Wer den Embryonenverbrauch für grundsätzlich unzulässig hält, der muß - und da ist Andreas Kuhlmanns liberaler Kritik an den Forschungsskeptikern (Kuhlmann; 2002, 11) uneingeschränkt zuzustimmen - auch dann auf ihn verzichten, wenn das gleichzeitig den Verzicht auf Heilungschancen bedeutet. Zu einem solchen Verzicht kann auch gehören, daß bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson oder Multipler Sklerose (MS), fast alle der komplexen Fähigkeiten, die der Einzelne lebensgeschichtlich erst unter Mühen erworben hat und in denen sich sein ganzes Wesen verwirklicht, wieder zerstört werden. Entscheidend aber sind nicht (nur) die Fähigkeiten, die verloren gehen, sondern (vor allem) auch diejenigen, die erhalten bleiben oder gar (bei Eintritt einer Behinderung) neu hinzugewonnen werden. Jürgen Habermas hat diese fürwahr denkwürdige Beziehung vor einigen Wochen in einem Gespräch über die Gefahren der Gentechnologie und neue Menschenbilder vorsichtig angedeutet: >Niemand vermag vorauszusehen, was sich im lebensgeschichtlichen Kontext eines anderen als Fluch oder Segen erweisen wird - selbst wenn es sich um "genetische Grundgüter" wie gutes Gedächtnis oder Intelligenz handelt. In manchen Kontexten mag einem Kind gar eine leichtere körperliche Behinderung zum Vorteil gereichen.< (Habermas 2002; 33) Ich bin darüber hinaus - aus eigener Erfahrung der Auffassung, dass (unter entsprechend günstigen Bedingungen) selbst schwere und schwerste Behinderungen und der Verlust resp. der Nicht-Erwerb von elementaren Fähigkeiten, wie >Gehen, Fahrradfahren, Fußball- oder Klavierspielen< das tagtägliche Leben aller (direkt und indirekt) Betroffenen individuell durchaus positiv beeinflussen kann.. Unter ökonomisch gesicherten und emotional optimalen Bedingungen wohlgemerkt. [...]
Inhaltsverzeichnis
Biographische Rück- und Einblicke
Meine entgegengesetzte Bewegung
Das Studium der NS Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik
Die Frage nach dem Anfang des Weges
LITERATUR
Wer den Embryonenverbrauch für grundsätzlich unzulässig hält, der muß - und da ist Andreas Kuhlmanns liberaler Kritik an den Forschungsskeptikern (Kuhlmann; 2002, 11) uneingeschränkt zuzustimmen - auch dann auf ihn verzichten, wenn das gleichzeitig den Verzicht auf Heilungschancen bedeutet.
Zu einem solchen Verzicht kann auch gehören, daß bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson oder Multipler Sklerose (MS), fast alle der komplexen Fähigkeiten, die der Einzelne lebensgeschichtlich erst unter Mühen erworben hat und in denen sich sein ganzes Wesen verwirklicht, wieder zerstört werden.
Entscheidend aber sind nicht (nur) die Fähigkeiten, die verloren gehen, sondern (vor allem) auch diejenigen, die erhalten bleiben oder gar (bei Eintritt einer Behinderung) neu hinzugewonnen werden. Jürgen Habermas hat diese fürwahr denkwürdige Beziehung vor einigen Wochen in einem Gespräch über die Gefahren der Gentechnologie und neue Menschenbilder vorsichtig angedeutet: >Niemand vermag vorauszusehen, was sich im lebensgeschichtlichen Kontext eines anderen als Fluch oder Segen erweisen wird - selbst wenn es sich um "genetische Grundgüter" wie gutes Gedächtnis oder Intelligenz handelt. In manchen Kontexten mag einem Kind gar eine leichtere körperliche Behinderung zum Vorteil gereichen.< (Habermas 2002; 33)
Ich bin darüber hinaus - aus eigener Erfahrung der Auffassung, dass (unter entsprechend günstigen Bedingungen) selbst schwere und schwerste Behinderungen und der Verlust resp. der Nicht-Erwerb von elementaren Fähigkeiten, wie >Gehen, Fahrradfahren, Fußball- oder Klavierspielen< das tagtägliche Leben aller (direkt und indirekt) Betroffenen individuell durchaus positiv beeinflussen kann.. Unter ökonomisch gesicherten und emotional optimalen Bedingungen wohlgemerkt.
Biographische Rück- und Einblicke
Als mich die MS erwischte und ich binnen weniger Monate im Rollstuhl landete - aus verhältnismäßig sicherer Entfernung läßt sich fast salopp darüber schreiben - war ich siebenundzwanzig.
