Inhaltsverzeichnis
1) Einleitung
2) Selbstreferenzialität oder Metafiktion
3) Balkonszenen
4) Spiegel
5) “Kreative“ Berufe
6) Warum lesen?
7) Objekte und Symbole
8) Stilistisches
9) Reflektion über Sprache
10) Reflektion über die Bedingungen des Schreibens
11) Reflektion über den Wahrheitsgehalt
12) Reflektion über das Medium Buch
13) Vorwissen
14) Literaturquellen
15) Internetquellen
1) Einleitung
Marías Buch bietet eine ganze Reihe von Ansätzen zum Herausarbeiten metafiktionaler Züge. Allerdings schenkt die vorliegende Arbeit einigen Aspekten mehr Aufmerksamkeit als anderen. So werden die Themen Intertextualität/Intermedialität spezielle Bereiche der Übersetzungsproblematik weniger ausführlich behandelt, da es sich hier, dem Titel gemäß, vor allem um die selbstreferentiellen Anteile handeln soll. Trotzdem möchte Eingangs auf den Titel des Buches hinweisen, wobei es sich um ein Zitat aus Shakespeares „Macbeth“ handelt, welchen man insofern als programmatische Prämisse und nicht als ein zufälliges Aufgreifen zu verstehen hat. Der Autor möchte uns schon beim Betrachten des Einbandes darauf hinweisen, worum es variantenreich in seinem Text kreist, wiederum um andere Texte . Allerdings erschöpft es sich nicht in dieser Feststellung und man kann es als ein diffuses Zeichen deuten, welches seinen Sinn eher verbirgt als preisgibt, ganz im Sinne von U. Eco: „Ein Erzähler darf das eigene Werk nicht interpretieren, andernfalls hätte er keinen Roman geschrieben, denn ein Roman ist eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen. Doch eins der Haupthindernisse bei der Verwirklichung dieses noblen Vorsatzes ist gerade der Umstand, dass ein Roman einen Titel. Ein Titel ist leider bereits ein Schlüssel zu einem Sinn. […] Ein Titel soll die Ideen verwirren, nicht ordnen.“[1] Dieser Ausspruch, gemünzt auf Ecos Roman „Der Name der Rose“, scheint mir auch hier zutreffend zu charakterisieren, worum es Marías geht.
Die vorliegende Arbeit ist, wie gesagt, dabei nicht als eine erschöpfende Revision des Romans, sondern als eine Auswahl von Funden und Anzeichen anzusehen, welche hilfreich sein könnten, die metafiktionalen Züge besser zu würdigen.
An einigen Stellen der Arbeit wird nur mithilfe der Seitenzahlen auf das Buch Marías’ verwiesen, wobei stets die im Quellenteil aufgeführte Ausgabe von 1992 gemeint ist.
2) Selbstreferenzialität oder Metafiktion
Um zu bestimmen, worum es im Folgenden gehen soll, möchte ich eine begriffliche Eingrenzung vornehmen. Die Schwierigkeit liegt in der Vielfältigkeit der eingeführten Thermini und deren Bedeutungen. So überschneiden und begrenzen sich Begriffe wie: Metatextualität, Metafiktion, Selbstreferenzialität, Narzisstischer Roman, Mise en abyme, Surfiction gegenseitig, erheben mehr oder weniger Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, oder betonen bestimmte Aspekte. Zugleich wurde darauf hingewiesen[2], dass Metafiktion in seiner breiten Auslegung im Grunde seine Beschreibungsmacht verliere, da jeder Roman metafiktionale Bezüge aufweise, denn: Er steht durch intertextuelle Bezüge immer zu anderen Texten im Beziehung, ist durch die Verwendung der Sprache selbst in das ganze System der Sprache in all seinen Äußerungsformen eingebunden, und hat Sprache zum Thema, da diese nicht nur Instrument sondern auch Gegenstand der Darstellung durch Texte ist. Demnach ist es sinnvoll sich auf einige wenige Wesenszüge zu beziehen, um den Untersuchungsgegenstand eingrenzen zu können. Ich möchte deshalb im Folgenden einige Kerngedanken erwähnen, welche bei der Analyse eine Rolle spielen sollen.
Nach Waugh stellen metafiktionale Texte das Paradox zur Schau, dass jede sprachliche Beschreibung fiktionaler Welt zugleich deren Erzeugung ist. Realität ist demnach ein sprachliches Konstrukt[3]. Nach Spires besteht das wesentliche Merkmal der Metafiktion in der Grenzüberschreitung zwischen drei Welten: dem fiktivem Autor oder dem Schreiben, dem Buch oder der Erzählstruktur, und dem fiktiven Leser oder das Lesen[4]. Dadurch würden die Schreibkonventionen des Romans in ihrer Zweifelhaftigkeit und Arbitrarität aufgedeckt. Wichtig scheint mir Hutcheons Unterscheidung in offenes und verdecktes (overt/covered) Wissen über die Konstruiertheit des narrativen Prozesses, welches sich im Text ausdrückt, wobei man vorab sagen kann, dass bei Marías Text nur die zweite Form auftritt.
Von Sobejano-Morán[5] werden folgende Punkte als charakteristisch für den metafiktionalen Roman genannt: 1. die reflexive Funktion, die die Konventionen des eigenen oder eines anderen Textes hinterfragt und so auf die strukturellen und theoretischen Begebenheiten aufmerksam macht; 2. die selbstbewusste oder selbsterkennende Funktion, welche den Umstand beschreiben möchte, dass die Handelnden Personen eines Romans sich ihres fiktiven Charakters bewusst werden und über ihre Rolle im Verlauf des Romans nachdenken; 3. die metalinguistische Funktion, welche über den Charakter von Sprache (den Abbildcharakter, etc.) nachdenkt oder durch Verhinderung der Nachrichtenübermittlung durch die Sprache auf die Existenz der Sprache selbst hinweisen möchte; 4. die Spiegelfunktion, wobei ein in den Roman eingefügter Text den Roman selbst in Frage stellt, erweitert, wiederholt, zur Realität des Leser Verbindung herstellt, etc. 4. die ikonoklastische oder bilderstürmerische Funktion, wobei der Roman im Text desselben Romans Erwähnung findet oder die Erzählerstimme verfremdet oder dekonstruiert wird oder Übergänge zwischen Autor, Handelnden im Buch und realen Personen stattfinden oder die Verfremdung des äußeren Erscheinungsbildes des Buches erfolgt. Die Bezüge zu den genannten Phänomenen sind vielfältig, weshalb der theoretische Unterbau nicht immer erschöpfend abgearbeitet wird. Es soll dies vielmehr als ein Orientierungspunkt für alle folgenden Äußerungen dienen.
