Es soll an dieser Stelle ausnahmsweise einmal nicht von jenen >selpies (second life people), woopies (well off elder people) oder wollies (well income old leisure people)< die Rede sein, die so leben, wie es in früheren Jahrhunderten allenfalls Aristokraten vorbehalten war.
Nein, es soll nicht um jene >fitten Senioren< gehen, die jeden 30jährigen mühelos in den Schatten zu stellen scheinen, sondern um die Ängste vor den Einschränkungen und der Hilflosigkeit des (hohen) Alters - und wie man möglicherweise besser mit ihnen umgehen kann.
Walter Grode
>GLÜCKLICH ALTWERDEN<
Altern zwischen Defekt und Weisheit
(in: Ders., Aufsätze und Essays, Rezensionen und Kommentare, Hannover 2003)
Es soll an dieser Stelle ausnahmsweise einmal nicht von jenen > selpies (second life people), woopies (well off elder people) oder wollies (well income old leisure people)< die Rede sein, die so leben, wie es in früheren Jahrhunderten allenfalls Aristokraten vorbehalten war. (Schlaffer 2003, 30)
Nein, es soll nicht um jene >fitten Senioren< gehen, die jeden 30jährigen mühelos in den Schatten zu stellen scheinen, sondern um die Ängste vor den Einschränkungen und der Hilflosigkeit des Alters - und wie man möglicherweise besser mit ihnen umgehen kann.
Solche Ängste können auch nicht einfach von der modernen Altersforschung widerlegt werden. So erbrachte die Berliner Alterstudie (BASE) durch eine Fülle von empirischen Belegen zwar den Nachweis, daß die frühere, vor allem biologisch geprägte Vorstellung vom Alter, als eine insgesamt negativ und problematisch zu bewertende Lebensphase, der Wirklichkeit nicht entspricht (Mayer/Baltes 1999, 624)
Fast die Hälfte der 70-jährigen und Älteren ist frei von gravierenden Beschwerden über Einschränkungen des Bewegungsapparats und selbst unter 85-jährigen und Älteren ist knapp die Hälfte frei von klinisch manifesten Herz- und Gefäßkrankheiten. Auch die Vorstellung vom Alter als Phase von sozialer Isolation, gesellschaftlichem Rückzug und vom Nichtstun im Alltagsleben kann als überwiegend falsch abgewiesen werden.
Doch darf man diese Zurückweisung eines negativen Altersbildes freilich auch nicht überziehen. Denn die BASE-Befunde belegen ebenso die Unausweichlichkeit körperlichen und geistigen Abbaus, die Zunahme chronischer Leiden im höheren Alter und die vielfältigen Folgen sensorischer, geistiger und körperlicher Einschränkungen für eine aktive und selbständige Lebensführung.
Das hohe Alter darf demgemäß nicht als die einfache Fortschreibung des jungen Alters verstanden werden. Als Veranschaulichung der beträchtlichen Variationen in den Altersveränderungen kann keine Unterscheidung zwischen "normalem" und "pathologischem" Alter dienen. (Mayer/Baltes 1999, 29)
Das von der Gerontologie "neu entdeckte" >vierte Lebensalter< - das in vielem einem Leben mit einer schwersten Mehrfachbehinderung oder der Spätphase einer chronischer Erkrankung (Grode 2002) zu gleichen scheint - wird zunehmend durch andere und von früheren Lebenskonstellationen unabhängige, etwa biologisch-genetische Faktoren bestimmt, deren Auftreten weniger durch soziokulturelle Ressourcen steuerbar ist, als dies auf frühere Phasen des Erwachsenenalters zutrifft.
