachse: Statt nach dem Motto: "je mehr behinderte Neugeborene desto besser" die gesellschaftliche Akzeptanz von Krüppeln zu fördern, und dies durch die Forderung nach "Verschärfung des § 218" zu unterstreichen, appelierten beispielsweise die Grünen an das Verantwortungsbewußtsein sowjetischer Frauen und rieten ihnen nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl auf Schwangerschaften zu verzichten.
Fast ebenso behindertenfeindlich war nach Überzeugung Christophs, die Praxis der Friedens- und Ökologiebewegung, Behinderte in der Auseinandersetzung um Abrüstung, Atom- und Gentechnologie als abschreckende Beispiele, als "Abschreckungsmodelle" zu mißbrauchen. Denn hinter dieser Haltung verbarg sich angeblich die fehlende Bereitschaft der Ökologiebewegung sich mit dem eigenen Schönheits-Fetischismus, der Idealisierung der Natur und der Allmachtsphantasie der "Normalität" auseinanderzusetzen.
Das Lebensmodell von Ökologen und Humangenetiker wurde von Franz Christoph als nahezu gleich eingestuft:: Beide strebten sie den gesunden und schönen, den möglichst gut funktionierenden Menschen an. Doch im Vergleich mit den öffentlichen Auftritten der "Humanethiker" seien die Angriffe der Ökologiebewegung auf die Identität und das Existenzrecht von Behinderten wesentlich besser getarnt und deshalb noch weitgehend unentdeckt geblieben. So propagieren die Ökologen das Rezept einer gesunden Lebensweise; halten den Wusch nach einem gesunden und schönen Körper wach; und fordern im Verein mit der Frauenbewegung das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Selbst behinderte Frauen seien nach den Erfahrungen Christophs hierauf offenbar bereits hereingefallen, denn sie paktierten mit ihren "politischen Henkern", indem sie Toleranz im Umgang mit den Ängsten nichtbehinderter Frauen fordern.
Doch gerade mit der falschen Rücksichtnahme auf ihre Ängste, so belehrte uns damals Franz Christoph, würde nicht nur Frauen, sondern auch allen anderen "Nichtkrüppeln" die billige Möglichkeit gegeben, "ihr mieses Bewußtsein endzulagern". Denn alle Kontakte zu "Krüppeln" seien nur "Taschenspielertricks", mit deren Hilfe die Frauenbewegten, die kritischen Linken und die Umweltbewußten ihre Unschuld nachzuweisen versuchten, indem sie sich auf einen Behinderten in ihrem Bekanntenkreis, ihrer WG oder ihrer Alternativkneipe berufen. Und hierfür sollte sich jeder "Krüppel" zu schade sein!
Wir dagegen schlossen unsere gemeinsame Rezension 1992 mit einem ebenso polemischen (wie, wie wir meinten, ironischen) >Bravo! Endlich ist der bornierten Ökologie-, Friedens- und Frauenbewegung, samt ihrem behindertepädagogischen Anhang, der mit seiner geradezu infamen Forderung nach Integration das krüppelspezifische "Recht auf Exklusivität" systematisch zu unterwandern sucht, einmal angemessen gesagt worden, daß die Krüppel- und Behindertenbewegung nicht auf sie angewiesen ist. Schließlich eröffnen sich ihr in der neudeutschen Konkurrenz- und Konsumgesellschaft ganz andere Perspektiven.<
Literatur
Bruhn, Eiken (2003), Kein Rolli, keine Chance. An der Sommer-Uni "Disability Studies - Behinderung neu denken" kommen Behinderte zusammen, um gemeinsam neue Strategien zu entwickeln. Doch die Unterschiede sind größer, als die Veranstalter voraussehen konnten, in: die taz nord/bremen, 25. Juli
Grode, Gertrud / Grode, Walter (1992) Der GesundheitsFetisch. Über Inhumanes in der Ökologiebwegung.< Rezension des gleichnamigen Buchs von Franz Christoph und Christian Mürner, in >Dr. med Mabuse< Zeischrift im Gesundheitswesen, Nr. 76.
Grode, Walter (2003a): Selbstbestimmt leben und das soziale Modell von Behinderung. Ein richtiges Ziel auf fragwürdiger Basis, in:>Gemeinsam leben<. Zeitschrift für integrative Erziehung, Heft 1 - demnächst bei: www.wissen24.de
Grode, Walter (2003b): Grundwiderspruch. Die Bremer-Sommer-Uni 2003: >Disability Studies - Behinderung neu denken<, in: die taz nord/bremen, 1. August
- Citation du texte
- Dr. phil. Walter Grode (Auteur), 2003, GRUNDWIDERSPRUCH: BEHINDERTE IDENTITÄT. Die Bremer Sommeruni 2003: Disability Studies - Behinderung neu denken, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109456
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