Inhalt
1. Einleitung
2. Über das Sea-Drift -Cluster
3. Out of the Cradle Endlessly Rocking
4. As I Ebb’d with the Ocean of Life
5. Die übrigen Gedichte des Clusters
6. Schlussbemerkung
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Als „Good Gray Poet“[1] ist Walt Whitman in die Literaturgeschichte eingegangen und bis heute zahlreichen Lesern in den Vereinigten Staaten und dem Rest der Welt ein Begriff. Unausweichlich verknüpft ist das Bild des stattlichen, rauschebärtigen Dichters mit seinem umfangreichen Lebenswerk Leaves of Grass, das bis heute als Meisterwerk der freien Verskunst gilt und noch immer zur nordamerikanischen Schullektüre zählt.
Die erste Auflage der Leaves von tausend Exemplaren erschien 1855 in Selbstdruck[2] und bestand aus zwölf Gedichten und einem Prosa-Vorwort. Da sich der Band schlecht verkaufte und bei den Kritikern keine große Aufmerksamkeit erregte, beteiligte sich Whitman maßgeblich an der Verbreitung und verschickte Kopien an literarische Größen, um den Bekanntheitsgrad seiner Arbeit zu steigern. Eines dieser Exemplare erhielt im selben Jahr Ralph Waldo Emerson, der zu dieser Zeit als der führende Kopf der amerikanischen Literatur galt und großes Ansehen genoss. Emersons Reaktion auf diese ‚Eigenwerbung’ Whitmans resultierte im vielleicht berühmtesten und wichtigsten Brief der amerikanischen Literaturgeschichte.[3] Das große Lob, das Emerson seinem jüngeren Kollegen - sowohl inhaltlich wie formal - ausspricht, ruft bei ihm aber die Mutmaßung hervor, so einem brillantem Debüt müsse irgendwo ein literarisches ‚Vorspiel’ („foreground“) vorausgegangen sein:
I greet you at the beginning of a great career, which yet must have had a long foreground somewhere, for such a start. I rubbed my eyes a little, to see if this sunbeam were no illusion; but the solid sense ot the book is a sober certainty. It has the best merits, namely, of fortifying and encouraging.[4]
Doch nach einem literarischen ‚Vorspiel’ bzw. einer adäquaten ‚Wegbereitung’ für die sprühende und gleichzeitig tiefgehende Lyrik seiner Leaves sucht man bei Whitman vergeblich. Als Kind aus einfachen Verhältnissen genoss er nur eine kurze Schulbildung und studierte niemals an einer Universität. Nachdem er verschiedene Tätigkeiten ausgeübt hatte – von 1836 bis 1841 arbeitete er z.B. als Lehrer – schrieb er zwar für mehrere Zeitschriften und Zeitungen. Doch das „Wunder“ („The miracle of Whitman“), dass er 36-jährig scheinbar aus heiterem Himmel eine so außerordentliche Gedicht-Sammlung hervorbrachte, ist bis heute nicht gänzlich erklärbar.[5]
Whitmans Phantasie bezüglich der ‚Werbung’ für die erste Auflage war aber mit dem eigenhändigen Vertrieb und dem Verschicken an renommierte Literaten noch nicht erschöpft. Darüber hinaus schrieb er drei anonyme Rezensionen, die im Rückblick erkennen lassen, dass die grundsätzlichen Themen der Leaves schon von Anfang an vorhanden waren. Er beschrieb sich selbst als bardischen Propheten, als einfachen Seher und amerikanischen Pionier, der seine Weisheit demokratisch teilt und als dieser Seher Bedeutung auch in den scheinbar unbedeutenden Dingen sieht.[6]
Obwohl Leaves of Grass im Laufe der etwa 30jährigen Entstehungszeit bzw. ‚Vervollkommnung’ enormes Wachstum und stetige Veränderung durchlief, ziehen sich einige themes von der ersten bis zur „deathbed-edition“[7] wie Leitmotive durch das Werk. Es gibt drei große, grundlegende Themen, die in gewisser Weise auch eine Art ‚chronologische’ Reihenfolge[8] in den Leaves bilden. Whitmans erstes großes Anliegen lag in der Erkundung des eigenen Selbst, seiner Persönlichkeit und Individualität.[9] Zum zweiten großen Thema wurde die amerikanische Nation als großartiger ‚Nährboden’ für die Demokratie und das Land mit großem Potential zur Realisierung hehrer Ideale. Zum Dritten brachte er in seiner Lyrik seine Gedanken über die Mysterien des Lebens zum Ausdruck und versuchte dichterisch die Fragen nach Glaube, Tod und ewigem Leben zu bearbeiten. Diese Grundthemen werden begleitet von verschiedenen, häufig wiederkehrenden Symbolen (zum Beispiel die titelgebenden Grashalme, die Vögel, das Calamus-Gras, das Meer etc.), die in Whitmans bildreicher Sprache metaphorisch bestimmte Dinge oder Prinzipien darstellen.
Das Sea-Drift -Cluster markiert für viele Kritiker einen Wendepunkt in der thematischen Gewichtung der Leaves. Es findet seinen Schwerpunkt, wie der Titel schon sagt, in einer von Whitmans am häufigsten gebrauchten Metaphern: dem Meer.[10]
In meiner Arbeit untersuche ich die symbolische Bedeutung des Meeres im Sea-Drift -Cluster im Hinblick auf dessen Thematik der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Unter der ewigen Wiederkehr des Gleichen verstehe ich den unendlichen Zyklus von Leben-Tod-Wiedergeburt, der anhand der Meeres-Metaphorik mit all seinen Facetten zum Ausdruck gebracht wird. Diese symbolische Bedeutung soll durch eine eigene Interpretation auf der Grundlage der gängigen Forschung herausgearbeitet werden, wobei ich mich hauptsächlich auf die ersten beiden, gleichzeitig umfangreichsten und sicherlich auch gehaltvollsten Gedichte konzentrieren werde. Doch zunächst werde ich einen kurzen Überblick über das Cluster und seine Entstehung geben.
2. Über das Sea-Drift -Cluster
Das Sea-Drift -Cluster besteht aus elf Gedichten, von denen zwei das erste Mal in die Leaves eingebettet wurden,[11] zwei aus dem einzeln erschienenen Band Two Rivulets (1876)[12] und sieben aus dem Sea-Shore-Memories -Cluster des Leaves -Anhangs Passage to India (1871)[13] stammen. Die beiden wichtigsten und gleichzeitig längsten Gedichte des 1881 das erste Mal in die Gedichtsammlung eingefügten Clusters sind Out of the Cradle Endlessly Rocking und As I Ebb’d with the Ocean of Life, die – in dieser Reihenfolge – den Anfang von Sea-Drift bilden. Sie ‚debütierten’ beide 1860 in den Leaves und waren insofern außergewöhnlich, als dass sie offenbar eine besonders ausgeprägte persönliche Note trugen. Besonders Out of the Cradle löste eine Art ‚Rätselraten’ darüber aus, inwieweit der vom lyrischen Ich beschriebene herbe Verlust (des Partners) möglicherweise biographischen Ursprungs sei. As I Ebb’d überraschte durch seinen verzweifelten Ton, der eine so vorher noch nicht vorhandene negative Stimmung in die Leaves einbrachte.[14] Davon einmal abgesehen, dass Out of the Cradle, für sich allein stehend, heute häufig als eines der brillantesten Gedichte Whitmans betrachtet wird, nimmt das Sea-Drift -Cluster innerhalb der Gesamtstruktur der Leaves eine besondere Stellung ein:
[…] [ T ] his arrangement of poems suggests a significant shift from land and pioneering imagery to sea imagery, representing a shift in emphasis from exploration, materialism, and individuality to introspection, spiritualism, and all-inclusive spirituality. [15]
Doch lässt sich in diesem Cluster nicht nur eine thematische Verlagerung und ein Wandel des bildsprachlichen ‚Vokabulars’ erkennen, sondern auch eine Art künstlerische Entwicklungsgeschichte Whitmans, die ein Bild seiner dichterischen Vision und Berufung zeichnen. Die verschiedenen ‚poetic voices’, die besonders in Out of the Cradle und As I Ebb’d, aber auch im Zusammenspiel der verschiedenen Sea-Drift -Gedichte zu Tage treten, spiegeln gewissermaßen Whitmans kreativen Prozess und verdeutlichen, wie gezielt und ausgefeilt er die Anordnung der Gedichte in den Leaves gestaltete und im Laufe seines Lebens ausbaute.[16] Im weiteren Verlauf meiner Arbeit möchte ich eine detaillierte Analyse der ersten beiden Gedichte vornehmen, um die Unendlichkeits-Thematik des Clusters repräsentativ herauszuarbeiten. Die verbleibenden Gedichte sollen zur besseren Übersicht ebenfalls kurz zusammen gefasst werden, da eine ähnlich genaue Analyse wie für die beiden ersten Gedichte den Rahmen einer umfangreicheren Arbeit erfordern würde.
