Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 „Praxis Stahliana“ – Georg Ernst Stahl
3 Diätetik und Literatur
3.1 Johann Samuel Carl
3.2 Die Stärke der Seele
4 „Von den Leidenschaften“ – Johann Friedrich Zückert
5 Einbildungskraft und Gesundheit – Therapia imaginaria
6 Anakreons Mut oder die Kunst, stets fröhlich zu sein
7 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Dieser wissenschaftlichen Arbeit liegt ein Text von Wolfram Mauser zugrunde. Der Titel lautet: „Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung“[1].
Der Beitrag beginnt mit einem Gedicht:
„An Chloen
Ich merke, wann sich Chloe zeiget,
Daß nun mein Auge nicht mehr schweiget;
Daß Suada nach den Lippen flieget
Und glühend roth im Antlitz sieget;
Daß alle sich an mir verjüngt,
Wie Blumen, die der Thau durchdringt.“[2]
In diesen Versen liegt eine Aussage, die nicht in jedem Gedicht so offen zutage kommt, die aber der Rokokodichtung im Ganzen[3] zugrunde liegt, nämlich „die belebende, verjüngende, diätetisch-therapeutische Kraft von Phantasieinhalten; sie erfrischen den Menschen ‚wie Blumen, die der Thau durchdringt’“ (Mauser 1988, 87).
Dieses Gedicht wendet sich an die Vorstellungskraft des Lesers. Zur Wein-, Weib-, Gesang-Topik der Anakreontik gehört geradezu das Bewusstsein, dass nicht von der Wirklichkeit die Rede ist, sondern von einer vorgestellten Welt geselliger Freude (vgl. Mauser 1988, 87).
Anakreontik ist eine Poesie, die ihre Autoren mit Ernsthaftigkeit betrieben. Das waren u. a. Johann Peter Uz, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Friedrich Hagedorn, Johann Nikolaus Götz sowie Johann Christoph Gottsched[4]. Sie stellten sich die Frage nach der inneren Begründung einer Poesie, die meist als Tändelei, als launiges Spiel, als Modeerscheinung abgetan wurde (vgl. Mauser 1988, 88).
Es liegt nun nahe, zu fragen, ob die Berücksichtigung des in der Zeit verbreiteten medizinisch-diätetischen Interesses nicht dazu beitragen kann, die Rokokodichtung besser zu verstehen (Mauser 1988, 89).
Dabei soll nicht auf Gesundheitsregeln und deren Einfluss, Absicht oder Vermittlung eingegangen werden, sondern an Funktionszusammenhänge erinnert werden. Dies ist eine Phase, in der Dichtung in neue Zweckbestimmungen tritt. Vorraussetzung dafür ist die Tatsache, dass das neugewonnene Bewusstsein von Autonomie im 18. Jahrhundert mit der Bereitschaft verbunden war, sich den Selbstregulierungskräften der Natur anzuvertrauen. Dies bedeutet, sich auf die lebendig-sinnliche Seite einzulassen und sich ihr ein Stück auszuliefern. Das heißt aber nicht, dass der Mensch zerstörerischen Leidenschaften verfällt, sondern sich in der Phantasie auf Sinnlichkeit einlässt. Freude, Fröhlichkeit und Lust fördern dann seine Gesundheit. Er findet „zu einer der Natur gemäßen Lebensordnung“. Die theoretische Grundlage für dieses Konstrukt findet man im medizinisch-diätetischen Schrifttum dieser Zeit (vgl. Mauser 1988, 89).
2 „Praxis Stahliana“ – Georg Ernst Stahl
Bis in das 18. Jahrhundert hinein betrachtete man Körpervorgänge mechanistisch-hydraulisch[5] (Mauser 1988, 89). Diese Modelle erlaubten plausible Begründungen von Krankheiten. Die freie Zirkulation der Flüssigkeiten, die Interaktionen der Stoffe drückten Gesundheit und Leben aus, die Stockung eben Krankheit und Tod (vgl. Bergdolt 1999, 251). Ärzte wie Friedrich Hoffmann [6] aus Halle verstärkten diese Linie. Sein Bestseller Gründliche Anweisung, wie ein Mensch vor dem frühzeitigen Tod und allerhand Arten Kranckheiten durch ordentliche Lebensart sich verwahren könne[7] zielte auf eine Synthese von aufgeklärter Wissenschaftsgläubigkeit und christlichem Urvertrauen: „Die wahre Glückseligkeit beruht auf drei Stücken, nämlich daß man in Gott vergnügt und ruhigen Gemüths sey, daß man eine gesunde und wohl cultivierte Vernunfft habe und daß man sich dabei auch der Leibesgesundheit erfreue. [...]“ (Bergdolt 1999, 253).