Es gab damals (genau wie bereits vor 250 Jahren als diese Krankheit erstmalig auftauchte) keinerlei Hoffnung, die Multiple Sklerose wesentlich zu beeinflussen, geschweige denn zu heilen. Hätte es sie gegeben, so hätte ich mich damals mit Sicherheit nicht anders verhalten als Gisela Steinert, die als Parkinson-Kranke in einem Streitgespräch zur Genforschung (Judith & Steinert 2001, 27) geradezu selbstverständlich auf neue Medikamente und die Verpflanzung embryonaler Stammzellen in ihr Gehirn hoffte.
Ich war damals, wie gesagt 27 - aber ich fühlte mich als sei ich 96. Und niemand der mich damals sah, mußte aus Hannover kommen und ein ausgesprochener Fußballkenner sein, um zu begreifen, wie es um mich stand:
Mir ging es tatsächlich wie >96<. Denn auch Hannover 96 stand damals - freilich aus ganz anderen Gründen - unmittelbar vor der >Auflösung<. Allein der Liebe und der Kraft meiner wundervollen Frau und vor allem auch dem ganz anderen Bild von mir, das sie stets in ihrem Herzen bewahrte, habe ich es zu verdanken, dass ich heute auf dem zweiten Platz stehe.
Doch im Unterschied zum Zeitgeist , der ja auf zweite Plätze heute nichts mehr gibt, bin ich (Jg. 1949) mit diesem zweiten Platz bei Gertrud nämlich, gleich hinter unserer wundervollen Großtochter Johanna, (soeben zwei geworden) über alle Maßen zufrieden.
Denn im Schutzes des symbolischen Glashauses, das meine Frau und unsere Tochter um mich herum errichteten, vollzog sich bei mir nicht nur ein Neubeginn (von Vermessungs-Ingenieur und Bundeswehr-Offizier zum Politologen und >zum Philosophen gar<), sondern eine regelrechte Verwandlung:
>Eine Metamorphose im Kopf< sozusagen. Weg vom alten cartesianischen Denken, das alles vermess- und berechenbar sei. Vom Nüchternheitsprogramm der Naturwissenschaften (LM 61997) also. Hindurch durch den Hirsebrei und die Katharsis der Nationalsozialismusforschung (Grode 1994), zu der wundervollen, dem Garten meiner Frau abgeschauten Einsicht, dass es in der Natur - auch in meiner eigenen - gar keine rechten Winkel gibt , allenfalls Ecken, um die wir heute (im Zeit-Magazin und anderswo) >herumdenken< können.
Meine entgegengesetzte Bewegung
1979/80 waren die fünf Jahre, die mir die Ärzte bei meiner zunächst sehr aggressiven Verlaufsform der MS noch gegeben hatten, schon nahezu abgelaufen. Objektiv hatte sich fast nichts mehr verschlechtert.. Und subjektiv fühlte ich mich etwa wie 75; also glatt 20 Jahre jünger als vier Jahre zuvor, mit >96<, das übrigens (im Unterschied zu mir) das schlimmste, nämlich den Abstieg in die dritte Liga, noch vor sich haben sollte.
Und so begann ich noch einmal mit einem Studium: dem der Politikwissenschaft. Die Fächerwahl hatte, wie es im nachhinein scheint, nur einen einzigen Grund: Vierzehn Jahre später stand in der Abiturzeitung unserer Tochter, die mich bereits als kleines Mädchen schon tagtäglich durch ihr Leben getragen hatte, wie in Stein gemeißelt der Satz: >Tochter eines Politologen<
Mit (subjektiv) 75 fühlte ich mich damals >im besten Seniorenalter<. Doch im Unterschied zu heute, da die historischen und kulturgeschichtlichen Seminare von fitten Mittsechzigern, mit ihrem Gemisch aus Lebens- und Theorieerfahrung nur so majorisiert werden - gab es damals überhaupt noch keine >studierwütigen Senioren<. Sondern nur jede Menge linker politischer Gruppen und Grüppchen, die sich nach Gerhard Seyfrieds Carton-Motto >Wir sind die stärkste der Partei´n< ideologisch bis aufs Messer bekämpften:
Eine dieser Gruppen, nämlich die des heutigen Bundeskanzlers, kannte ich bereits aus meiner Post-68er- und Berufspädagogik-Zeit, in der ich Mehrwert und Humboldt vertauscht (ZdZ/LM, 8/1998) hatte. Konsequenterweise schloß ich mich nun einer wirklich radikalen, also an die Wurzel gehenden Variante an. In dieser Umgebung waren nicht nur ich, sondern auch meine Frau (die sich aus Solidarität mit mir, aber vor allem auch aus innerer Überzeugung, nun mit Verve auf die sozialistische Frauenpolitik warf) vor allem >stinknormale< Exoten unter vielen anderen Fremdlingen jeder Art, die (vordergründig) nach einer politischen Heimat suchten.