3. Out of the Cradle Endlessly Rocking
Als “Christmas or New Year’s present” für die Leser erschien Out of the Cradle Endlessly Rocking 1859 das erste Mal unter dem Titel “A Child’s Reminiscence” in der Weihnachtsausgabe der New Yorker Zeitschrift Saturday Press.[17] Dieser erste Titel von Out of the Cradle, das in allen nachfolgenden Auflagen der Leaves unter variierendem Titel und mit Veränderungen in Form und Standort auftaucht,[18] gibt einen deutlichen Hinweis auf den autobiographisch eingefärbten Charakter des Gedichts, welches von Kindheitserinnerungen[19] bzw. einem (dichterischen) Initiationsprozess, und schmerzlichen (Verlust-) Erfahrungen im allgemeinen geprägt ist. Des weiteren deuten diese Veränderungen auf den bereits erwähnten kreativen Prozess Whitmans hin, der in der komplexen Strukturierung der Leaves gipfelte.
Das zentrale Thema von Out of the Cradle bzw. des ganzen Clusters bildet, der schon angesprochenen thematischen Verlagerung von materiellen zu spirituellen Themen in den Leaves folgend, der unsterbliche Charakter der menschlichen Seele bzw. die Ewigkeit / Unsterblichkeit, die ewige Wiederkehr des Gleichen mit all ihren Facetten. In einer tief in Kindheitserinnerungen verhafteten Szene am Strand von Long Island[20] entfaltet der Dichter bzw. das lyrische Ich mit Hilfe der verschiedenen ‚poetic voices’ in Out of the Cradle die Bedeutung von Liebe, Verlust und Tod und deren Verhältnis zu seiner dichterischen Schaffenskraft. Ausgangspunkt ist dabei die sich erinnernde Stimme des ‚Mature Poet’, der bereits volle Kenntnis vom Konzept der Unendlichkeit hat, was sich bereits an den formalen Merkmalen dieser ‚Vorstrophe’[21] erkennen lässt. Die langen, wogenden Sätze erwecken beim Leser den Eindruck vom Meer, das metaphorisch das Konzept der Unendlichkeit bzw. der ewigen Wiederkehr des Gleichen darstellt.[22] Zahlreiche aneinandergereihte Anaphern („Out of“ (Vers 1-3)[23], „Down from“ (5), „Up from“ (6) und am häufigsten „From“ (8-15)) und Parallelismen („Out of the Cradle endlessly rocking“ (1), „Out of the mocking-birds’s throat“(2) etc.) erinnern an endlos an den Strand brandende Wellen. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die onomatopoetischen Anklänge in den einzelnen Sätzen, die durch die Gestaltung der Vokale das Auf und Ab des Meeres ‚anklingen’ lassen.
Bereits der Titel Out of the Cradle Endlessly Rocking, der gleichzeitig, orthographisch leicht verändert, der erste Vers ist, bringt das Konzept der Unendlichkeit und somit das Thema des Gedichts sowie des ganzen Clusters auf den Punkt:[24] In einer ‚doppelten’ Metapher fungiert die Wiege als Symbol für Geburt und Leben, welche sich, wie die ewig brandenden bzw. schaukelnden („rocking“) Wellen des Ozeans, unendlich wiederholen. Diese Wiegen-Metapher wird am Ende des Gedichts, nachdem der Junge durch das Lied des Vogels zum ‚Boy-Poet’ bzw. „outsetting bard“ (143) geworden ist, noch einmal aufgegriffen: “(Or like some old crone rocking the cradle, swathed in sweet garments, bending aside,)” (182), um das Ende eines Erkenntnisprozesses zu markieren (den des Jungen) und den ‚Kreis’ oder Zyklus des Gedichts formal zu schließen. Dieser Vers ist, wie einige weitere im ersten Gedicht und im Rest des Clusters, in Klammern gesetzt, welche offenbar die Stimme und somit die Erkenntnis des ‚Mature Poet’ zum Ausdruck bringen. So finden sich in Out of the Cradle drei weitere geklammerte Stellen: „Demon or bird! (said the boy’s soul,)“ (144), die Gefühlsregung des Jungen wird vom Standpunkt des reifen Poeten kommentiert; „O give me the clew! (it lurks in the night here somewhere,)” (158) und „A word then, (for I will conquer it,) (160). Der ‚Mature Poet’ weiß bereits mit Sicherheit, dass der Hinweis oder ‚Schlüssel’ (“clew”) bereit liegt und dass er so das ‚Rätsel’ des Meeres ‚erobern’(„conquer“) bzw. lösen wird.
Geschickt arbeitet Whitman alle Symbole und Themen, die für das Gedicht (und letztlich das Cluster) relevant sind, in die ‚Vorstrophe’ ein. Raffiniert verbindet er die Elemente Leben und Tod: „Out of the Ninth-month midnight / Over the sterile sands and the field beyond“ (3 / 4). Der religiöse Ausdruck “Ninth-month”[25] steht einerseits für die neun Monate der menschlichen Schwangerschaft und somit für Geburt und Leben an sich und andererseits für den Herbst, die Zeit, in der die Natur abstirbt und somit symbolisch für den Tod. Analog dazu wird das Gegensatz-Paar von „the fields beyond“ (das Feld als Symbol für Wachstum und Leben) und „sterile sands“ (Boden auf dem nichts gedeiht) in der nächsten Zeile installiert. Doch findet sich an dieser Stelle nicht nur der, für den folgenden Lernprozess des Jungen so wichtige Aspekt von Leben und Tod, sondern gleichzeitig, im Wort „midnight“, der für die Gesamtbedeutung des Clusters so wichtige Aspekt von Leben im Tod, da die Mitternacht sinnbildlich weder Tag noch Nacht darstellt, sondern gleichzeitig Anfang (eines neuen Tages) und Ende (des vorigen Tages) symbolisiert.
Auch der so bedeutungsvolle Aspekt der Musik bzw. des Liedes und dem eng damit verknüpften Symbol des Vogels[26] (der später im Gedicht das Lied singt, welches dem Jungen die Erkenntnis bringt) findet sich in der ‚Vorstrophe’: „Out of the mocking-bird’s throat, the musical shuttle“ (2). Aus der Tiefe der Vogelkehle dringt die Erkenntnis der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der allumfassenden kosmischen Musik[27], die, wie ein Webschiffchen die Fäden, die Zeit aneinander reiht.
Der wissende Dichter, der „chanter of pains and joys, uniter of here and hereafter“ (20) nimmt mit der ‚Vorstrophe’ vorweg („A man yet by these tears a little boy again“ (18)) , was für eine Erkenntnis der Junge durch das Lied des Vogels (8) und die Begegnung mit dem Meer (19) im Rest des Gedichts erlangen wird. Die (tiefere) Bedeutung des „Pre-Verse“ ist also für den Leser nur retrospektiv und nach der Lektüre des Gedicht-Ganzen verständlich.[28]
Die eigentliche Erinnerung beginnt mit den, der ‚Vorstrophe’ folgenden, ehemals „Reminiscence“ betitelten[29] restlichen 35 Strophen des Gedichts in Vers 23, in denen sich zunächst die Stimme des Jungen und die des Vogels abwechseln. Die ‚Unkenntnis’ des Jungen und der Anfang des Zyklus von Leben-Tod-Wiedergeburt kommen hier - wiederum in einer ‚gedoppelten’ oder gar dreifachen Metapher - wunderbar zum Ausdruck: „When the lilac-scent was in the air and the Fifth-month grass was growing“ (24). Der Ausdruck „Fifth-month“ steht hier, im Gegensatz zum anfänglichen Ninth-month,[30] für den Monat Mai bzw. den Frühling, also eine Zeit der aufkeimenden Natur und symbolisch für das Leben an sich. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Bild des wachsenden Grases[31] und durch die Flieder-Metapher, die Whitman später in den Leaves weiter ausbaute.[32]
Der erste und eher kurze Teil der „Reminiscence“ (23-40)[33] wird dominiert von Tages- und Land(schafts)bildern, die Szene findet „Up this sea-shore in some briers“ (25) statt und das Vogelpärchen, die „Two feather’d guests from Alabama“ (26) ‚besingen’ den warmen Tag: „ Shine! shine! shine! / Pour down your warmth, great sun! / While we bask, we two together.“ (32-34).[34]
Im zweiten und längsten Teil (41-129), der mit dem Verschwinden bzw. dem Tod des Vogelweibchens einleitet (41-43), tauchen nun das erste Mal die Stimme des Meeres und Nachtbilder auf (46-47). Im ganzen zweiten Abschnitt vermischen sich Tages- und Landschaftsbilder mit Nacht- und Meeresbildern, wobei die mond- und sternenbeschienene Meeresszenerie nach und nach Überhand gewinnt. Kunstvoll lässt Whitman die gegensätzlichen Bilder sich (häufig strophenweise) einander abwechseln: so scheint das Vogelmännchen zum Beispiel im „ Low - hanging moon! “ (87) seine Partnerin zu entdecken, während er sie in der nächsten Strophe vom „ Land! land! land! “ (90) zurückfordert. In der folgenden dann hofft er sie mit den Sternen aufgehen zu sehen: „ O rising stars! / Perhaps the one I want so much will rise, will rise with some of you.“ (93-94), um in der nächsten mit seinem Gesang die Wälder und die Erde zu durchdringen: „ Pierce the woods, the earth, / Somewhere listening to catch you must be the one I want.“ (97-98).