Für eine Seele, die anders sein sollte als ein vitales Prinzip, war in der mechanistischen Medizin kein Platz. In der Aufklärungsphilosophie fand die konsequente Trennung von Körper und Seele unter Gottfried Wilhelm Leibniz oder Christian Wolff[8] seine Unterstützung zu den Grundannahmen der Medizin. Das Denken beruhte auf der Gewissheit, dass Körper und Seele bei einer gedachten vollständigen Trennung der Bereiche einander entsprechen und zur Harmonie befähigen. Man bezeichnete dies auch als die zwei Uhrwerke, die in perfekter Parallelität arbeiten. Nur so könnten die Verstandeserkenntnisse von Trübungen, etwa durch die Sinne, freigehalten werden. Der Verstand darf nicht durch Störungen und Unausgeglichenheiten, denen der Körper unterliegt, beeinträchtigt werden (vgl. Mauser 1988, 89f.).
Wolff konzipierte ein Konstrukt von Wissenschaft und Ethik. Ihn interessierten die mentalen Prozesse – gedankliche Leistungen frei von Unwägbarkeiten der Sinne. Er hielt zum Beispiel sinnlich eingeleitete Vorgänge für bedrohlich, da sie Verstand und Erkenntnisfähigkeit beeinträchtigen können (vgl. Mauser 1988, 90).
Georg Ernst Stahl[9] widersprach den dualistischen Modellen und stellte eine synergetische Theorie des Zusammenspiels von Körper und Seele auf. In seinem Konzept verbanden sich animistische[10] und hermetische Vorstellungen, sein Erklärungsmodell war primär praxisorientiert. Die ‚ Praxis Stahliana’ fand weite Verbreitung und wurde zur Signatur für eine bestimmte ärztliche Grundeinstellung. Die besondere Leistung und der Hauptgrund der weitreichenden Wirkung lagen darin, dass Stahl schon sehr früh (1685) von einer umfassenden Theorie vom Menschen als einer Ganzheit sprach: wechselseitige Reaktionen von Körper und Seele sind Bewegungen, die durch sinnliche Wahrnehmungen ausgelöst werden und die Rückwirkungen physiologischer Vorgänge auf das Gemüt[11]. Stahl erwartet sich von der Selbstbeobachtung einen Einblick in die Seele. Dies wird in therapeutischen Schriften deutlich, denn er setzt sich für eine körpergerechte Verhaltensweise ein, dass heißt die Bewegungsabläufe des Körpers berücksichtigend. So sind zum Beispiel die körperlichen Gegebenheiten eines Kindes im Mutterleib ebenso entscheidend wie die psychischen Voraussetzungen im Elternhaus (vgl. Mauser 1988, 90).
„Stahls Methode, die als Praxis Stahliana fast so sprichwörtlich wurde wie die berühmten Tropfen seines Kollegen und späteren Widersachers Friedrich Hoffmann, nimmt mit der Forderung nach Selbst- und Fremdbeobachtung eine Verhaltensweise auf, die auch für den Pietismus charakteristisch ist. Dies erklärt sich nicht zuletzt aus der geistigen und emotionalen Welt, aus der Georg Ernst Stahl kam. [...] Stahl sah sich als Praktiker, Forscher und Lehrer. Mit nicht nachlassender Energie vertrat er den akademisch-wissenschaftlichen Charakter seiner Erkenntnisse; dennoch konnten naturphilosophisch-hermetische Gedanken in seine Lehre und Praxis Eingang finden; dies allerdings mit der wichtigen Neuerung, daß die Ergebnisse seiner Beobachtungen und die Deutung des Erkannten der Überprüfung standhalten mußten.“ (Mauser 1988, 90f.)
Die Theorie von Stahl wurde zur Leitlinie eines veränderten ärztlichen Verhaltens – unabhängig von Religion oder Glauben[12]. Daraus entwickelte sich eine diätetisch orientierte Medizin, die mechanistische Vorstellungen in naturhaft-ganzheitlichen Anschauungen mit einbezog (vgl. Mauser 1988, 92).