3) Balkonszenen
Die immer wiederkehrenden Balkonszenen kann man, abgesehen von ihrem dramaturgischen Wert und dem intertextuellen Bezug zu Shakespeares „Romeo und Julia“, als eine Metapher für die Stellung des Autors sehen, als Beobachter aus der Ferne, als Voyeur, abgetrennt von der Gesellschaft. Diese Überlegung wird sehr deutlich in der Szene, in der die Zigeunerin und der Leierkastenspielers auftreten, Juan wird hier mit einigen Widersprüchen des kreativen Schaffensprozesses konfrontiert: Einerseits die Umgebung zu beobachten, andererseits durch diese in seiner Tätigkeit gestört zu sein, sich den Menschen nahe zu fühlen, aber doch nur mithilfe von Geld agieren zu können. So könnte man die Reflektion über das Geld auch auf den Schriftsteller selbst beziehen, der als Vorbedingung für sein Schreiben idealerweise ein Einkommen haben sollte. Man kann noch weiter gehen indem man die Herkunft von Juan miteinbezieht. Seine Absicherung versetzt ihn in die Lage sich intellektuellen Dingen zu widmen. Ebenso könnte man die Abschnitte in denen Juan über Nieves, die Papierverkäuferin, nachdenkt, anführen, wobei Juan halb bedauernd feststellt, dass sie mangels Geld nicht in der Lage war sich weiter zu entwickeln, bzw. sich intellektuellen Dingen zu widmen. Natürlich bemüht Marias hier auch ein beliebtes Klischee über „Kreative“, welche, der naiven Vorstellung zu Folge, entweder bettelarm oder wohlhabend sein müssten. Interessanterweise wechselt Juan im Laufe des Buches seinen Standpunkt, mal blickt er vom Balkon hinunter, dann beobachtet er denselben Balkon von der Strasse aus. Es scheint mir deshalb legitim hier einen Verweis auf den Schriftsteller selbst zu sehen. Dieser nimmt Perspektivwechsel beim Erzählen der Geschichte vor und reflektiert darüber hinaus seine eigene Stellung als Autor. Die fast immer wieder auftretende Dreierkonstellation könnte man auf Sobejano-Morán beziehen, wonach es sich um das Verhältnis zwischen Autor, Handelnden im Buch und realen Personen handelt, welche im Verlauf der Erzählung ihre Standpunkte untereinander tauschen.
4) Spiegel
Eine Variante des Themas ist in dem wiederholt auftauchenden Spiegel zu sehen. Alle auftretenden Personen betrachten sich im Spiegel: Teresa vor ihrem Selbstmord, Juan und Luisa schauen sich gegenseitig durch den Spiegel im Hotel an, genauso wie Juan und Berta, Ranz prostet seinem Spiegelbild zu. So ist der Spiegel als eine klassische Metapher auch für die innerliche Selbstbetrachtung in Marías Buch ständig präsent, wenn auch die Situationen variieren. Eine besonders interessante Interpretationsmöglichkeit eröffnet Ranz’ scheinbar unsinniges Verhalten, so scheint mir hier der Spiegel als Mittel zur Überwindung von Zeit und Raum zu dienen, Ranz prostet seiner toten Frau Teresa zur Feier der Hochzeit seines Sohnes zu, womit auch noch der mystisch-geheimnisvolle Gehalt des Topos Spiegel verarbeitet worden wäre. Wer sich auf die Suche macht findet den Spiegel auch an anderer Stelle zitiert. So findet Velázquez’ Bild „Las Meninas“ zweimal im Text Erwähnung, was kein Zufall sein kann. Beinahe im Zentrum des besagten Bildes sieht man einen Spiegel auf dem der König und seine Gemahlin zu sehen ist. Doch was hat das damit zu tun? Die eigentlichen Hauptpersonen, und Auftraggeber des Bildes, befinden sich nicht direkt „im Bild“, der Künstler hingegen blickt den Betrachter selbstbewusst an. So gibt es hier einen wichtigen Verweis auf den Beginn dessen, was man als die moderne und eigenständige Künstlerpersönlichkeit bezeichnen könnte. Marías selbst reflektiert über seine Stellung als Schriftsteller in genau diesem Text, so wie Velázquez mit seinem Bild die Stellung des Malers durch dieses Bild grundlegend neu definiert hat. Indem Marías sich auf das Bild bezieht, weist er den Leser auf die eigene Reflektion seiner Stellung in dem Text hin. Der Spiegel im Bild ist aber noch aus anderen Gründen interessant, da der Betrachter unter den von Velázquez vorgesehenen Bedingungen , genau an der Stellen steht, wo der Logik des Bildes zu Folge das Königspaar stehen müsste. Das kann bedeuten, dass das Bild dem Betrachter, neue Erfahrungen eröffnen möchte, nämlich einmal da zu stehen wo der König steht, oder gar König sein. Des Weiteren will Velázquez damit auf den Betrachter ganz allgemein verweisen, in dem Sinne, dass dieser sich in dem Bild selbst spiegeln und seine Stellung reflektieren könne, auch dies ist eine Thematik die sich in dem Buch auch wieder findet. Der Spiegel sagt aber noch mehr aus, da er, genauso wie die Türöffnung daneben, als ein Bild im Bild zu sehen ist und damit das Verhältnis zwischen Kunst und Realität auslotet. Ist der Spiegel etwa „realer“ als der Türbogen daneben, ist nicht alles gemacht? Oder ist genau andersrum? In dem Shakespeare- Zitat „the sleeping and the dead are but as pictures“ führt Marías eine andere Wirklichkeitsvorstellung ins Feld: Bild und Abbild, sind gleichwertig, genauso tot oder genauso lebendig wie sein jeweiliges Gegenstück. Den Wahrheitsgehalt des Kunstwerkes zu bestimmen könnte man als eine Grundproblematik von Marías Text ansehen, weshalb an anderer Stelle wieder davon die Rede sein wird. Auch Velázquez geht noch einmal darauf ein, indem er die Leinwandrückseite scheinbar zufällig in den Vordergrund stellt und so auf den Charakter