Analog zu dieser ‚Vermischung’ der Bilder findet im zweiten Teil (Vers 55-70) eine ‚Verschmelzung’ der Stimmen des Jungen, der langsam zum ‚Boy-Poet’ wird und in der Lage ist, das Lied des Vogels und des Meeres zu deuten oder zu ‚übersetzen’(„Listen’d to keep, to sing, now translating the notes“ (70)) und des ‚Mature Poet’ statt. Der Junge stellt fest, dass der Vogel nachts („Yes, when the stars glisten’d“ (55)) fast zwischen den Wellen sitzt (und nicht mehr an Land): „Down almost amid the slapping waves, / Sat the lone singer wonderful causing tears.“ (57-58). Sich dem Meer annähernd, bewegt sich der Junge auf seine Erkenntnis zu, von der er schon weiß, dass sie sehr schmerzvoll sein wird. Es antwortet ihm darauf die Stimme des ‚Mature-Poet’: „He call’d on his mate, / He pour’d forth the meanings which I of all men know.“ (60), der die Erkenntnis schon seit langem hat.
So bringt das Lied des Vogels durch die ‚Verschmelzung’ mit (dem Lied) der See die Erkenntnis der verlorenen Liebe und ebnet den Weg für die finale Erkenntnis des Jungen:
Shake out carols!
Solitary here, the night’s carols!
Carols of lonesome love! death’s carols!
Carols under that lagging, yellow, waning moon!
O under that moon where she droops almost down into the sea!
O reckless despairing carols. (99-104).
Das Meer übernimmt das Singen des Liedes (116-117) und das Vogelmännchen (bzw. der Junge) hat den Verlust von Liebe realisiert: “But my mate no more, no more with me! / We two together no more.” (129 / 128) im Kontrast zu „we two together“ im ersten Teil.
Im dritten Teil (130-183) geht es um den Einblick des Jungen in Sterblichkeit und Tod und seine dichterische Kreativität und Antriebskraft, die er aus diesem Prozess erhält. Das Lied des Vogels neigt sich dem Ende zu („The aria sinking“ (130))[35] und während sich die traurige Erkenntnis der Liebe und der verlorenen Liebe beim Jungen durch Tränen Luft macht (139), zischt die wilde See (141) dem werdenden Dichter ein dunkles, verschollenes Geheimnis zu. Durch das Lied des Vogels ist im Jungen der ‚Boy-Poet’ erwacht („Now in a moment I know what I am for, I awake“ (147), der schon weiß, dass er nie wieder das Kind von einst sein wird (154) und die unzähligen Lieder bzw. Gedichte in sich erwachen spürt: „A thousand warbling echoes have started to live within me, never to die.“ (149). Doch um seine aufkeimende, dichterische Schaffenskraft, „the sweet hell within / The unknown want, the destiny of me.“ (156-157) schlussendlich deuten zu können, fehlt ihm noch der letzte Hinweis (“the clew” (158)), das Schlüsselwort (“The word final, superior to all” (161)), das ihm das Meer zulispelt: Tod (168-169)). Die sich vermischenden Stimmen von Vogel (“But fuse the song of my dusky demon and brother”(175)) und Meer (“With the thousand responsive songs at random” (177)) liefern dem Jungen den ‘Schlüssel’ und machen ihm zum “outsetting bard”, der von da an, bedingt durch seine Erkenntnis der Sterblichkeit, seine eigenen ‚Lieder’ singen wird: „My own songs awaked from that hour“ (178).
Der ‚Boy-Poet’ hat also mit Sicherheit am Ende von Out of the Cradle eine Vorstellung von (verlorener) Liebe, Tod und Sterblichkeit.[36] Trotzdem scheint er aber vom Begreifen der vollen symbolischen Bedeutung des Meere und somit des Konzepts der Unendlichkeit, das die Stimme des ‚Mature-Poet’ in den eingestreuten Zeilen durchscheinen lässt, noch weit entfernt.[37] Inwieweit sich diese These durch den Rest des Clusters bestätigen lässt, soll im Folgenden erörtert werden.
4. As I Ebb’d with the Ocean of Life
Nach dem Erscheinen der ersten und zweiten Auflage der Leaves wuchs in Whitman die Idee, seine Gedichte thematisch und formal in eine organisiertere, ‚bibelhafte’ Form zu bringen, welche in der noch etwas ungeordneten, aber bereits in Cluster angelegten Auflage von 1860 resultierte.[38] Diese Umstrukturierungen aber überforderten Whitman und lösten, zusammen mit einigen anderen Gründen, eine tiefe kreative und menschliche Krise aus, die sich in der Gestaltung von As I Ebb’d und allgemein den Leaves von 1860 niederschlug.[39]
Unter dem Titel “Bardic Symbols” erschien As I Ebb’d with the Ocean of Life das erste Mal im April 1860 in der renommierten Zeitschrift Atlantic Monthly und ab der 1860-Auflage der Leaves (ein wenig später im selben Jahr) in allen Auflagen unter variierendem Titel und in leicht veränderter Form.[40]
Das Gedicht, das wie eine Herabsetzung von Whitmans eigener, ruinierter Existenz anmutet,[41] ist in vier nummerierte Abschnitte unterteilt und entfaltet sich, ebenso wie Out of the Cradle, am Strand von „Paumanok“ (3) bzw. Long Island.[42] Obwohl As I Ebb’d später erschien als Out of the Cradle, ist es sehr wahrscheinlich, dass Whitman das Gedicht früher verfasste als seinen publizistischen ‚Vorreiter’. Während es in Out of the Cradle um einen dichterischen Initiationsprozess, eine poetische ‚Geburt’ geht, handelt es sich in As I Ebb’d um eine kreative Krise, das Versagen bzw. ‚Verebben’ der dichterischen Fähigkeiten.
Der Dichter wandert, begleitet vom Rauschen des Meeres (13) am Strand entlang und versucht im ersten Abschnitt (1-17) vom Standpunkt seiner bisherigen dichterischen Produktion zu deuten, was er sieht: „Held by this electric self out of the pride of which I utter poems, / Was seiz’d by the spirit that trails in the lines underfoot“ (7-8). Durch die Assoziation mit einem früheren Gedicht („this electric self“)[43] wird der stolze, vor Selbstbewusstsein strotzende Dichter der Anfangszeit repräsentiert, der vom Geist der „lines“ zu seinen Füßen ergriffen wird. Diese „lines“ beschreiben nicht nur das, was er am Strand erblickt, sondern ‚markieren’ diese gleichzeitig symbolisch als die „lines“ seiner Gedichte. Es ist ein niedergeschlagener, fast verzweifelter „spirit“, den diese Linien hinter sich herziehen, denn die kreative ‚Flut’ („tide“ (12)) hat nichts hinterlassen als ein Wirrwarr von wertlosem Strandgut bzw. wertlosen Gedichten:
Chaff, straw, splinters of wood, weeds, and the sea-gluten,
Scum, scales from shining rocks, leaves of salt-letuce, left by the tide (11-12).
Der reife und wissende Dichter blickt zurück auf eine Phase der Verzweiflung und stellt fest, dass er bis zu diesem Zeitpunkt nichts Sinnvolles hervorgebracht hat.
Im zweiten Abschnitt (18-34) erscheint, im Kontrast zur rückblickenden Stimme des ‚Mature Poet’ im ersten Abschnitt, die Stimme des „outsetting bard“, was sich formal bereits an einem Tempuswechsel in beiden Strophen feststellen lässt: während der reife Dichter sich an die Ufer, die er kennt, begab („As I wended the shores I know“ (2)), begibt sich der ‚Boy-Poet’ aus Out of the Cradle an die Ufer, die er (noch) nicht kennt („As I wend the shores I know not“ (18)). Dem Ozean lauschend, dessen finale Botschaft er noch nicht deuten kann, die aber näher kommt (21), wird er selbst, wie seine Gedichte, zu einem Stück wertlosen Strandgutes: „I too but signify at the utmost a little wash’d-up drift / A few sands and dead leaves to gather“ (22-23). Die „dead leaves“ symbolisieren hier in einer ‚gedoppelten’ Metapher, ähnlich wie die „lines“ der ersten Strophe, die Seiten seines Gedichtbandes und beziehen sich gleichzeitig auf dessen Titel Leaves of Grass.