3 Diätetik und Literatur
Zunächst soll der Begriff Diätetik kurz erläutert werden. Das Wort kommt aus dem Griechischen und wird heute mit Ernährungslehre übersetzt.
Der Begriff umfasste von der Antike bis zur Mitte des 19. Jahrhundert ein wesentlich weiteres Spektrum und bezog sich auf alle Bereiche der Lebensführung, der Gestaltung der unmittelbaren Umwelt und des Seelenlebens. Über deren Steuerung sollte dem gesunden Menschen prophylaktisch zu einem gesunden und dann auch langen und glücklichen Leben verholfen werden. Aus dieser Grundüberlegung heraus entging der diätetischen Mentalität kaum ein Bereich, sie reichte von den psychischen Kuren über die Architektur und Gartengestaltung bis hin zur Pädagogik und Unfallvorsorge (vgl. Egger 2001, 49).
Diätetik ist gleichbedeutend mit der Lehre vom naturgemäßen, gesunden Leben (vgl. Mauser 1988, 94).
Dazu gehörte eine sorgfältige Speisenauswahl (Rhein- und Moselweine, Geflügel und Fleischsorten waren „diätetisch“ zu konsumieren) und Sport, zum Beispiel Kutschfahrten, Gymnastik und Spaziergänge (Bergdolt 1999, 251).
Die Gesundheit wird im Dictionnaire portatif de santé (1771) beschrieben als „gute Disposition aller Teile des Körpers, die ihn in die Lage versetzen, optimal zu funktionieren, eine Harmonie und Symmetrie, welche die festen und flüssigen Teile auszeichnet, woraus ein Gleichklang aller Körperfunktionen resultiert“[13] (Bergdolt 1999, 260). Der Mensch ist gesund, wenn er:
„[...] zunächst wohlgestaltet“ ist, „zumindest in den lebenswichtigen Partien wie dem Kopf, der Brust und dem Unterleib; man braucht eine gute Konstitution, viel Muskeln und wenig Fett, große und starke Knochen, einen breiten und viereckigen Brustkorb, einen eher großen als kleinen Kopf, einen nicht zu herabhängenden Bauch. Der Appetit darf weder zu groß noch zu klein sein, täglich soll man regelmäßig Stuhlgang haben, urinieren und viel ausschwitzen. Nach dem Essen sollte der Körper leicht sein, die Glieder geschmeidig und ohne Müdigkeit. Man darf keine Schmerzen verspüren, der Schlaf sollte angenehm und ruhig sein.“[14] (Bergdolt 1999, 260)
Die im 18. Jahrhundert verbreitete Gewissheit, dass die Natur über besondere Selbstregulierungskräfte verfüge, führte zu einer Wiederbelebung diätetischer Gedanken. Diätetik ist im 18. Jahrhundert der verstärkte Versuch, die Lebensumstände und die Lebensweise der Menschen im Interesse ihrer Gesundheit nach Regeln zu ordnen. Man erinnerte sich an die medizinischen Grundregeln des Hippokrates, machte aber auch Versuche, Natürlichkeitsforderungen mit moralischen Normen in Einklang zu bringen. Das rechte Maß wurde zu einem der Leitgedanken. Zugleich fanden Bestrebungen, das Leben zu verlängern, neue Aufmerksamkeit (Mauser 1988, 117).
Die Verfasser von Beiträgen zu der Moralischen Wochenschriften [15] beschäftigten sich mit dem Thema lange vor Immanuel Kant und Christoph Wilhelm Hufeland[16] (Grundsatz der Diätetik in der Schrift Der Streit der Facultäten, 1798). Im 19. Jahrhundert lag der Akzent dann stärker auf Fragen einer Diätetik der Seele (Ernst von Feuchtersleben, 1838). Im Zuge einer verstärkten naturwissenschaftlichen Orientierung der Medizin verloren sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Sache und das Wort. Die Bezeichnung Diät ist heute ausschließlich mit dem Wort Gesundheitsernährung verbunden (Mauser 1988, 117).