des Kunstwerkes an sich verweist, als etwas Gemachtes in der Fläche. In dem Sinne ist das Bild als ein Paradoxon zu sehen, welches einerseits Dreidimensionalität erzeugt, diese Illusion zugleich wieder zu zerstören sucht. Dieselben Paradoxie könnte man in Marías Handlungsstrang wieder erkennen: eine Geschichte, die erzählt wird (oder sich selbst erzählt), obwohl der Hauptakteur und Erzähler vorgibt nicht wissen zu wollen, wie es weiter geht. In einer Passage[6] bezieht sich Marías in ganz anderer Art auf dasselbe Bild. In der Erzählung seines Vaters speisen die Angestellten des Museums neben diesem Bild, wobei „gasosa y merengue“ darauf spritzt. Man kann aus dem Umstand, das der Velázquez als Staffage der Feierlichkeit schließen, dass Marías die Banalisierung eines Kunstwerkes, welche ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad auftritt, beschreiben möchte: der Moment wenn Artefakte der Hochkultur Eingang in die Popkultur finden. In diesem Moment wird die künstlerische Aura von Marías aber auch gleich verulkt indem er das teure und unerreichbare Original beschmutzen lässt. Doch scheinbar schadet diese Behandlung dem Bild nicht und es wird deutlich was damit gesagt werden soll: dies ist auch nur ein Bild was beschmiert werden kann, alle Überhöhungen sind nur Zuschreibungen. Wie sich selbst in diesem Kontinuum zwischen E- und U-Kultur positioniert ist nicht genau auszumachen, ein „sowohl als auch“ kommt der Wahrheit wohl am nächsten. Die Häufigkeit der Erwähnung des Spiegels deutet allerdings auch auf eine weitere Strategie Marías’ hin: die Verunklärung, das Spiel mit der Variante. So kann am Ende wohl nicht mehr behauptet werden, dass bei der Vielzahl der Verwendungsmöglichkeiten der Spiegel als ein eindeutiges Symbol stehen bleibt.
5) “Kreative“ Berufe
Die Handelnden der Geschichte sind von Marías in ganz bestimmter Weise konzipiert, man könnte sagen, dass sie zum größten Teil „kreativen“ Berufen nachgehen, oder sich im weitesten Sinne mit Sprache oder Kunst beschäftigen. Allerdings sind die Bezüge komplexer zu sehen als sie zuerst scheinen. Vordergründig verweisen diese Personen auf den Autor selbst und seine Tätigkeit, doch ihre Ausgestaltung reflektiert diese wiederum aus verschiednen Blickwinkel. So ist Juan Übersetzer und nicht Schriftsteller, womit auf das Problem der Übersetzbarkeit von Literatur und auf die das Duo Signifikat und Signifikant hingewiesen wird, also eine metalinguistische Perspektive. Zugleich ist Marías selbst Übersetzer von englischer Literatur, womit er in diesem Schritt seine eigene Tätigkeit in diesem Bereich mit einem Fragezeichen versieht. Der Kunstmaler und Fälscher Custardoy steht für die Doppelbödigkeit des kreativen Produktes. So stellt seine Person die Aura des Originals, welches die Berechtigung erhält in einem Museum zu hängen, in Frage. Seine charakterliche Erscheinung hinterfragt die moralischen Voraussetzungen der Künstlerpersönlichkeit, indem sie die Verbindung von hervorragendem Werk, welches auf eine ebensolche Person schließen ließe, zerschlägt. Das Interesse, was an der Person des Künstlers heutzutage besteht ist eine relativ späte Entwicklung in der Kunstgeschichte und wirft zugleich die Frage auf, ob eine Verbindung dieser beiden Bereiche überhaupt eine dem Kunstwerk entsprechende Sichtweise ermöglicht. Einen anderen Bereich des Kunstmarktes spiegelt Ranz wider, welcher Kunstkritiker und –Kenner in ein zwiespältiges Licht rückt. Er vermittelt, erklärt, verhilft zum Erfolg des Künstlers. Er ordnet die Kunstgeschichte, hebt hervor, lobt, tadelt. Daraus ergibt sich eine Verpflichtung zur ehrlichen und wahrheitsgemäßen Beurteilung. Ranz selbst erfüllt eben diese Anforderung nicht, er stellt falsche Expertisen aus und lässt sich auf Geschäfte mit zweifelhaften Auftraggebern ein. Dieser zweite Punkt berührt dieselbe Thematik wie die Persönlichkeit von Custardoy und stellt die Frage: ist es legitim beim Handel mit Kunst die beteiligten Personen, Käufer und Verkäufer, moralisch neutral zu betrachten?
6) Warum lesen?
Marías versucht dem Leser an verschiedenen Stellen bei der Lektüre seines Buches unter die Arme zu greifen, so sagt Juan: „y quisá sea esto lo que nos lleva a leer novelas…la busqueda de la analogía, del símbolo, la búsqueda del reconocimiento no del conocimiento“[7]. Hieraus könnte man schließen, dass dies als die Aufgabe des Schriftstellers zu sehen ist, und das auf diese Art konstituierte Literatur zum Lesen verführt. Der Leser könnte dies als eine Gebrauchsanweisung für die Lektüre auffassen, nach Analogien, Symbolen und dem „Wiederzuerkennenden“ zu suchen. Der einleitende Zweifel relativiert diese Aussage wieder und auf den zweiten Blick tritt die Vieldeutigkeit zu Tage: Was ist mit dem Gegensatz conocimiento/reconocimiento gemeint? Geht es um Wissen, Erkenntnis oder ist es nur ein Wortspiel? Und wenn es um ein „Wiedererkennen“ geht, ist der Leseprozess dann als ein Erinnern oder eine Wiederholung dessen zu sehen, was der Leser ohnehin schon weiß? Oder geht es um den Leser, der sich im Leseprozess selbst neu kennen lernt? So ist man bei genauer Betrachtung der Aussage durch diese kaum orientierter als vorher, doch diese Frage zu beantworten hätte auch wenig Sinn und zeigt, dass der Leser selbst seine Motive und Ziele herausfinden muss.