Zutiefst niedergeschlagen und in einer schweren Identitätskrise gefangen beklagt er die Sinnlosigkeit und Arroganz seiner bisherigen Gedichte:
O baffled, balk’d, bent to the very earth,
Oppress’d with myself that I have dared to open my mouth,
Aware now that amid all that blab whose echoes recoil upon me I have not once had the least idea who or what I am (25-27).
Es finden sich an dieser Stelle formale Ähnlichkeiten mit Out of the Cradle, die die Unwissenheit des ausgehenden Dichters in As I Ebb’d mit der des Vogels verbinden: so ist der Dichter gebeugt an die Erde ‚gebunden’ und, wie der Vogel, nicht in der Lage, sich dem Meer anzunähern und seine Botschaft zu entschlüsseln (wie es der Junge später tut (146-149)). Des weiteren prallen die Echos seiner Gedichte genauso ungelöst auf den ausgehenden Dichter zurück („all that blab whose echoes recoil upon me“), wie das Echo des Vogelliedes in Out of the Cradle auf den ‚Boy Poet’ (132).
Der werdende Dichter ist der Erkenntnis (von der Unendlichkeit), symbolisiert durch das Meer, ganz nah, empfindet es aber als qualvoll, weil er die Botschaft des Meeres noch nicht deuten kann: „Nature here in sight of the sea taking advantage of me to dart upon me and sting me“ (33).
Ähnlich wie der ‚Boy Poet’ in Out of the Cradle den ‚Schlüssel’ zur Erkenntnis von der „fierce old mother“ (133) fordert (158), so fordert der noch unwissende Poet im dritten Teil von As I Ebb’d (35-50) eine Antwort von seinem Vater:
I throw myself upon your breast my father,
I cling to you so that you cannot unloose me,
I hold you so firm till you answer me something. (45-47).
Die Strandgut-Metapher aus dem zweiten Abschnitt bekräftigend (“I too am but a trail oft drift and debris” (43)), beginnt der Dichter den Zustand der Verzweiflung und das Gefühl der eigenen Nichtigkeit zu akzeptieren („You fish-shaped island, I take what is underfoot“ (39)), während er gleichzeitig das ‚Erbe’ seines Vaters akzeptiert (40), was, in Hinblick auf Whitmans Biographie, noch auf eine Verstärkung der Verzweiflung und negativen Energie des Dichters hindeutet.[44] Abschließend fordert der Dichter, seine ‚negative’ Liebe zum Vater integrierend, von ihm noch einmal direkt den ‚Schlüssel’ für das Geheimnis des Meeres, nach dem er so sehr trachtet: „Breathe to me while I hold you close the secret of the murmuring I envy.“ (50).
Im vierten und letzten Abschnitt (51-71) hat der werdende Dichter den Zustand der Verzweiflung und das Gefühl der eigenen Nichtigkeit vollständig akzeptiert: „Ebb, ocean of life, (the flow will return,) / Cease not your moaning you fierce old mother“ (51-52). Whitman benutzt hier nun den Imperativ und nicht mehr die hilflose Passiv-Form vom Anfang („ebb’d“), während die Stimme des ‚Mature Poet’, markiert durch die Klammern[45], die kurz bevorstehende Erkenntnis ankündigt, dass nach dem Tod die Wiedergeburt folgt. Das Meer wird nun nicht mehr als quälend empfunden wie im zweiten Abschnitt („Nature here in sight of the sea taking advantage of me to dart upon me and sting me“ (33)), sondern dazu aufgefordert, sein ‚Klagen’ fortzuführen. Der ‚Boy Poet’ ist kurz davor, die Stimme bzw. Botschaft des Meeres zu entschlüsseln (56) und das ‚Verebben’ seiner kreativen Kräfte hinzunehmen. Diesen ‚Tod’ seiner dichterischen Fähigkeiten kann er nun genau so akzeptieren wie seinen eigenen Tod, den die wissende Stimme des ‚Mature Poet’, wieder ‚markiert’ durch die Klammern, beschreibt: „(See, from my dead lips the ooze exuding at last, / See, the prismatic colors glistening and rolling,)“ (59-60).[46] Die Verquickung von Tod, symbolisiert vom Schlamm auf den toten Lippen des Dichters[47] und Leben, symbolisiert durch die schönen, prismatischen Farben der glitzernden Ozeanwellen, verbindet, wie in der Einleitung zu Out of the Cradle, die Elemente Leben und Tod und gibt gleichzeitig einen Ausblick darauf, dass sich der Zyklus Leben-Tod-Wiedergeburt (im Rest des Clusters) schließen wird.
5. Die übrigen Gedichte des Clusters
Wie ich im vorigen Kapitel bereits erwähnte, ist es wahrscheinlich, dass Whitman As I Ebb’d with the Ocean of Life früher verfasste als Out of the Cradle Endlessly Rocking. As I Ebb’d kann als dichterische Dokumentation des Höhepunkts einer kreativen, sowie menschlichen Krise und als Ausdruck der Akzeptanz von menschlicher ‚Nichtigkeit’ an sich gedeutet werden[48], während Out of the Cradle durch eine dichterische ‚Geburt’ bzw. ‚Wiedergeburt’ und den Ausblick auf den unendlichen Charakter der Seele einen eher hoffnungsvollen Ton anschlägt.[49] Die Tatsache, dass Whitman die beiden ersten Gedichte in Sea-Drift in dieser Reihenfolge anordnete, bringt formal bzw. strukturell die ewige Wiederkehr des Gleichen, das unendliche ‚Auf und Ab’ („rocking“), den Zyklus von Leben-Tod-Wiedergeburt zum Ausdruck. Diese Anordnung der thematischen Inhalte (das sich abwechselnde ‚Auftauchen’ von Hoffnung und Verzweiflung bzw. Leben und Tod) setzt sich im Rest des Clusters fort (auch durch eine ‚Vermischung’ der beiden Aspekte innerhalb der einzelnen Gedichte) und kommt bis zu dessen Ende immer konkreter zum Ausdruck. Da eine detaillierte Analyse der übrigen Gedichte den Rahmen meiner Arbeit übersteigen würde, beschränke ich mich an dieser Stelle auf eine kurze Zusammenfassung.
Eine hoffnungslose, durch nichts zu lindernde Verzweiflung findet sich in Tears (1867), dem dritten Gedicht des Clusters: „Tears! tears! tears! / In the night, in solitude, tears, / On the white shore dripping, dripping, suck’d in by the sand, / Tears, not a star shining, all dark and desolate” (1-4). Am Strand in der Nähe des Meeres erfährt das lyrische Ich keinerlei Trost von der „fierce old mother“ und auch die Sterne oder der Mond (so wie in Out of the Cradle) bringen kein ‚Licht’ in das Dunkel der Verzweiflung. Mit einem Hinweis auf den Vogel, der nicht begreift („But away at night as you fly, none looking“ (12)) bleibt nichts als ein losgelöstes Meer der Verzweiflung: „O then the unloosen’d ocean / Of tears! tears! tears!“.
Eine wichtige ‚Verschiebung’ der Vogel- hin zur Schiffs-Metapher findet sich im nächsten Gedicht To the Man-of-War-Bird (1876), in dem das lyrische Ich vom Deck eines Schiffes einen Vogel beobachtet, der, abwechselnd in Sturm- und Schönwetterszenerie durch die Lüfte fliegt und durch diese gegensätzlichen Erfahrungen (von Verzweiflung und Hoffnung / Leben und Tod) die Freude der Seele[50] (des Dichters / der Menschheit) über ihre Unsterblichkeit zum Ausdruck bringt: „In them, in thy experiences, had’st thou my soul, / What joys! what joys were thine!“ (20-21). Der Vogel ‚verschmilzt’ in diesem Gedicht mit dem Schiff (16) und eröffnet der Schiff-Metapher im Rest des Clusters eine neue Dimension auf dem Meer der Unendlichkeit.[51]
Diese Schiff-Metapher wird im nächsten Gedicht Aboard at a Ship’s Helm (1867) noch vertieft und ganz konkret mit dem unendlichen Charakter der Seele ‚verbunden’. Ein junger Steuermann steuert sein Schiff behutsam durch die Gefahren des Meeres ohne in Seenot zu geraten und das Schiff wird zum Menschen bzw. zu seiner Seele, das nun gelassen über die See der Unendlichkeit gleiten kann: „The beautiful and noble ship with all her precious wealth speeds away gayly and safe. / But O the ship, the immortal ship! O Ship aboard the ship! / Ship of the body, ship of the soul, voyaging, voyaging, voyaging.” (9-11).[52]
Verzweiflung und die darauf folgende Tröstung kommen im sechsten Gedicht On the Beach at Night (1871) zum Ausdruck. Vater und Kind stehen nachts am Strand und betrachten die Sterne. Als „burial clouds“ (5) sich drohend am Himmel aufbauen und die Sterne zu verdecken beginnen, fängt das Kind an zu weinen, woraufhin der Vater es tröstet: „Weep not child“ (14), „The ravening clouds shall not long be victorious“ (17), „They are immortal, all those stars both silvery and golden shall shine out again“ (20). Wie der Junge in Out of the Cradle und der „outsetting bard“ in As I Ebb’d, fürchtet sich ein Kind vor der Vergänglichkeit und dem Tod, wird aber im Gegensatz zu den ersten beiden, die weder von der „fierce old mother“ noch vom Vater eine befriedigende Auskunft erhalten, vom wissenden Dichter beruhigt und erhält einen Hinweis („clew“) auf die Unsterblichkeit der Seele: „Something there is more immortal even than the stars“ (28). Das wiederholte Auftauchen der verschiedenen ‚poetic voices’ vom Beginn des Clusters (u.a.‚Boy Poet’ und ‚Mature Poet’) kommt einerseits in der Vater-Kind-Beziehung zum Ausdruck und wird andererseits ‚markiert’ durch die geklammerten Zeilen des wissenden Dichters: („With my lips soothing thee, adding I whisper, / I give thee the first suggestion, the problem and indirection,)“ (26-27), („Many the burials, many the days and nights, passing away,)“ (29). Auf diese Weise wird noch einmal der Prozess der Erkenntnis der Unendlichkeit und gleichzeitig das Auf und Ab der ewigen Wiederkehr des Gleichen unterstrichen.
