Gedichtinterpretation
Gottfried Benn „Astern“
Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts prägten Verarmung, Städteboom, Wirtschaftskrisen und Kriege das Bild der deutschen Bevölkerung. Viele Arbeiter verelendeten in den Massenwohnvierteln der Städte, die sich vor Zuwanderern kaum retten konnten, viele Menschen fielen dem ersten (und später dem zweiten Weltkrieg) zum Opfer.
In dieser Zeit, in der dennoch ein kultureller Aufschwung stattfand, entstand der Expressionismus. Die Dichter dieser Strömung versuchten ihre Gefühle und Ängste, die sie mit den Themen Stadt, die ihnen mit den engen Straßen und riesigen Hauswänden eher wie ein Gefängnis vorkam, Tod, Krieg und auch Gott verbanden, in Gedichten zu verarbeiten.
Eines dieser Gedichte ist „Astern“ von Gottfried Benn.
Auf den ersten Blick mutet es einem Herbstgedicht an. Aber das kratzt den Kern des Themas nur insofern an, als das der Herbst diejenige Jahreszeit ist, in der alle Natur stirbt oder sich auf eine harte Kälte vorbereitet, also von einer schweren Zeit kündet, die unvermeidlich eintreten wird.
Um den Inhalt des Gedichts vollständig begreifen zu können sollte man wissen, dass Astern, lila und im Herbst blühend, im Expressionismus die Chiffre für „Verzweiflung“ darstellen. „Astern“, also Verzweiflung, stellt nicht nur den Titel, sondern auch das erste Wort dar und wird damit zum zentralen Thema des Gedichts.
Der erste Gedanke des lyrischen Ichs widmet sich den Astern, die es vielleicht vor sich sieht. Das bringt es dazu einen Moment inne zu halten und über seine Situation, die sich vor allem auf Eindrücke und Gefühle konzentriert, nachzudenken: an den zurückliegenden schönen Sommer und den dort geträumten Sehnsüchten von „goldenen Herden der Himmel“, „Licht“, „Rausch“, „der Rosen Du“. Zukunftsängste mischen sich mit Hoffnung. Das „Noch einmal“ am Anfang der zweiten, dritten und vierten Strophe versucht die Hoffnung zu erhalten, wird aber gegen Ende des Gedichts, mit dem letzten „Noch einmal“ immer schwächer. Das lyrische Ich sieht sich berechtigt dem nahenden Ende Gewissheit zu schenken. Die Angst, die Verzweiflung haben die schönen Erinnerungen des Sommers besiegt.
Ein weiteres expressionistisches Thema taucht im Schluss des Gedichts auf: der Tod. Die drohenden Ereignisse, die das lyrische Ich nicht genau kennt, werden dem Sterben gleichgesetzt. Ein eindeutiges Zeichen dafür bietet der Reim, der Kreuzreim trägt mit dem Kreuz ein Symbol des Todes.
Die Stimmung ist in „Astern“ traurig und düster gehalten, nur die Sehnsüchte und Hoffnungen lassen Freude zu. Verantwortlich für die Stimmungsvermittlung ist, meiner Meinung nach, hauptsächlich das lyrische Ich, eine Person, männlich oder weiblich, mit der ich mich durchaus identifizieren kann. Wichtig ist hier, dass das lyrische Ich mit sich selbst spricht. Im Vordergrund stehen dabei die Gefühle. Sich selbst braucht es nicht zurechtzuweisen, aufzufordern, zu kritisieren, oder gar zu belügen. Als Hörer oder Leser habe ich freien Eintritt in eine fremde Seele, die mir dadurch nah wird.
Weitere Stimmungsvermittler sind Farben oder Worte, die ich mit Farben assoziiere. Da wären in der ersten Strophe die „Astern“, deren bereits oben erläuterte Farbe, mir dunkel erscheint. Gold steht in der zweiten Strophe in Verbindung mit „Himmel“ und den schönen Erinnerungen. In der dritten Strophe stell ich mir die „Rosen“ in einem zarten rot vor (entgegen der aggressiven Bedeutung der Farbe rot im Expressionismus), da sie wiederum im Zusammenhang mit Schönem stehen.
Die „Schwalben“ in der dritten und vierten Strophe machen auf mich wegen ihrer schwarzen Farbe wiederum einen düsteren Eindruck.