7) Objekte und Symbole
Ein Bereich der großen Raum einnimmt sind die Objekte oder Symbole. Diese beiden Begriffe sind nicht synonym zu sehen, doch verwendet Marías in seinem Buch oft eine Strategie, die darauf abzielt Objekte in Symbole zu verwandeln. So gibt es eine ganze Reihe von Wörtern, die ungewöhnlich häufig Erwähnung finden (um nur einige zu nennen: la toalla, el mechero, la mano en el hombro, la almohada, la brasa, el brazo, la gota, la mancha, wobei „la almohada“ das Objekt mit der größten Häufigkeit ist: 15 mal!). Dieser Umstand bewirkt, dass die Objekte aufeinander verweisen, die jeweiligen Situationen ihrer sonstigen Verwendungen im Text evozieren und sich so mit Sinn aufladen. Sie verstärken sich gegenseitig in ihrer Wirkung und beeinflussen sich gleichzeitig im Sinngehalt. Die Objekte weisen mit zunehmender Häufigkeit eine Diffusität in der Bedeutungsstruktur auf, und so wittert man hier ein Fingerzeig Marías auf Derridas’ Différance, wonach Wörter stets auf andere Wörter verweisen und so eine abschließende Definition unmöglich machen. Die Wörter in Marías Text verwandeln sich und werden in diesem Sinne Symbole, zugleich wird der Verweischarakter des Symbols durch die Diffusität in Frage gestellt. Was ein Objekt „bedeutet“ lässt sich am Schluss nicht mehr klar beurteilen. Zum Ende hin[8] führt Marías noch einmal alle Objekte gemeinsam an, hier dienen sie einer Verdichtung der Spannung. Diese Spannung wird zum Teil allein durch deren Nennung erzeugt, in diesem Augenblick scheinen sie die gesamte Geschichte zu resümieren. Der Verlauf der Geschichte im ersten Kapitel deutet auf eine weitere Strategie hin im Zusammenhang mit den Objekten: der Objektivierung. Damit soll gemeint sein, dass der Fokus der Aufmerksamkeit auf Gegenstände und nicht Personen gelenkt wird, womit die Empathie des Lesers verhindert oder der Handlungsverlauf verfremdet werden soll. In diesem Kapitel kann man klar verfolgen, wie die Beschreibungen vom Kleid zum Bissen im Mund über den Wassertropfen schließlich zur zerlaufenden Torte wandern. Zugleich wird auf diese Art ein deutlicher Kontrast zur inhaltlichen Dramatik aufgebaut, die eigentlich banalen und passiven Gegenstände schieben sich in den Vordergrund und überlagern zum Teil die Geschehnisse. Dies kann man als eine ziemlich direkte Verletzung der Gattungskonventionen des Romans verstehen. Die Eigenständigkeit der Objekte unterstreicht Marías auch, indem er diese sich selbst ankündigen lässt. So taucht der Leierkasten auf Seite 99 auf, aber erst auf Seite 103 wird einem klar, dass es sich dabei um einen Verweis auf den späteren „Auftritt“ desselben gehandelt haben muss. An solchen Stellen scheint sich auch das Buch in seinen Strukturen selbst exemplarisch vorführen zu wollen. Das Verfahren der Objektivierung weitet Marías auch auf Handlungen/Zustände aus indem er wiederkehrende Tätigkeiten zu einem festen Gefüge mit Wiedererkennungswert verbindet. So denkt oder sagt Juan auf Seite 231 und 263 mit demselben Wortlaut „lo primero que hago es deshacer la maleta“. Genauso ließen sich „dar la espalda“ und „la mano en el hombro“ anführen, welche an verschiedenen Stellen Erwähnung finden und sich so in derselben Weise in „Symbole“ verwandeln.
An anderen Passagen kann man eine analytische Vorgehensweise zur Hervorhebung des Objektes erkennen. So ist auf Seite 77 zu lesen „el rostro: nariz, ojos y boca“ und auf der folgenden Seite „sus besos en nariz, ojos y boca (es todo el rostro)“. Hier wird durch die Aufzählung des Offensichtlichen das Gesicht zu mehr und weniger, zu einer Ansammlung von Merkmalen, welche aber scheinbar nicht mehr in dem Wort Gesicht zusammenfassbar sind. Diese Konzentration scheint dabei später Folgendes vorzubereiten. So heißt es „no hubo cara en el video de Nick“ auf Seite 172, wo gerade das Nichtvorhandensein jetzt an die vorherige Beschreibung denken lässt. Auch kann man in diesem Kontext eine Quasi-Erklärung der Analyse erblicken, diese deckt sich mit dem Hervorheben von Details, welche der Blick durch die Videokamera bewirkt, wie man ab Seite 196 liest. Diese Hervorhebung stellt Vertrautes in einen neuen ungewohnten Kontext, womit der Zweck dieser Herangehensweise auch schon erklärt wäre. An dem kurzen „¿eh?“ (S. 105, 135) lässt sich erkennen, dass Marías die Vieldeutigkeit und Arbitrarität seiner Symbole in einer Interjektion verdichten möchte: einmal unfreundlich, einmal neugierig, das Wort, oder Symbol, enthält in sich keine Hinweise auf seine Deutung.