Einen Entwicklungsprozess beschreibt auch das sehr kurze Gedicht The World below the Brine (1860), welches sich, beginnend mit primitiven Meerespflanzen, über Fische und Meereslebewesen, die an der Oberfläche und am Ufer leben, bis zu den Lebewesen an Land und schließlich den Menschen („beings like us who walk this sphere“ (10)) ‚hocharbeitet’. Am Ende dieser ‚Daseinskette’ erhält der Leser dann einen Hinweis auf das Thema des Clusters, die Unendlichkeit: „The change onward from ours to that of beings who walk other spheres.“ (11).
Diese Sphären werden im nächsten Gedicht On the Beach at Night Alone (1856) zu einer großen, unendlichen Ewigkeit ‚verbunden’: „A vast similitude interlocks all“ (4), „All lives and deaths, all of the past, present future, / This vast similitude spans them, and always has spann’d, / And shall forever span them and compactly hold and enclose them.“ (12-14). Im Gegensatz zu On the Beach at Night, wo die ‚poetic voices’ des noch unwissenden Dichters (das Kind) und des ‚Mature Poet’ (der Vater) noch weit auseinander klaffen, findet sich hier nur noch eine einzige Stimme. Der unwissende Dichter ist durch einen Erkenntnisprozess zum wissenden Dichter gereift und kann allein das ‚Lied’ des Meeres ‚entschlüsseln’: „On the beach at night alone, / As the old mother sways her to and fro singing her husky song, / As I watch the brightest stars shining, I think a thought of the clef of the universes and of the future.“ (1-3). Genau wie in Out of the Cradle scheinen die Sterne auf den Strand und die „ husky-nois’d sea “ (107) singt ihr Lied, doch während der Junge im ersten Gedicht des Clusters die Botschaft des Meeres nicht entschlüsseln kann, findet der gereifte Dichter mithilfe der Sterne, die nun hell leuchten, den Schlüssel („clef“).[53]
Nachdem das ‚Rätsel’ des Meeres in On the Beach at Night Alone gelöst und die ‚Botschaft’ des Clusters direkt formuliert wird, unterstreichen und vertiefen die letzten drei Gedichte des Clusters noch einmal die Metapher des Schiffs, das als Seele über das Meer der Unendlichkeit kreuzt und mit all seinen unterschiedlichen Facetten konfrontiert wird. So wird in Song for All Seas, All Ships (1873) ein Bild von vielen verschiedenen Schiffen mit verschiedenen Flaggen und Signalen gezeichnet, die über die See, die „old husky nurse“ (11) fahren. Zu einer Einheit mit den vielen verschiedenen ‚Schiffsseelen’ wird die See der Unendlichkeit verbunden, als sie selbst ihre Flagge zeigt: „A spiritual woven signal for all nations, emblem of man elate above death“ (18), „A pennant universal, subtly waving all time, o’er all brave sailors, / All seas, all ships.“ (22-23). Die Menschheit ist in der Lage sich über den Tod zu erheben, weil die See ein Signal der Unendlichkeit gibt.
In Patroling Barnegat wird in einer nächtlichen Sturmszenerie noch einmal die bedrohliche, furchtbare Seite der See der Unendlichkeit zum Leben erweckt. In einer aufgewühlten See erkennt das lyrische Ich nur „A group of dim, weird forms, struggling, the night confronting“ (13), die Seelenschiffe, die, ähnlich dem Dichter in As I Ebb’d als ein Stück Strandgut, vom Meer getragen werden, währen die „savage trinity“, die (hier schreckliche) Einheit von Leben-Tod-Wiedergeburt um sich peitscht: „Waves, air, midnight, their savagest trinity lashing“ (4). Doch auch im äußerst verzweifelten Ton dieses Gedichts meldet sich, in einer geklammerten Zeile, wieder die Stimme des ‚Mature Poet’ und erinnert, unter Bezugnahme an das vorausgegangen Gedicht an das positive Signal der See: „(That in the distance! Is that a wreck? Is the red signal flaring?)” (9).
Im letzten Gedicht des Clusters After the Sea-Ship (1874) wird das Meer der Unendlichkeit mit all seinen Facetten mit der Schiffs-Metapher zu einer Einheit verbunden und der Zyklus von Leben-Tod-Wiedergeburt geschlossen. Wie die Vögel am Anfang von Out of the Cradle, die „Two together“ unter der Sonne eine Einheit bilden, verschmelzen hier Schiff / Seele und See / Unendlichkeit zu einer harmonischen Einheit: „Larger and smaller waves in the spread of the ocean yearnfully flowing, / The wake of the sea-ship after she passes, flashing and frolicsome under the sun“ (9-10).
6. Schlussbemerkung
Walt Whitmans Lyrik ist äußerst vielschichtig. Insbesondere im Sea-Drift -Cluster changiert er zwischen verschiedenen semantischen und zeitlichen Ebenen, um seine Sicht des Lebenszyklus zu präsentieren. In dieser Arbeit ging es hauptsächlich um eine Untersuchung der Thematik von der ewigen Wiederkehr des Gleichen von der Geburt bis zum Tod. Dieses Thema hat Whitman in den beiden „naturals partner[s]“[54], den janusgesichtigen Gedichten[55] Out of the Cradle und As I Ebb´d gleichermaßen subtil und vielschichtig ausgearbeitet: Während in Out of the cradle der wissende Dichter in optimistischer Weltsicht das Schließen des Lebenskreises direkt ankündigt und sich zum „uniter of here and hereafter“ ausruft, dominiert in As I Ebb´d die negative Weltsicht, die in der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit mündet. Damit stehen diese Gedichte zwischen den für die gesamten Leaves of Grass festgestellten Themenkomplexen des poetischen Ichs (und dem biographischen Ich Whitmans) und den metaphysischen Gedankengängen[56]. Insbesondere durch die Ausarbeitung der Meeres-, Schiffs- und Vogelmetaphorik erreicht Whitman den besonderen Blick auf die beschriebenen, sich wechselseitig erhellenden Gedanken.
Die weiteren Gedichte der Clusters konnten in dieser Arbeit nur am Rande untersucht werden; hierzu bedürfte es einer umfangreicheren Arbeit. Trotzdem ließ sich auch in diesen feststellen, dass es zu einer vollen Entfaltung der Thematik der Unendlichkeit erst durch diese Gedichte kommt.
Das Sea-Drift- Cluster wird in der Forschung wesentlich weniger untersucht als die anderen Cluster der Leaves of Grass. Bei vielen Whitman-Forschern werden die beiden Hauptgedichte zumeist einzeln interpretiert und somit aus ihrem, wie gezeigt, über Jahrzehnte von Whitman mittels Umstellungen und Einschüben im Cluster entwickelten, Kontext gerissen. Lediglich Robert LaRue mit seiner Arbeit über die Ewigkeit im Sea-Drift -Cluster und James Wohlpart betrachten das Cluster als Ganzes[57], was auch mir unabdingbar erscheint: Erst durch eine Gesamtbetrachtung können die verschiedenen Facetten genauer beleuchtet werden.