Dieses Lebensalter steht nach Auffassung der Gerontologie kaum noch in einer Kontinuität zum vorhergehenden Leben. Deshalb besitzen die Betroffenen auch weder Erfahrungen noch Ressourcen um mit dieser Lebensphase umzugehen. Konsequenterweise reklamieren die Alterswissenschaften schon einmal die alleinige Kompetenz für den Umgang mit dem >hohen Alter< (Mayer/Baltes 1999, 631)
Die Gerontologie ist, was das "vierte Lebensalter" angeht, zu einem skeptischen, biologisch-organisch determinierten Blick zurückgekehrt. Sie sieht, wie große Teile der "Schulmedizin", gleichsam umstandslos, in den in irgendwelchen Hinsichten defekten Körper alter Menschen, ein aus dem Ruder laufendes neuronales Substrat, eine zerebraskuläre Störung, eine Infarzierung des Gehirns. - Daraus ergibt sich ein Bild, in dem der Störung des Körpers Symptome entsprechen, die - versteht sich - ebenfalls negativ definiert sind, und zwar, wie sich schnell zeigen lässt, anhand dessen, was als Normalität nicht-alter Leute begriffen wird. (Fuchs/Kray 2002)
Es geht dann zum Beispiel um Gedächtnisstörungen und nicht um Erinnerungsgewinne anderer Art, die man jungen Menschen wünschen könnte, kurz: in jedem Merkmal geht es einzig und allein um eine Mehrheit von Defekten, gewonnen am Gegenbild des Nicht-Alten, dem massenmedialen >Simulacrum Jugend<. Entsprechend sind jugendliche Alte in der Werbung gefragt: als Fahrradfahrer, Turmspringer, Rückenschmerzbesieger.
Dieses Schema des Noch-Nicht (das wir aus Kindheitstagen kennen) und das Nicht-Mehr des Alt-Werdens durchsetzt unsere Lebenswelt und da wir in hoch beschleunigten Zeiten leben, ist es als Zeitschema ständig präsent und brisant - für jeden und jede. (Grode/Grode 2000)
Alter, im sozusagen unglücklichen Sinne, wird dann sozial zugeschrieben, wenn die Zurechnung auf ein Nicht-Mehr übermächtig wird - im Falle einer Übersummation also, durch die sich die Wahrscheinlichkeit auf Teilhabe an irgendeinem Noch-Nicht sozial erheblich vermindert. (Grode 2003)
Dabei ist es entscheidend, dass die Gesellschaft festlegt, was als erstrebenswertes Noch-Nicht zu gelten hat, und was nicht. Das jemand schlechter hört, wenn er älter wird, schließt ihn dann aus Kommunikationen aus, wenn klares deutliches Reden nicht zu den Usancen einer feinhörigen (aber möglicherweise rücksichtslosen) Umgebung gehört.
Wenn jemand die Treppen nicht mehr hinaufrasen kann, könnte das als Zeit- oder Gelassenheitsgewinn gedeutet werden, wenn es eine gelassene, Langsamkeits- und Wahrnehmungsgewinne schätzende Umwelt gäbe.
Und wenn jemand sich Termine nicht mehr merken kann (gar keine Lust dazu hat), dann ließe sich das als Freiheit begreifen, die etwa in Richtung eines mediterranen oder gar afrikanischen Zeit-Laisser-faire ginge, wenn nicht die Umwelt durch Zeitzwänge determiniert (sozialisiert) wäre, die man bei hinreichenden Verstand nicht sehr lieben müßte.
Inzwischen treiben auch den Leiter der Berliner Altersstudie ganz ähnliche Gedanken zum Alter, zur "Hoch-Zeit des Lebens" (Fuchs/Kray 2002) um: Es scheint auch für Paul Baltes eine besondere Art des Wissens zu geben. Sie nimmt in späten Jahren nicht ab, sondern zu. Baltes - der inzwischen selbst 65-jährige Berliner Altersforscher - nennt dieses Phänomen "pragmatische Intelligenz" oder "weisheitsbezogenes Wissen" und entwickelte daraus eine neue Disziplin, die "Weisheitsforschung" (Etzold 2003)
Zum Weisheitswissen, daß Paul Baltes dem 80-jährigen Pianisten Arthur Rubinstein abgelauscht hat gehört a) die Selektion (Rubinstein spielt weniger Stücke - er braucht also weniger im Kopf zu behalten), b) die Optimierung (er übt häufiger) und c) die Kompensation (er spielt extra langsam - das läßt die langsamen bedeutungsvoller und die schnellen schneller erscheinen).