8) Stilistisches
Die in dem vorherigen Abschnitt erwähnte Wiederholung von Objekten wird in syntaktischen Konstruktionen variiert, so ist auf Seite 247 zu lesen:“…Y entonces Villalobos siguió contando lo que no he querido saber, pero he sabido. Contó durante unos minutos. Contó con detalle. Contó. Contó“. Durch die Wiederholung des Wortes „contó“ bewirkt er zwei verschiedene Dinge. Einerseits bildet er die Zeitspanne des Erzählprozesses im textuellen Aufbau nach, andererseits spielt er auf die Eigenständigkeit des Wortes an, das Erzählen geschieht in dem Augenblick in dem die Wörter genannt werden, obwohl der eigentliche Inhalt „was“ erzählt wird erst später folgt. Eine ähnliche Situation gibt es auf Seite 272: “’No me lo cuente si no quiere. No me lo cuente si no quiere’, oí que repetía y repetía Luisa, y repetir y repetir eso cuando ya estaba contado era la forma civilizada de expresar su susto”. Auch erzählt sich Geschichte “von selbst”, gegen den Willen der Protagonisten, aber hier geht Marías noch weiter indem er das Wort „wiederholen“ selbst wiederholt. Das bedeutet, dass der Akt des Wiederholens in den Vordergrund gerückt wird und dem Leser dies sehr direkt vor Augen geführt wird, er hätte auch schreiben können: „Achtung, Leser, jetzt wird etwas wiederholt, wiederholt, wiederholt, …“, um sein Stilmittel herauszustreichen. Abgesehen von der stilistischen Seite bezieht sich der Erzähler an anderer Stelle (S. 172) direkt auf die inhaltliche Dimension: „es la única ventaja de la repetición, lo distorciona todo y lo hace familiar“, womit ein weiteres Beispiel für die vom Autor selbst gelieferten Erklärungen gegeben wäre, welche allerdings, wie schon weiter oben, mit Vorsicht zu genießen sind. Die Aussage macht einen klaren und einfachen Eindruck, stellt aber wieder einen Widerspruch zur Schau: wenn die Wiederholung alles verzerrt scheint es wenig nachvollziehbar dass sie zugleich zu einer Vertrautheit führen sollte. Ziemlich früh im Buch (S.33) tritt eine auffällige Stilfigur auf, die zwar auch mit Wiederholungen arbeitet, aber auf andere Art: „Con la luz se despejó un poco y quiso beber, y al beber un poco se sintió mejor, y al sentirse un poco mejor …“. So übernimmt das „poco“ eine Verbindungsfunktion zwischen den Satzteilen flankiert von der Wiederholung der zuletzt genannten Wendung. Hierbei wird dem Leser wiederum eine Struktur vorgeführt, die auf inhaltlicher Ebene den episodischen Charakter der Aussage hervorhebt. Juan spricht die Wiederholung selbst auch an, wobei er einen Ausspruch Custardoys im Geiste kommentiert: „Había vuelto a decir cenizo“ (S.135), wobei man es an dieser Stelle als ein ästhetische Einordnung verstehen kann. Die Wiederholung des Wortes erscheint ihm unangemessen und unschön, aus der Sicht des Schriftstellers Marías eine verständliche Überlegung, wobei er natürlich selbst dafür verantwortlich ist. So will er wieder den Eindruck der Autonomie der Sprache erwecken und reflektiert dabei über ästhetische Normen in der Literatur.
Diese Autonomie will er auch andeuten wenn es heißt „la pausa era inequívocamente retórica“ (S. 274) indem er bemerkt, dass dies jetzt eine Pause war, er diese als Schriftsteller selbst verursacht hat. Hier gehen Form und Inhalt wieder ineinander über, die Pause im Text entspricht der Pause in der Rede.
Ein weiterer Komplex an Wörtern stellt sich selbst in den Kontext des Melodramas oder der Schmierenkomödie, unschwer an der Wortwahl erkennbar: “Eres mio”, “yo te mato”, “conmigo al infierno”, “voy por ti” ( Siehe Seite 25, 26, 27, 46, 140, 141, 235, 283). Hierbei geht es Marías um den Bezug und die Zitierung eines Genres und deren kritische Hinterfragung und Persiflierung zugleich. Die in der sich entfaltenden Geschichte ausgedrückte Dramatik spiegelt sich in den klischeehaften Aussprüchen nicht wieder, sondern wird durch diese karikiert. Ähnlich wie die Bezüge zum Detektivroman, so dient das Zitat auch hier innerliterarischen Zwecken und nicht der Entwicklung des Plots, es wird nur so getan als ob es sich um ein Melodrama handelt.
9) Reflektion über Sprache
Der Beruf des Übersetzers erlaubt es, an vielen Stellen Überlegungen über den Charakter von Sprache einzubringen. So überlegt Juan ob es „schöner“ sei „la red“ oder „el red“ (S.65) zu sagen, eine Frage, die sich wohl eher ein Schriftsteller als der Leser stellen würde. An anderer Stelle kann Juan sich über die einfache Nennung von Wörtern wundern; Ranz sagt „picaflor, alianzas, sombras“ (S.94), wobei die Kontextinformation, dass Ranz diese Wörter ganz speziell auswählt und ausspricht, dem Auftreten der Wörter noch zusätzliches Gewicht gibt. Es macht allerdings den Eindruck, dass der Fokus nicht aus inhaltlicher Motivation auf diese Wörter gelenkt wird sondern als ein Sinnieren über Sprache verstanden werden muss. Das Wort „ajuar“ bezeichnet Juan als altmodisch und merkwürdig (S.148), womit er sich über den Gebrauch des Wortes Gedanken macht. Auch Villalobos drückt sich altmodisch aus, er sagt „medrados estamos“ anstatt „estamos arreglados“, in diesem Zusammenhang dient der Kommentar Juans auch der Charakterisierung der Person Villalobos, die ebenso altmodisch und darüber hinaus als halsstarrig und eher unsympathisch dargestellt werden soll. Hier könnte man einen Kommentar des Autors zur Sprache wittern: in Wörtern gerinnen Weltanschauungen, persönliche Ansichten und Charaktereigenschaften. Bei der Analyse von Bertas Briefen, welche ihr von ihrem namentlich nicht bekannten Verehrer zugesandt wurden, fallen Juan und auch Berta auf, dass der Verfasser nicht englischer Muttersprachler sein kann. Durch ihre Kenntnis der beiden Sprachen können sie die Feinheiten heraushören. Besonders wird das Wort „arena“ (S. 176) hervorgehoben, welches