Einem weiteren Aspekt konnte in dieser Arbeit nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt werden: Einer theoretischen, zumal philosophischen Betrachtung des Themas, die etwa Whitman mit den philosophischen Strömungen seiner Zeit in Verbindung bringen könnte. Hierfür fehlt in dieser Arbeit der Raum, zumal dann auf eine Feinanalyse verzichtet werden müsste, die mir aber evident für die Auseinandersetzung mit dem Thema erscheint.
7. Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Whitman, Walt: Leaves of Grass, hg. von Harold Blodgett und Sculley Bradley, New York / London, 1973. [Erstveröffentlichung 1855].
Sekundärliteratur
Fast, Robin Riley: „Structure and Meaning in Walt Whitman´s Sea-Drift “. American Transcendental Quarterly 53 (1982): 49-66.
LaRue, Robert: „Whitman’s Sea: Large Enough for Moby Dick“. Walt Whitman Review 12 (1966): 51-59.
LeMaster, J.R. und Donald D. Cummings (Hg.), Walt Whitman: An Encyclopedia, New York / London, 1998.
Miller, James E. Jr.: Walt Whitman. Updated Edition, Boston, 1990. [Erstveröffentlichung 1962].
Nathanson, Tenney: Whitman’s Presence. Body, Voice, and Writing in Leaves of Grass, New York / London, 1992.
Shahane, V.A.: Cliffs Notes on Whitman’s Leaves of Grass, hg. von Gary Carey, Lincoln / Nebraska, 2000.
Spitzer, Leo: „ Explication de Texte Applied to Walt Whitman’s Poem ‚Out of the Cradle Endlessly Rocking’“, ELH: A Journal of English Literary History 16 (1949), 229-249.
Wohlpart, A. James: „From Outsetting Bard to Mature Poet: Whitman’s ‚Out of the Cradle’ and the Sea-Drift Cluster”. Walt Whitman Quarterly Review 9 (1991): 77-91.
Zweig, Paul: Walt Whitman. The Making of the Poet, New York, 1984.
[...]
[1] Dieser Begriff wurde von W.D. O’Connor, einem Autor und Freund Whitmans, geprägt, als der Dichter anlässlich seiner „obszönen“ Lyrik 1865 aus seiner Stellung im Innenministerium entlassen wurde. O’Connor verfasste eine flammende Verteidigungsschrift für Whitman, die den Titel The Good Gray Poet (1866) trug. (James E. Miller, Jr.: Walt Whitman, Updated Edition, Boston, 1990, S. 18. [Erstveröffentlichung 1962]).
[2] Während der 1830er übte Whitman verschiedene (Gelegenheits-) Jobs aus, unter anderem war er erst Lehrling und dann Setzjunge (printer’s devil) in der Druckerbranche. Er verfügte also über Kenntnisse und wahrscheinlich Kontakte, die ihm einen Selbstdruck ermöglichten. - Einen kommerziellen Verleger, der das Risiko eingehen wollte, die Leaves zu veröffentlichen, fand Whitman nicht bis zur dritten Auflage 1860, nämlich das Bostoner Haus Thayer & Eldridge. (Ebda., S. 35).
[3] Ebda., S. 150.
[4] Emerson an Whitman am 21. Juli 1855 in: Walt Whitman: Leaves of Grass, hg. von Harold Blodgett und Sculley Bradley, New York / London, 1973, S. 732. Im Folgenden werde ich mich auf diese Ausgabe unter dem Titel Leaves beziehen.
[5] Miller merkt dazu an, dass Whitman in den 36 Jahren vor den Leaves zwar sehr viel geschrieben habe (für Zeitungen / Magazine und eine Anzahl an Gedichten), davon aber nur weniges lesenswert und nichts denkwürdig sei. Die Tatsache, dass es sich bei diesen frühen Gedichten um konventionelle und wenig einfallsreiche Lyrik handelt, verstärkt aber für Miller das Mysterium um Whitmans dichterisches Genie noch. (Miller, S. 24 f.).
[6] Ebda., S. 11. Nicht nur in seinen Rezensionen beschrieb Whitman sich selbst als Seher, sondern auch im Vorwort der ersten Auflage: „The greatest poet hardly knows pettiness or triviality. If he breathes into any thing that was before thought small it dilates with the grandeur and life of the universe. He is a seer”. (Leaves, S. 715). Miller weist in diesem Zusammenhang darauf hin, auf welche Art und Weise so der Dichter zum Seher wird: “The poet becomes seer by the profundity of his gaze not into the future but into the present, into things as they are, into the deepest significance of a blade of grass or a grain of sand.” (Miller, ebda.).
[7] Die sogenannte deathbed edition der Leaves war die letzte von insgesamt neun Auflagen und erhielt ihren Namen durch ihr Erscheinen im Todesjahr Whitmans 1892. Miller macht darauf aufmerksam, dass es sich eigentlich nur um sechs Auflagen handelt, da die drei anderen nur Neudrucke waren, die keine Textveränderungen mit sich brachten. (Ebda., S. 24).
[8] Grundsätzlich tauchen alle drei Grundthemen durchgehend in jeder Phase der Leaves auf, trotzdem ist eine allgemeine Schwerpunkt-Verlagerung über die Jahre nicht zu übersehen. So wird zum Beispiel das Gedicht Out of the Cradle Endlessly Rocking bzw. das Sea-Drift -Cluster oft als Wendepunkt bezüglich der thematischen Verlagerung in den Leaves angesehen, aber darauf werde ich später noch genauer eingehen.
[9] Das ‚Selbst’ ist bei Whitman das Körperliche und das Seelische, welche zusammen das unverwechselbare Individuum ausmachen. V.A. Shahane merkt an, dass Whitmans Konzept des Selbst oft fälschlicherweise von Kritikern für Selbstgefälligkeit gehalten wurde. Das sei, ihm zufolge, nicht der Fall, da es sich bei Whitmans „I“ um ein universales Selbst, also um einen Teil des Göttlichen handele. (V.A. Shahane in: Cliffs Notes on Whitman’s Leaves of Grass, hg. von Gary Carey, Lincoln / Nebraska, 2000, S. 70).
[10] James Miller merkt zur Meeres-Methaphorik an: „Probably no image, not even that in the title, appears more frequently in Leaves of Grass than the sea and the related water images such as rivers, lakes, and ponds. The image is established almost from the beginning as a major symbol”. (Miller, S. 101).
[11] Zu diesen zwei neuen Gedichten gehören erstens To the Man-of-War-Bird, das vor seiner Platzierung in den Leaves in zwei Zeitschriften erschien, nämlich in der Londoner Zeitschrift Athenaeum (1876) und im Progress aus Philadelphia (1878). Zweitens gehört dazu Patroling Barnegat, welches ebenfalls vor seiner Position im Sea-Drift -Cluster in zwei Zeitschriften veröffentlich wurde: in The American (1880) und in Harper’s Monthly (1881). (Leaves, Fußnoten S. 256 f. und S. 262).
[12] Two Rivulets war der zweite Band der zweibändigen sogenannten Centennial Edition von 1876, der neben den „Passage to India“ – Gedichten (s. Anmerkung 13) gemischte Veröffentlichungen Whitmans einschließlich seiner Prosawerke beinhaltete. (Miller, S. 39). Song for All Seas, All Ships wurde das erste Mal im New Yorker Daily Graphic (1873) unter dem Titel „Sea Captains, Young or Old“ veröffentlicht, erschien als einer von vier „Centennial Songs“ in Two Rivulets und fand in der 1881-Auflage der Leaves unter dem aktuellen Titel seinen Platz im Sea-Drift -Cluster. After the Sea-Ship erschien das erste Mal unter dem Titel „In the Wake Following“ ebenfalls im Daily Graphic (1874), erhielt seinen aktuellen Titel in Two Rivulets und seinen Platz im Sea-Drift-Cluster 1881. (Leaves, Fußnoten S. 261 und 263).
[13] Die 1871-72-Auflage der Leaves enthält einen Anhang mit dem Titel „Passage to India“ mit einer großen Anzahl an Gedichten. Miller merkt dazu Folgendes an: „These poems, with their emphasis on death and spirituality, had not yet found a true place in the Leaves; they had simply been stuck in the back of the book. Whitman seemed vaguely aware that they belonged, but he did not seem to know where.” (Miller, ebda.). Diese Gedichte integrierte Whitman letztendlich in der 1881-Edition, deren grundsätzliche Form er nicht mehr veränderte.
[14] Dazu James Miler: „’As I Ebbed with the Ocean of life,’ with its tone of resignation bordering on despair […], injected a new attitude in Leaves of Grass – in sharp contrast with the expansive egotism of earlier editions.” (Ebda., S. 36).
[15] A. James Wohlpart in: Walt Whitman. An Encylopedia, hg. von J.R. LeMaster und Donald D. Cummings, New York & London, 1998, S. 623. Im Folgenden werde ich mich auf diese Ausgabe als Walt Whitman. An Encyclopedia beziehen.