Mit seiner Kollegin Ursula Staudinger hat Baltes ein Modell entwickelt, das Weisheit zu einer messbaren Qualität macht. Sie schufen eine Art Weisheitsexamen aus Fakten- und Strategiewissen, aus Wissen um die Kontexte des gesellschaftlichen Wandels, Wissen um die Ungewißheit des Lebens und Wissen um die Relativität von Werten und Lebenszielen. Versuchspersonen müssen sich eine Szene ausmalen: Ein Freund ruft an, will Selbstmord begehen. Oder: ein 15-jähriges Mädchen will heiraten. Was gilt es zu bedenken, zu tun? Die simple Antwort "Eine 15Jährige und Heiraten? Auf keinen Fall!" Wer aber in Betracht zieht, aus was für einem sozialen Umfeld und Kulturkreis das Mädchen kommt, ob seine Eltern noch leben, ob es zum ersten Mal verliebt ist - der erfüllt Kriterien für den >Rat der Weisen<.
Alte schnitten in diesem >Weisheitsexamen< deutlich besser ab als Junge. Allerdings entpuppte sich keineswegs jeder Grauhaarige automatisch als weise. Vielmehr ist eine "seltene Kombination förderlicher Faktoren" nötig, wozu gehören: soziale Kompetenz, Offenheit, intensive Lern- und Übungserfahrungen, Ausbildung, Talent zum Mentor.
Die Jahre bis zur Alterweisheit
Was aber machen wir, speziell wenn wir keine AltersforscherInnen oder PianistInnen sind, mit den Jahren bis zur Altersweisheit?
Lebten wir in den USA und gehörten zu den eingangs erwähnten selpies, woopies oder wollies, so hätten wir es leicht. Dann zögen wir in einigen Jahren in eine jener Städte, in denen nur Menschen über 55 leben und arbeiten. Wir verlegten vielleicht unseren Wohnsitz nach Sun City in der Wüste Arizonas und versuchten uns dort - wie alle übrigen - unsere eigene Realität zu schaffen. (Bloch 2003):
Und vielleicht hätten wir, wie es das ungeschriebene Gesetz verlangt, dabei sogar unseren (gekauften) Spaß. Der aber wäre etwas grundsätzlich anderes als das, was vielen rein materiell ärmeren Kulturen, offenbar mit völliger Selbstverständlichkeit eigen ist.. Ich spreche von dem flüchtigen Gut, das man auch die Freude am eigenen Dasein nennen könnte. >Mehr Lebensfreude<, damit werben sie alle: Ratgeber und Reisekonzerne, Fitneß und Wellneß - von einer Unzahl von Therapien überhaupt nicht zu reden. Der Bedarf etwas zu fördern, was eigentlich kostenlos zu haben ist, scheint riesig zu sein.
Die Gründe, die uns den eigenen Zugang zur Lebenslust verstellen sind Legion. Sie könnten schwerwiegend oder banal sein oder einfach nur in Lebens- und Denkgewohnheiten wurzeln: Das führt unweigerlich zur Herausbildung der Fähigkeit, >die Löcher im Käse zu sehen und den Käse selbst zu ignorieren<. (Bode 2003)
Was viele Menschen nicht fertig bringen, schreibt Sabine Bode, ist das Gewichten der Prozentsätze. Wenn sie den Satz hören: "Es besteht ein Risiko von zwei Prozent", bleibt bei ihnen nur das Wort "Risiko" hängen. Das heißt, es dringt nicht in ihr Bewußtsein, dass die Gewinnchancen gewaltig sind, nämlich achtundneunzig zu zwei.
Viele unserer Alterswehwehchen sind nicht nur Ausdruck, der Lebenszeit, die hinter uns liegt, sie sind Teil unserer Identität - und deshalb dürfen sie auch nicht so einfach weg-therapiert werden. Hier könnten sich viele "Senioren" ein Beispiel an jenen behinderten Menschen nehmen, die ihre Behinderung ganz bewußt in ihr Selbstbild eingebaut haben und freundlich mit ihr zusammenzuleben versuchen. (Grode 2002)
Die großen Glücksmomente sind ohne die Bereitschaft zu Risiko und Anstrengung nicht zu haben. Das sehen wir bereits bei unser 3 1/2 jährigen Großtochter. Was allerdings im Laufe eines Erwachsenenlebens verloren gehen kann, ist das Wissen, wie wichtig es ist, auch die kleinen Höhepunkte zu suchen, um das positive Grundgefühl zu erhalten. Weniger sparen. Eiskrem statt Bohnen. Und mehr selber tun, auch in Beziehungen. Einem Kind ein Lied beibringen oder ein Geschichte vorlesen anstatt ihm eine CD zu schenken.