von ihnen als aus dem Spanischen abgeleitet identifiziert wird. Hier wird also eine metasprachliche Thematik angesprochen, welche mit der später noch angesprochenen Übersetzungsproblematik zusammenhängt. Daneben gibt es Ansätze die wirklichkeitsverändernde oder –formende Kraft von Sprache zu exemplifizieren. So hebt beispielsweise auf Seite 91 die Bedeutung des Wortes „Wir“ in einer Beziehung hervor. Die Zusammenfassung von zwei Personen in einem Wort prägt demnach auch die Selbstwahrnehmnung des Einzelnen. Als weiteres Beispiel wäre „la almohada“ zu nennen, in der Realität ist das Kissen doppelt vorhanden, in der sprachlichen Konvention steht es jedoch als einzelnes Kissen da. Allerdings scheint dieser zweite Fall nicht ganz so ernst gemeint und relativiert die vorherige Aussage eher. Berta preist sich in ihrer Kontaktanzeige mit dem Satz an „gente interesada en alguien como yo“ (S.163), was zuerst wenig ungewöhnlich erscheint. Im Kontext der beschriebenen Objektivierung der Liebesbeziehungen deutet diese Beschreibung auf eine ebensolche auf sprachlicher Ebene hin. Berta erstellt so durch ihre Beschreibung ein von ihr abgetrenntes Modell, eine Abstraktion, weil sie spricht nicht von sich, sondern von jemandem „wie ich“
Die in dem Buch häufiger (auf Seite 78, 91, 130, 146,148, 157, 158) bemühte Metapher “a nuestras espaldas”, die dadurch in den oben beschriebenen Bereich der Symbole eingeordnet werden könnte, wird bei seiner ersten Erwähnung mit einer Erklärung versehen. Diese beschreibt jedoch auf sehr vordergründige Weise deren Ursprung (lo indica la propia palabra) sodass, wie schon an anderer Stelle, nur scheinbar eine etymologisch erschöpfende Erklärung gegeben wird. In Wirklichkeit soll damit gesagt sein, dass eine wörterbuchartige Beschreibung nicht die Vielzahl der Erwähnungen in seinem eigenen Buch abdecken kann.
Vielleicht eines der besten Beispiele zum Thema der metalinguistischen Überlegungen ist der Vergleich von „besar y matar“ (S. 222), wonach es keinen Unterschied mache welches der Wörter der Schriftsteller benutze, da dies nicht die außerliterarische Wirklichkeit tangiere. Sprache nivelliert die in dieser Wirklichkeit grundverschiedenen Tätigkeiten, Töten ist kein „grausameres Wort“ als Küssen. Als sprachliches Zeichen unterscheiden sie sich nicht in ihrer Verweisfunktion auf die außersprachliche Realität. Hierbei wird die abbildende Funktion von Sprache in Frage gestellt. Gleichzeitig wird aber auch das Gegenteil behauptet: die Wörter sind zwar nicht identisch mit den Taten, aber an anderer Stelle wird ja gerade postuliert, dass sich durch das Sprechen über einen Sachverhalt dieser Sachverhalt verändert und verfestigt.
10) Reflektion über die Bedingungen des Schreibens
Eine der Bedingungen des Schriftstellerdaseins wurde bereits oben erwähnt: die finanzielle Absicherung entscheidet über den Zugang zu Bildung und damit oft über den gesamten weiteren Werdegang. Über die Probleme, die sich dem Schriftsteller in den Weg stellen, schreibt er auf verschiedene Weise. Eines dieser Probleme stellt die Trennung des Autors von seinen fiktiven Personen dar, so sagt Juan auf Seite 183 „yo no soy escritor“, und scheint sich damit von der Gleichsetzung Ich-Erzähler und Autor distanzieren zu wollen. Diese Äußerung fällt im Zusammenhang mit den angenommenen oder tatsächlichen Fertigkeiten eines Schriftstellers. Diese Unsicherheit, welcher sich der Schriftsteller stellen muss, wird von Marías gleich mehrmals (S. 90, 93, 95, 199), mit dem Ausspruch „¿y ahora que?“ auf den Punkt gebracht. Die Frage, die sich wohl immer wieder im Verlauf der Niederschrift stellt, wie es weitergehen soll, oder kann, legt er hier seinen Personen in den Mund. Auf Seite 148 unterhalten sich Juan und Lisa über ihr Leben, welches ja die Geschichte selbst darstellt, und stellen sich dieselbe Frage und verunklären damit: stellen sie sich diese Frage, stellen sie diese an den Autor, oder stellt sie sich der Autor in diesem Augenblick? An dem Allerweltsausdruck “pero nadie sabe el orden de los muertos, ni de los vivos”
(S. 100, 136) wird dieser Zweifel noch einmal gezeigt, denn wer, wenn nicht der Autor selbst, soll den diese Entscheidungen fällen?
Der Autor weist so die Verantwortung für den Verlauf scheinbar von sich, das Erzählen wird als ein mechanischer und sich selbst erhaltender Prozess beschrieben, „lo pone en marcha una sola palabra“(S. 147), der nur in der Aneinanderreihung von Wörtern besteht, was man als einen Kunstgriff bezeichnen würde, welcher nicht ernsthaft die Realität widerspiegelt. Als weitere Ausgestaltung des Themenkomplexes kommt das Shakespeare-Zitat: „No te pierdas tan abatido en tus pensamientos“ ins Spiel, wenn man es als eine Reflektion des Autors oder gar eine Ermahnung sieht: Der Autor soll nicht den Faden verlieren, nicht abschweifen sondern dem Handlungsstrang folgen. Schon auf Seite 200 trifft man auf genau die entgegengesetzte These: „hay que inventarse problemas […] ver lo que no hay, para que haya algo“, womit einerseits die völlige Autonomie der Literatur postuliert wird und andererseits deren Wahrheitsgehalt in Frage gestellt wird - Literatur als Konstrukt, nicht als Abbild der Wirklichkeit. Eine generellere Reflektion über das Schriftstellerdasein drückt sich aus in Juans Nachdenken über Custardoys Schnurrbart: „el deseo de ser multiple […] su manera de parecer mas de uno“ (S. 131). Auch der Autor spiegelt sich gemeinhin in seinen Figuren, er wird durch sie multiple. Aber durch die Art der Beschreibung problematisiert Marías zugleich diesen Sachverhalt: sind die Figuren glaubhaft, nachvollziehbar und authentisch, oder nur wie der Bart den man sich stehen lässt oder abrasiert, flüchtig und oberflächlich?