[16] Miller merkt diesbezüglich an: „The second phase in the growth of Leaves of Grass witnessed more change in plan and structure than creation of new poems.” (Miller, S. 37). Tatsächlich kamen nach der 1860-Auflage, die die Gedichte das erste Mal in Cluster zusammenfasste, kaum neue Gedichte dazu (die 1856-Auflage enthielt zusätzlich zu den 12 Anfangsgedichten 20 und die 1860-Auflage 124 neue Gedichte). Whitman befasste sich den Rest seines Lebens größtenteils mit der Veränderung von Form und Anordnung seines dichterischen Lebenswerkes. Die Herkunft und Zusammenstellung der Gedichte in Sea-Drift, deren jeweilige Entstehungszeitpunkte eine Spanne von etwa zwanzig Jahren umfasst, ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, da sie diese lange ‚Revisionsphase’, die Whitman den Leaves widmete, beispielhaft darstellen, worauf ich im Folgenden noch näher eingehen werde.
[17] So wird das Gedicht entweder von Henry Clapp, einem guten Freund Whitmans und gleichzeitig dem Herausgeber der Saturday Press oder von Whitman selbst in der redaktionellen Anmerkung zum Gedicht bezeichnet. (Leaves, Fußnote S. 246).
[18] Beim ersten Erscheinen in der Saturday Press trug die einleitende Strophe, die syntaktisch nur aus einem einzigen, langen Satz besteht (22 Verse), die Überschrift „Pre-Verse“. Zusätzlich fügte Whitman die Überschrift „Reminiscence“ zwischen diese ‚Einleitung’ und die übrigen 35 Strophen des Gedichts (die in der ersten Fassung durchlaufend nummeriert waren) ein, als es unter dem Titel „A Word Out of the Sea“ in der 1860er-Auflage in die Leaves eingefügt wurde. Für die 1867er-Auflage nahm Whitman mehrere Veränderungen vor und gab ihm in der 1871er-Auflage das erste Mal den Titel Out of the Cradle Endlessly Rocking, unter dem es bekanntermaßen in der 1881-Auflage am Anfang des Sea-Drift -Clusters seine endgültige Form fand. (Mark Bauerlein in: Walt Whitman. An Encyclopedia, S. 495).
[19] Miller, S. 27.
[20] Der Hinweis, dass es sich um den Strand in Long Island handelt, findet sich in Vers 21: „Once Paumanok“. Whitman, der die ersten vier Jahre seines Lebens in Long Island verbrachte, war besonders angetan von diesem indianischen Namen seines Geburtsortes und benutzte ihn häufiger in den Leaves.
[21] Man erinnere sich, dass diese sogenannte Vorstrophe anfänglich formal mit der Überschrift „Pre-Verse“ betitelt war (s. Anmerkung 18). Diese formale Kennzeichnung hat Whitman, wahrscheinlich durch die sprachliche und strukturelle ‚Verfeinerung’ des Gedichts, nicht mehr für nötig gehalten.
[22] Laut Robert LaRue ist die Tatsache, dass das Meer im Sea-Drift -Cluster als ein Symbol bzw. eine Metapher für die Ewigkeit („Eternity“) fungiert eine allgemein anerkannte Interpretation. Er merkt aber an, dass es sich hierbei um verschiedene Aspekte der Ewigkeit handelt. (Robert LaRue, „Whitman’s Sea: Large Enough for Moby Dick.“Walt Whitman Review 12 (1966): 51-59, S. 51 f.). Um welche verschiedenen Aspekte es sich meines Erachtens handelt, werde ich später noch näher erläutern.
[23] Die Versnummern werde ich im Folgenden als Zahlen ohne Zusatz in Klammern nach den Zitaten angeben.
[24] Ähnliches gilt, etwas allgemeiner gehalten, auch für den Titel des Clusters, wobei das Meer (Sea) hier beim Leser eine Assoziation von unendlicher Tiefe und Weite hervorruft und die Drift die ‚Strömungen’ und (unendlichen) Bewegungen der Ewigkeit symbolisieren.
[25] Ninth-month ist die Quäker-Bezeichnung für den Monat September. (Leaves, Fußnote S. 247). Die Benutzung dieses Ausdrucks, so wie zahlreicher anderer an die Bibel oder Predigten erinnernde Ausdrücke rührt wahrscheinlich von Whitmans religiösem Hintergrund her. (Miller, S. 29). Besonders die enge Bindung an seine gläubige Mutter mag Whitman bewogen haben, solcherlei Ausdrücke gern und häufig zu benutzen.
[26] Die Vogel-Symbolik spielt in den Leaves eine große Rolle und wird von Whitman oft und weitläufig zum Einsatz gebracht. Man denke nur an die berühmte „barbaric yawp“-Passage aus Song of Myself, an den „hermit thrush“ aus dem anlässlich zu Abraham Lincolns Tod verfassten Gedicht When Lilacs Last in the Dooryard Bloom’d oder an das Bird of Passage -Cluster, um nur einige Beispiele zu nennen.
[27] Leo Spitzer weist darauf hin, dass Whitman in seinem Gedicht einer etwa 1500 Jahre alten, westlichen Lyrik-Tradition folgt, die sich mit dem Konzept einer „world harmony“ als musikalischer Idee befasst. Leo Spitzer, „ Explication de Texte Applied to Walt Whitman’s Poem ‚Out of the Cradle Endlessly Rocking’“, ELH: A Journal of English Literary History 16 (1949), 229-249, S. 235 f.). Auch bezüglich der Vogel-Symbolik (s. Anmerkung 26) scheint Whitman sich an die von Spitzer genannte Tradition anzulehnen, in der Vögel unter anderem zum Beispiel als „psalmists of God“ angesehen werden. (Ebda., S. 230).
[28] Erwähnenswert scheint mir an dieser Stelle, dass die ‚Editorial Note’ der ersten Veröffentlichung des Gedichts in der Saturday Press darauf aufmerksam macht: „This piece will bear reading many times – perhaps, indeed only comes forth, as from recesses, by many repetitions.“ (Leaves, Fußnote S. 247).
[29] Vgl. Anmerkung 18.
[30] Vgl. Anmerkung 25.
[31] Wahrscheinlich wird der Begriff des Grases hier absichtlich, in Anlehnung an die symbolhafte Bedeutung des Begriffes im Titel seines Gedichtbandes, von Whitman angewandt.
[32] V.A. Shahane zur titelgebenden Flieder-Symbolik in Lincoln-Gedicht When Lilacs Last in the Dooryard Bloom’d: “Lilacs, which are associated with ever-returning spring, are a symbol of resurrection, while its heart-shaped leaves symbolize love.” (V.A. Shahane in: Cliffs Notes on Whitman’s Leaves of Grass, S. 50).
[33] James Wohlpart unterteilt den Hauptteil des Gedichts („body of the poem“) neben der ‘Vorstrophe’ (“introduction”) in drei Teile, „which show the boy gradually awakening to become the “outsetting bard”[…].” (A. James Wohlpart. „From Outsetting Bard to Mature Poet: Whitman’s ‚Out of the Cradle’ and the Sea-Drift Cluster.” Walt Whitman Quarterly Review 9 (1991): 77-91, S. 79). An diese Aufteilung, die mir, im Vergleich zu beispielsweise Leo Spitzer, der das Gedicht in “prooemium”, „tale of the bird“ und „conclusion“ aufteilt (Spitzer, S. 236), sinnvoller erscheint, werde ich mich in meiner Arbeit anlehnen.
[34] Die kursiv gedruckten ‚Vogel-Strophen’, die von Whitman im Laufe der verschiedenen Versionen des Gedichtes bezüglich der Wortwahl verbessert wurden, ähneln mit ihren charakteristischen Wiederholungen und ihren onomatopoetischen Anklängen (Shine! shine! shine! (32), Blow! blow! Blow! (52), Soothe! soothe! soothe! (71) etc.) Vogelgesang. (Leaves, Anmerkung 32, S. 248).
[35] Whitman war ein leidenschaftlicher Opern-Fan, die er in seiner Zeit in New York häufig und regelmäßig besuchte. Laut Miller hatte Opernmusik einen starken Einfluss auf die künstlerische Form der Leaves, besonders auf Out of the Cradle: „Such a great poem as „Out of the Cradle Endlessly Rocking,“ with its “arias” and its “recitatives” (operatic terms which Whitman himself used), reveals that Whitman’s free-verse forms owe much to opera – its structure, its music, and the flow of the lines across the pages of the libretto.” (Miller, S. 6). Der Opern-Begriff “aria” wiederholt sich noch einmal in Zeile 138 und das musikalische ‘Vokabular’ des Gedichts wird in Zeile 140 um den Begriff “trio” erweitert.
[36] Die Verquickung von Liebe und Tod bzw. die Geburt der Schönheit (der Poesie) aus dem Tod bildet hier eine Referenz an den literarischen Topos von Eros und Thanatos.