Wir glauben, die meisten Menschen haben die Vorstellung, daß die Lebensfreude plötzlich abhanden kommt, wenn etwas Schlimmes eintrifft: Unfall, Krankheit oder Tod eines Angehörigen. Aber überwiegend ist es so, daß die Lebensfreude ganz langsam davonschleicht, heimlich, ohne sich zu verabschieden. Und das, meine ich, ist das eigentlich Gefährliche, besonders wenn Menschen älter werden. Die Lebenslust geht verloren, wenn sie nicht mehr gefüttert wird..
Möglichkeiten, damit sich die Neugier, die Unternehmungslust, die blaue Stunde, die Ideen und die Freunde am Leben wieder bei uns einstellen, gibt es viele. Meine Frau und ich versuchen beispielsweise, wenigstens ein bißchen von dem zu kopieren, was wir als Jugendliche gerne getan haben (oder zumindest aber gerne getan hätten):
Unvernünftig sein. Über die Stränge schlagen: Vom Brocken runterfahren über die alte Bobbahn. Die Nacht aufbleiben, bis es wieder hell wird oder mitten in der Nacht in Richtung Prag aufbrechen. Vor den Mädels und den Jungens anzugeben: Gemeinsam Radfahren (Grode 2003) oder in der Bar im Rollstuhl tanzen. Heimlichkeiten haben und Krökeln. Dankbar sein, dass man lebt. Die Beatles oder Mozarts hören. An Träumen festhalten. Langweilige Leute ärgern. Den eigenen Kummer zulassen. Auf Sternschnuppen warten. Dick- und Doof-Filme rückwärts gucken.
LITERATUR
Bloch, Emil (2003): Ein Platz an der Sonne. Eine überalterte Gesellschaft: In Sun City in der Wüste Arizonas leben und arbeiten nur Menschen über 55. Sie versuchen, Spaß zu haben - und schaffen sich ihre eigene Realität, in, Die Zeit, Nr. 27, 49:
Bode, Sabine (2003), >Gottesgabe Lebenslust<. Haben wir die Freude am Leben verlernt? (Hörfunkmanuskript) NDR-Kultur, Glaubenssachen, Sonntag, d. 31. August.
Etzold, Sabine (2003): Der Rat der Greise. Im Alter kommt mancher Mensch auf weise Gedanken. Paul Baltes forscht, um diese Gabe nutzbar zu machen, in: >Die Zeit<, Nr. 33, S. 24
Fuchs, Peter /Kray, Ralph (2002): Die Hoch-Zeit des Lebens. Unsere Medizin braucht das Alter als Defekt - als Lebensphase, in der im Gegensatz zur Jugend vieles nicht mehr möglich ist.. Dabei liegt im Älterwerden vor allem eine Chance, sich den Konditionierungen der Hochleistungsgesellschaft zu entziehen, in: die taz, 18.Juni, S. 15.
Grode, Gertrud / Grode, Walter (2000): Das Ende der Arbeitsgesellschaft. Benötigen wir mehr oder weniger Beschleunigung?, in: >Die Zeichen der Zeit /Lutherische Monatshefte<, Kirche im Dialog mit Kultur, Wissenschaft und Politik, Heft 9, S. 6-9. - www.wissen24.de/vorschau/17563html
Grode, Walter (2002): Ein Verzicht auf die Ausschöpfung der Potentiale der Gentechnologie bedeutet die Akzeptanz von Behinderung Alter und Schwäche. Eine biographisch-politische Skizze, in: >Gemeinsam leben<, Heft 2, S. 77-80. - Demnächst bei: www.wissen24.de
Grode, Walter (2003): Gemeinsam Radfahren oder >Das machen wir zum ersten Mal< www.wissen24.de/vorschau/17422.html
Mayer, Karl Ulrich / Baltes, Paul B. (Hrsg.), (1999): Die Berliner Altersstudie,. Ein Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin
Schlaffer, Hannelore (2003): Im Alter wird der Spleen zu Pflicht. Viele Senioren genießen heute ein Leben, das in früheren Jahrhunderten nur der Aristokratie vergönnt war, in: Die Zeit, Nr. 28, S. 30.
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2003, Glücklich Altwerden - Altern zwischen Defekt und Weisheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109453
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