11) Reflektion über den Wahrheitsgehalt
Bezüglich des Wahrheitsgehaltes gehen die Überlegungen in zwei Richtungen, der Text hinterfragt sowohl die inner- als auch die außerliterarische Realität. Die bereits erwähnte Übersetzungsthematik spielt auch in diesem Zusammenhang eine Rolle, so wird der Verweischarakter der Sprache und die angenommene Objektivität der Übersetzung in Frage gestellt und damit auch der Wahrheitsgehalt des Buches selbst. Als Beispiel mag hier nur folgender Abschnitt genügen, in dem Juan über die Schwierigkeiten beim Übersetzen nachdenkt und damit den relativen Charakter von Sprachbedeutung herausstellt: ”'Mis manos son de tu color', le anuncia a Macbeth; 'pero me avergüenzo de llevar un corazón tan blanco', como si intentara contagiarle su despreocupación a cambio de contagiarse ella de la sangre vertida de Duncan, a no ser que 'blanco' quiera decir aquí 'pálido y temeroso', o 'acobardado’.”(S. 107) An dem einzelnen Wort zeigt sich die ganze Problematik auf klare Weise.
Wenn man die Tätigkeit des Schriftstellers als eine Übersetzung von Ideen und Gefühlen in die literarische Ebene versteht, wird diese damit zweifelhaft gemacht, auch wenn man an einen fiktionalen Text einen anderen Anspruch stellt. Trotzdem nimmt man bei einem Text eine in sich geschlossene Logik und Glaubhaftigkeit an, welche ständig unterlaufen wird. So wird alles Erzählte meist auch gleich wieder relativiert: „quizá, segun creo, no sé bien, etc.“ leiten viele Aussagen ein, alles ist relativ, kaum etwas wird als „Tatsache“ in der Geschichte vorgestellt. Dies drückt sich auch in Juans Einleitung seiner eigene Darstellung aus, „No he querido saber pero he sabido“, womit zum Ausdruck kommt, dass selbst dem Ich-Erzähler alles Folgende nur durch Dritte angetragen wurde, er nur erzählt, was er gehört, aber nicht erlebt hat. Genauso Villalobos (ab Seite 253), der sich nicht mehr entsinnen kann, ob er etwas erlebt hat oder nur in einem Film gesehen hat. Hieraus kann man auch eine gängige Medienkritik ableiten: der in Informationsfluten versinkende Mensch kann nicht mehr unterscheiden zwischen primären und sekundären Erfahrungen.
Das Problem der Wiedergabe von Erzählungen anderer wird noch einmal thematisiert auf Seite 221: “son los que dicen algo y se refieren de verdad a los hechos[…]sin la envoltura de las palabras que no sirven tanto para dar a conocer o relatar o comunicar”. Das bedeutet einerseits, dass alles Erzählen nicht mit dem eigenen Erleben gleichzusetzen ist, andererseits stellt diese Aussage den gesamten Text in Frage: geben diese Worte etwas Reales wieder, kann man etwas Reales mit Wörtern wiedergeben, in welcher Beziehungen stehen die Wörter zur Realität? (Realität im Sinne außerliterarischer Realität) An anderer Stelle postuliert er, dass es wahrscheinlich um etwas anderes beim Lesen eines literarischen Textes geht: “El que dice es insaciable y es insaciable el que escucha, el que dice quiere mantener la atención del otro infinitamente, quiere penetrar con su lengua hasta el fondo [...] y el que escucha quiere ser distraído infinitamente, quiere oír y saber más y más, aunque sean cosas inventadas o falsas” (S.267), d.h. der Erzähler will mit seinem Text die Aufmerksamkeit erwecken und aufrecht erhalten, der Leser will unterhalten werden, die Frage nach dem Wahrheitsgehalt stellt sich demnach nicht. Fiktion wird dadurch spannend und unterhaltsam, dass der Leser glaubt, was er liest. Auf Seite 200 geht Marías noch weiter, demnach “Contar deforma, contar los hechos deforma los hechos y los tergiversa […] todo lo que se cuenta pasa a ser irreal y aproximativo aunque sea verídico”, was nichts anderes bedeutet, das alles Übersetzen in einer Geschichte die realen Begebenheiten verschwinden lässt, also bildet Sprache nicht ab, sondern gehorcht ihren eigenen Gesetzlichkeiten. Wenn dem so ist trifft auch dies zu: “la lengua como disfraz, como falsa pista” (S.175). Sprache verwirrt nur, klärt nichts auf, lockt nur auf falsche Fährten. Genau dies könnte man natürlich von dem Buch selbst annehmen, der Leser wird geblendet durch Sprache vom realen Geschehen abgelenkt, er muss herausfinden, was mit dem Erzählten eigentlich zum Ausdruck kommen soll. Eine ganz andere Ansicht kommt wiederholt zum Ausdruck in dem Ausspruch: „a veces tengo la sensación de que nada de lo que sucede, sucede“ (S. 37/195/294), womit die innerfiktional Handelnden die außerliterarische Realität in Frage stellen. Der Text reiht sich damit ein in die lange Linie der Autoren, die sich dieses Kunstgriffs bedienen. Die literarische Figur erhebt Anspruch authentischer zu sein als die außerliterarische Realität.