Einige Worte im Gedicht lassen sich zu Wortfamilien zusammenfassen die ebenfalls Stimmungen vermitteln. „Bann“, „alt“, „sterbenden“ und „Nacht“ verbinde ich hier mit Angst und Trauer. Auch finden sich viele Hinweise auf die Zeit, die schnell vorüberzieht: „Tage“, „Stunde“, „alte“, „der Sommer“ und „längst“. Unter der Wortneuschöpfung „schwälende“ verstehe ich etwas erdrückendes, unheimliches.
Das lyrische Ich hat also Angst vor der Zukunft weil es darin Schlechtes sieht. Es erkennt seine Machtlosigkeit gegenüber dem Schicksal, das in höheren Händen liegt, denn „die Götter halten die Waage“. Deutlich wird das an der Metapher „was brütet das alte Werden unter den sterbenden Flügeln vor?“. Das lyrische Ich fürchtet die Folgen des Untergangs. Dass die grausame Realität es einholen und „das Ersehnte, den Rausch, der Rosen Du“, mit dem es sich identifiziert, verdrängt und so zerstört.
Gefühle und Gedanken bestimmen die Sprache des Gedichts. Poetisch malerisch und metaphorisch werden die Emotionen ausgedrückt. Fortwährende Akkumulationen, ein nicht existierendes Versmaß und eine enorme Vorherrschaft an Substantiven (24 von den insgesamt 73 Worten im Gedicht sind Substantive, nur 7 Verben und 6 Adjektive oder Partizipien!) geben dem Leser eine Vorstellung von den schnellen Gedankengängen des lyrischen Ichs. Sie sprudeln geradezu aus ihm heraus. Das zeigt, dass das Gedicht in erster Linie für den Dichter selbst geschrieben wurde, sozusagen als Seelentherapie und erst in zweiter Linie, wenn überhaupt, für andere. Ich bin der Meinung, dass man im Expressionismus und speziell in diesem Fall Dichter und lyrisches Ich durchaus gleichsetzten kann.
Außer den Astern taucht noch eine weitere Chiffre auf. Die „Schwalben“ in der dritten und vierten Strophe stehen für „Treue“. Im Kontext ergibt sich dann folgende Deutung: „Der Sommer stand und lehnte und sah den Schwalben zu“ heißt, dass in der guten Zeit noch Treue da war. In der vierten Strophe hat auch die Treue keine Chance mehr. „Die Schwalben streifen die Fluten und trinken Fahrt und Nacht“. Sie, die Treue vergiftet sich an dem „Bösen“, der Dunkelheit und wird wohl darin untergehen.
Es bleibt nur dem harten Winter, der Verzweiflung zu trotzen, denn alle Hoffnung, Treue und Sehnsucht liegt begraben.
Gottfried Benn ist es sehr gut gelungen die eigentlich verschlüsselte Botschaft von „Astern“ allein schon durch die Stimmung zu vermitteln. Denn die Symbolsprache, besonders durch Chiffren, der Expressionisten ist nur schwer zu entschlüsseln. Mir persönlich gefällt dieses Gedicht besonders, weil ich mich recht gut damit identifizieren kann. Denn wenn auch meine, unsere jetzige Situation nicht ganz der Gottfried Benns um 1935 (in diesem Jahr wurde das Gedicht erstmals veröffentlicht) entspricht, so kann ich doch sagen, dass auch wir uns heute in einer Krise befinden. Unser Land ist von großen wirtschaftlichen Problemen gezeichnet und die Politik weckt nicht gerade die Hoffung auf Besserung. Außerdem sehen wir täglich in den Nachrichten wie viele Kriege derzeit die Menschen leiden lassen. Und unsere Angst vor Terroranschlägen ist seit dem 11. September nicht weniger geworden. Wahrscheinlich wird „Astern“ bis in absehbare Zukunft ein zeitloses Gedicht bleiben, dass vielen Menschen nahe stehen kann.
1029 Wörter
Hilfsmittel:
- Internet zur Recherche über die Chiffre „Schwalben“
- Internet zu Arbeitstechniken des Interpretierens
- Duden
Hiermit versichere ich, dass der vorliegende Text mein eigenes Produkt ist. Ich habe ihn selbstständig und ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die angegebenen Hilfsmittel benutzt.
Lichtenstein, den 02.11.2004
- Citar trabajo
- Nicole Schönfelder (Autor), 2004, Benn, Gottfried - Astern - Interpretation des expressionistischen Gedichts #, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109123
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