Mit dem paradoxen Ergebnis, daß in den damaligen politischen Gruppen, trotz resp. wegen ihrer politischen >Begrenztheit<, ein Klima des Wohlwollens und der Anerkennung herrschten, (gerade wie übrigens noch heute in unserem langjährigen Freundeskreis) das völlig im Gegensatz stand, zum Zustand offener, liberaler Strukturen, in denen Jeder dem anderen fremd (und doch zugleich) auf der Suche nach dem guten Gemeinwesen ist. (LM 12/1997)
Das Studium der NS Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik
In einem interdisziplinären Seminar von Juristen und Sozialwissenschaftlern verfertige ich Anfang der 80er Jahre ein Gruppenreferat über die Justiz im Nationalsozialismus und stieß dabei fast automatisch auf mein Lebensthema: die NS-Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik. Ein Umstand, der im folgenden allzu saloppe Formulierungen (die sich im selbst-ironischen Umgang mit der MS ja vielleicht noch einstellen mögen) von selbst verbietet.
Kurz darauf begegneten meine Frau und ich bei einem Vortrag über den Aufstand und die Vernichtung des Warschauer Ghettos, einem Politologie-Professor, der als Assistent von Joseph Wulf 1967/68 den >Frankfurter Euthanasie Prozeß< mitstenographiert hatte, aber durch persönliche Umstände und den tragischen Tod seines Mentors gezwungen gewesen war, seinen eigenen Ansatz fallenzulassen. Er stellte mir sein Archiv zur Verfügung und ich begann mit einer Dissertation zur >Dynamik faschistischer Vernichtungspolitik< am Beispiel der Euthanasieverbrechen (Grode 1987), die ich mit einer gewagten, da nur aus den Dokumenten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses geschöpften These über die >systematisch betriebene deutsche Entvölkerungspolitik< in der Sowjetunion beschloß, die mir, damals im Rigorosum, fast den akademischen Hals gebrochen hätte. Auf der ich aber (weil ich ja ohnehin schon im Rollstuhl saß) tapfer beharrte. Daß meine These schließlich elf Jahre später - nunmehr unter Hinzuziehung der ehemaligen sowjetischen Akten - voll und ganz bestätigt wurde (Gerlach 1998, 167-257) war mir (aus verständlichen Gründen) mehr als >eine klammheimliche Freude<.
Die äußeren Bedingungen des Studiums (um deren Verbesserung sich seither viele Initiativen erfolgreich bemüht haben) waren damals für Rollstuhlfahrer (auch an guten Tagen) durchweg abenteuerlich - (an schlechten) aber zugegebenermaßen katastrophal So war z.B. an den Besuch vieler Seminarräume und Bibliotheken und an die Arbeit in Archiven generell, überhaupt nicht zu denken
Andererseits aber schickten mir beispielsweise die Archive von Ludwigsburg und Nürnberg waschkörbeweise Unterlagen direkt in >mein Glashaus< Im Vertrauen, daß ich sie ihnen schon zurücksenden werde. Und genau so verhielt es sich auch mit der allgemeinen Hilfsbereitschaft (übrigens nicht nur an der Universität), die etliche Treppen wettmachte. Der einzige Unterschied zwischen Studenten und Professoren bestand in diesem Zusammenhang darin, daß man letzteren deutlich anmerkte, daß sie keinerlei Zivildiensterfahrungen besaßen.
Das klingt nach >Sozialromantik<. Und ist es wohl auch. Diese aber hatte einen realen Kern:. Und der beruhte darin, daß Hilfe (fast spielend) realisierbar war. Und zwar deshalb, weil ich damals weit und breit der einzige Rollstuhlfahrer war, den es, wie es heute heißt, zu integrieren galt. >Der Mensch will des anderen Helfer sein und ist froh, wenn ihm geholfen wird< ist seither meine bleibende und andauernde Erfahrung. (GL 03/01)
Nach meiner Dissertation habe ich mich in Rezensionen und Abhandlungen erst richtig auf die Nationalsozialismusforschung geworfen. Und damit auch (stellvertretend) jenes >schwarze Loch< in meiner Biographie schreibend umkreist, das in der Erkenntnis besteht, daß ich während des Nationalsozialismus mit (zumindest) der gleichen Wahrscheinlichkeit nicht nur Opfer der Euthanasie, sondern (wenn ich nicht krank geworden und Soldat geblieben wäre) auch Täter der Wehrmachtsverbrechen (>Zivilisierte Grausamkeit. Der Mensch als williger Vollstrecker< (LM 8/1996)) geworden wäre.
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- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2002, Ein Verzicht auf die Ausschöpfung der Potentiale der Gentechnologie bedeutet die Akzeptanz von Behinderung, Alter und Schwäche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109443
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