12) Reflektion über das Medium Buch
Alle vorherigen Überlegungen zum Wahrheitsgehalt stellen auch generelle Fragen zum Medium Buch, was es darstellt, welche Funktion hat, welche Bedingungen vorhanden sein müssen, damit es zur Entstehung eines literarischen Werkes kommen kann. An dieser Stelle soll deshalb nur kurz auf zwei Aspekte eingehen: das Verhältnis zum gesprochenen Wort und zum Medium Film. Es gibt eine ganze Reihe von Bemerkungen zum Thema des Klanges der Sprache, die Betonung, der Akzent, auch Geräusche werden erwähnt um die Eigenständigkeit der Schriftsprache hervorzuheben. So hebt dies das Offensichtliche hervor, dass man die Augen, aber nicht die Ohren verschließen kann. In den Passagen der Enthüllungen scheint es jedoch genau anders zu sein, das Gesagte erzählt sich wie von selbst auch gegen den Willen der Handelnden (oder des Autors?) In dieselbe Richtung geht die Überlegung, welche zwischen Gesprochenem und Gedachtem unterscheidet. Das Gesagte steht konkreter da als das Gedachte, was man denkt ist noch offen für Spekulationen. In dem Buch gibt es nun eine ähnliche Abstufung: die Wahrheit über das Geschehene scheint von Anfang an bekannt zu sein konkretisiert sich aber erst in der Rede der Personen und wird dadurch scheinbar zur Gewissheit. In Bezug auf das Medium Buch stellen sich die Probleme wieder anders da. Was geschrieben wird ist solange frei für Spekulationen solange es nicht gedruckt wurde. Sobald das Buch in der Hand des Lesers liegt entzieht es sich dem Einfluss des Autors und unterliegt der individuellen Interpretation. Das umschreibt also wiederum die Hauptmerkmale der Schriftsprache: abgeschlossene Form trotzdem ständiger Veränderlichkeit durch die Interpretation des Lesers.
Zum Thema des Videos schildert Juan ab Seite 171, dass er Videos für wahrhaftiger und objektiver halte als andere Arten der Darstellung, was allein schon durch die Technik bedingt sei, welche gewährleiste, dass das Gesehene festgehalten wird. Umgekehrt kann man daraus schliessen, dass dem Buch scheinbar ein geringerer Wahrheitsgehalt unterstellt wird. Andererseits wird auch diese Darstellung des Mediums wieder relativiert, durch die Beschreibung der Videoaufnahmen selbst: der Körper wird zum Fragment, Personen sind nicht identifizierbar, der Blick der Kamera verzerrt, hebt hervor und ist dadurch keineswegs objektiver als andere Darstellungsweisen.
13) Vorwissen
Juan erzählt einige Begebenheiten, wie die Beschreibung von Miriam und Guillermo, auf eine bestimmte Art und Weise, die verrät, dass er schon den Ausgang der Geschichte kennt. Auf Seite 98 sagt oder denkt er beispielsweise “una pena y un miedo que venian de otra persona cuyo rostro habíamos olvidado ya un poco”, womit er sich auf eine der beiden verstorbenen Frauen von Ranz bezieht, dies kann er an diesem Punkt aber eigentlich noch nicht wissen. Diese Vorgriffe haben in erster Linie einen illusionszerstörenden Effekt. Da man als Leser sein Vertrauen darin setzt, dass sich die Geschichte in dem Augenblick des Erzählens entwickelt, verliert sie hiermit ein Stück Glaubwürdigkeit. Marias verweißt aber auch auf den Autor, also sich selbst: Er kennt die Geschichte, oder hat zumindest eine grobe Vorstellung zum weiteren Ablauf, so färbt sein Wissen auf die Beschreibungen ab, was zunächst sofort einsichtig erscheint. Das hier jedoch der Leser gerade auf diesen Umstand hingelenkt wird weist auf eine Metastrategie hin.
14) Literaturquellen
Eco, Umberto: Auf dem Wege zu einem Neuen Mittelalter. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1989.
de Toro, Alfonso/Dieter Ingenschay: La novela española actual. Autores y tendencias. Kassel: Edition Reichenberger 1995. (S. 55 – 97)
Maeseneer, Rita de: « Sobre la traddución en „corazón tan blanco“ de Javier Marías » in Espéculo: Revista de estudios literarios. Marzo a junio 2000
Marías, Javier: Corazón tan blanco. Barcelona: Editorial Anagrama, 1992.
Simonsen, Karen-Marghrete: « Corazón tan blanco- A post-postmodern novel by Javier Marías » in Revista Hispanica Moderna (1999), Seite 193-212
Sobejano-Morán, Antonio: Metaficción española en la postmodernidad. Kassel: Edition Reichenberger, 2003.
Winter, Ulrich: Der Roman im Zeichen seiner selbst. Typologie, Analyse und historische Studien zum Diskurs literarischer Selbstrepräsentation im spanischen Roman des 15. bis 20. Jahrhunderts. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1998.
15) Internetquellen
http://www.javiermarias.es/PAGINASDENOVELAS/contracorazon.html, Zugriff: 09. 01. 04
http://www.javiermarias.es/PAGINASDECRITICAS/criticasyresenascorazon.html, Zugriff: 09. 01. 04
[...]
[1] S. 46: Eco, Umberto: Auf dem Wege zu einem Neuen Mittelalter. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1989.
[2] S. 16: Winter, Ulrich: Der Roman im Zeichen seiner selbst. Typologie, Analyse und historische Studien zum Diskurs literarischer Selbstrepräsentation im spanischen Roman des 15. bis 20. Jahrhunderts. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1998.
[3] S. 22: Winter, Ulrich: Der Roman im Zeichen seiner selbst. Typologie, Analyse und historische Studien zum Diskurs literarischer Selbstrepräsentation im spanischen Roman des 15. bis 20. Jahrhunderts. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1998.
[4] S. 18: Sobejano-Morán, Antonio: Metaficción española en la postmodernidad. Kassel: Edition Reichenberger, 2003.
[5] S. 23: Sobejano-Morán, Antonio: Metaficción española en la postmodernidad. Kassel: Edition Reichenberger, 2003.
[6] S. 117: Marías, Javier: Corazón tan blanco. Barcelona: Editorial Anagrama, 1992.
[7] S. 200: Marías, Javier: Corazón tan blanco. Barcelona: Editorial Anagrama, 1992.
[8] S. 286-291: Marías, Javier: Corazón tan blanco. Barcelona: Editorial Anagrama, 1992.
- Citar trabajo
- Philip Gutzeit (Autor), 2004, Selbstreferenzielle Aspekte in Javier Marías' 'Corazón tan blanco', Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109119
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