[37] James Wohlpart postuliert, dass sich, entgegen der Meinung vieler Kritiker, die volle Bedeutung des Unsterblichkeits-Themas erst durch das Cluster als ein Ganzes entwickelt, und nicht schon in Out of the Cradle voll zum Tragen kommt. (Wohlpart, S. 77). Wohlpart zufolge findet sich in der Beschreibung von der Begegnung des Jungen mit dem Meer kein Hinweis darauf „that he [der Junge] comprehends anything beyond the word „death.“ Rather, the boy merely (as if this were not enough for a youth) learns about the bird’s mortality.“ (Ebda.; S. 81).
[38] Vgl. Anmerkung 16.
[39] Paul Zweig: Walt Whitman. The Making of the Poet, New York, 1984, S. 306. Walt Whitman war in der Entstehungszeit des Gedichts (wahrscheinlich 1859) arbeitslos (er hatte seinen Job als Herausgeber der Brooklyn Times aufgegeben), unsicher und von Selbstzweifeln geplagt. (Leaves, Anmerkung S. 253).
[40] In der 1860-Auflage erschien es als „Bardic Symbols“ als erstes Gedicht (Nr. 1) des „Leaves of Grass“-Clusters, während es in der 1867-Auflage unter dem Titel „Elemental Drifts“ erschien. Unter dem selben Titel wurde es 1871 und 1876 im „Sea-Shore Memories“-Cluster von Passage to India veröffentlicht und fand seinen aktuellen Titel und Standort im Sea-Drift -Cluster der 1881-Auflage. Obwohl Whitman das Gedicht über die Jahre kontinuierlich überarbeitete, lassen sich im Vergleich zur ersten Fassung nur geringfügige Veränderungen feststellen. (Leaves, Anmerkung S. 252 und Huck Gutman in: Walt Whitman. An Encyclopedia, S. 31).
[41] Laut Tenney Nathansons ist As I Ebbed “an agonized appraisal of what feels to Whitman like a ruined and bankrupt selfhood.” (Tenney Nathanson: Whitman’s Presence. Body, Voice, and Writing in Leaves of Grass, New York / London, 1992, S. 20).
[42] Vgl. Anmerkung 20.
[43] Whitman bezieht sich hier auf sein berühmtes Gedicht I Sing the Body Electric (1855) aus dem Children of Adam -Cluster, das den Körper, die Seele und deren wundervolle Einheit preist.
[44] Whitmans Vater, Walter Whitman Senior, war ein launischer, mürrischer Mann und ein strenges Familienoberhaupt, unter dem Walt und die ganze Familie sehr litten. Der Tod seines Vaters am 11. Juli 1855 (eine Woche nach der ersten Veröffentlichung der Leaves) schien für den Dichter fast eine Art ‚Erlösung’ zu sein, die es der positiven Dichtergestalt, zu der Whitman sich entwickelte, erlaubte, sich frei zu entfalten. Whitman ‚verbannte’ seinen Vater fortan aus seinem Leben, seinem Namen (um diese Zeit begann er, seine Arbeiten mit „Walt“ und nicht mehr mit „Walter“ zu unterschreiben) und seiner Arbeit. Hatte er vor dem Tod seines Vaters noch Geschichten über den verhassten Vater geschrieben, so findet sich in den Leaves nur ganz selten die Erwähnung des Vaters (z.B. in dem Gedicht There was a Child Went Forth). Seine Mutter hingegen, deren freundliche und liebevolle Art er bewunderte und nachzueifern versuchte, erwähnte er sehr viel häufiger. (Informationen teilweise aus: John Rietz in: Walt Whitman. An Encyclopedia, S. 787). Zweig merkt bezüglich der Vater-Problematik an: “In an odd way, father and failure went together for Whitman” (Zweig, S. 307) und bringt damit treffend auf den Punkt, warum Whitman sich dichterisch am Ort seiner Kindheit (Long Island) auf den ungeliebten Vater zurückbesinnt. Der Vater, der eigentlich Zimmermann war, hatte nach dem Umzug der Familie nach Brooklyn reichlich spekulative Immobiliengeschäfte getätigt und war damit kläglich gescheitert (vgl. Anmerkung 38). Whitman, für den der Vater Versagen an sich symbolisierte, ging nun, selber in einer schweren Krise gefangen, in As I Ebbed eine „brotherhood of failure“ (Ebda., S. 309) mit ihm ein.
[45] Vgl. Kapitel 3.
[46] Erwähnenswert scheint mir an dieser Stelle die Tatsache, dass diese beiden Zeilen beim ersten Erscheinen des Gedichts vom Herausgeber des Atlantic Monthly James Russell Lowell gestrichen wurden. Walt Whitman war so begierig darauf, in dem renommierten Magazin zu erscheinen, dass er untypischerweise zustimmte.
[47] Schlamm als tote Materie, aus der aber durchaus wieder Leben entstehen kann.
[48] Whitman verinnerlicht und akzeptiert in As I Ebb’d dichterisch seinen eigenen kreativen ‚Tod’ und das Bewusstsein seiner eigenen Sterblichkeit. Seine intensive Beschäftigung mit dem Tod kommt aber an vielen Stellen der Leaves zum Ausdruck, zum Beispiel in dem Calamus -Gedicht Scented Herbage of My Breast (1860), in dem es ebenfalls um Liebe, Tod und Unsterblichkeit geht (wie in Sea-Drift), aber ein weitaus weniger verzweifelter Ton angeschlagen wird.
[49] Whitman verfasste As I Ebb’ed wahrscheinlich zu einem Zeitpunkt, als er sich menschlich und künstlerisch an einem absoluten Tiefpunkt befand. Out of the Cradle hingegen entstand, als er diese Krise bereits zu überwinden begann und sich dichterisch neu orientierte. Paul Zweig merkt diesbezüglich an: „In 1859, Whitman was reborn as a poet, and that may be the story he tells in his most famous poem of these years, “A Word Out of the Sea,” later renamed “A Child’s Reminiscence.” [Sic!]. Vgl. Anmerkung 18.
[50] Die Seele wird an dieser Stelle das erste Mal im Cluster so direkt erwähnt und verbunden mit der Vogel-Schiff-Metapher in Zusammenhang mit ihrer unendlichen ‚Reise’ auf dem Meer der Unendlichkeit gebracht.
[51] James Wohlpart merkt diesbezüglich an: „The ship imagery becomes important because it allows the poet a new type of relation with the sea of immortality. Instead of floundering as a piece of sea-drift, the poet finds a suitable metaphor that will allow him to transcend the lesson of death and mortality and cross the sea of time.” (Wohlpart, S. 84).
[52] Whitman kehrt an dieser Stelle, nach dem negativen Grundton von As I Ebb’d dichterisch zu seiner anfänglichen positiven Einstellung, zur Einheit von Körper und Seele zurück (vgl. Anmerkung 43) und lässt die krisengeschüttelte Zeit des kreativen ‚Verebbens’ nach einem Erkenntnisprozess hinter sich.
[53] Der musikalische Ausdruck „clef“ (im Sinne von ‚Schlüssel’) verbindet dieses ‚Schlüsselgedicht’ mit dem Anfangsgedicht und unterstreicht den bereits erwähnten opernhaften Charakter der Poesie. Gleichzeitig werden durch diese musikalischen Termini das Auf und Ab des Vogelliedes („fitful risings and fallings“ (9)) und das der Ewigkeit kunstvoll miteinander verwoben. Bemerkenswert scheint mir an dieser Stelle, dass On the Beach at Night Alone das älteste Gedicht des Sea-Drift -Clusters ist, welches bereits in der 1856-Auflage unter dem Titel „Clef Poem“ erschien. Sehr schön lässt sich an dieser Tatsache erkennen, wie ausgeklügelt Whitman die zu verschiedenen Zeitpunkten entstandenen Gedichte im Laufe der Zeit anordnete, indem er sie innerhalb des Clusters einen Erkenntnisprozess entfalten lässt.
[54] Huck Gutman in: Walt Whitman. An Encyclopedia, S. 31.
[55] LaRue, S. 56.
[56] Vgl. S. 5 dieser Arbeit.
[57] Auch Robin Riley Fast untersucht das Cluster als ein Ganzes, betrachtet dabei aber die Entfaltung des Unendlichkeitsthemas in Out of the Cradle als vollzogen und fällt für meinen Untersuchungsaspekt somit unter die, die das Cluster nicht als Entwicklungsprozess hinsichtlich der Unendlichkeits-Thematik betrachten. (Robin Riley Fast: „Structure and Meaning in Walt Whitman´s Sea-Drift “. American Transcendental Quarterly 53 (1982): 49-66).
- Citation du texte
- Marei Ehmke (Auteur), 2001, Das Meer als Bild der ewigen Wiederkehr des Gleichen in Sea-Drift, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109389
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