Eine Durchsicht des diätetischen Schrifttums der Zeit zeigt, dass sich Ärzte nicht primär auf medizinische Literatur, sondern auf Dichter der Zeit berufen (Hagedorn, Haller, Gleim, Uz). Die Brauchbarkeit von Aufklärungsdichtung für die Argumentation in medizinisch-diätetischen Schriften zeigt, dass der Versuch, die Menschen zur Glückseligkeit im Diesseits zu führen, auch bedeutete, seine Gesundheit zu sichern; mehr denn je wurde Gesundheit in seelischem und körperlichem Sinne gedacht. Das medizinisch-diätetische Schrifttum, ein wichtiger Teil der Dichtung und die Mehrzahl der Moralischen Wochenschriften erfüllten darin eine gemeinsame Aufgabe. Es ist daher nicht nur zu fragen, was Gesundheit in diesem Zusammenhang bedeutet, sondern auch, welcher Leitvorstellungen sich die Autoren bei dieser gemeinsamen Anstrengungen bedienten (Mauser 1988, 93).
Der Gesundheitsbegriff des diätetisch orientierten Schrifttums steht in enger Übereinstimmung mit den Anschauungen von Georg Ernst Stahl und seiner Theorie. Seine Schüler und Anhänger vertreten die Ansicht, dass der ‚natürliche Weg’ Vorrang vor jeder Art medizinischer Technologie hat. Ein Vertreter ist Dr. Johann Samuel Carl. Auf ihn wird im nächsten Unterkapitel eingegangen.
3.1 Johann Samuel Carl
Dr. Johann Samuel Carl war ein Repräsentant für eine soziale und christlich begründete Diätetik. Er stellte fest, dass die höheren Schichten der Gesellschaft ärztlich besser versorgt seien als die niedrigen Stände und brachte dies gleich in der Einleitung seines Werkes Armenapotheke nach allen Grundtheilen und Sätzen der Medicin[17] (Leitfaden für Laien und auch diejenigen, „die sie versorgen und doch keine Kenntniß der Arzneikunst haben“) zum Ausdruck (Carl 1789, Einleitung). Gleich in seinem ersten Kapitel empfiehlt er jedermann die Einrichtung einer Hausapotheke mit „Kräutern, Wurtzeln, Blumen und Samen“. Die meisten Heilkräuter finde man kostenlos in der Natur. Der sozial engagierte Arzt entwarf auch eine summarische Pest-Tabelle, die über „Präservation“, Arzneien und öffentliche Maßnahmen zu Seuchenzeiten aufklärte. In zwölf Punkten wurde dargestellt, welches im Notfall die Pflichten der Gesellschaft waren: der Obrigkeit kommen die notwendigen Verordnungen zu, die Prediger sollen mit göttlicher Gnade und Gebeten beistehen, die Ärzte sollen alle Patienten betreuen, die Apotheker müssen sich mit genügend gehörigen Arzneien versorgen, usw. (Bergdolt 1999, 257f.).
Carl schreibt schon in seiner Medicina Aulica[18] von 1740, dass jeder sein eigener Arzt sein sollte. Immer wieder plädiert er für die Einheit der „Leibs- und Seelen-Wolfahrth“. Seine Kritik richtet sich gegen Quacksalberei. Es komme darauf an, eine gehörige Diät einzurichten. Dazu sei es nötig, in stiller Ruhe die Natur sich erholen zu lassen. Künstliche Gold-, Silber-, Granat-, Corall-, Perlen-Tinkturen helfen nicht wirklich, besser ist es, man lässt die Natur gewähren. Hinter solchen Anweisungen steht die Überzeugung, dass die Natur die nötige Reinigungsarbeit übernimmt und die Gewissheit, dass zur „Leibes-Haushaltung“ insbesondere das Wohl der Seele, der „Seelen-Kräfte“ gehöre. Hat sich also Unordnung im Körper-Seele-Haushalt eingestellt, komme es nun darauf an, das Gleichgewicht, aequilibrium genannt, wiederherzustellen (Mauser 1988, 93f.).
Carl unterscheidet das aequilibrium morale, aequilibrium physicum und aequilibrium medicum, bespricht ausführlich Symptome und Therapien auf der Linie dieser Gesundheitskonzeption, ist sich aber dabei bewusst, dass Temperament, Gewohnheit und Alter darüber mitentscheiden, wo das jeweilige Gleichgewicht zu finden ist. Die Diätetik erfordert eine unaufhörliche Selbstbeobachtung und Selbstbeurteilung, um das innere und äußere Gleichgewicht zu fördern. Dabei soll einer Ordnung der Natur gefolgt werden, wobei Natur als ein System gedacht wird, das von sich aus die Kraft besitzt, Störungen zu überwinden und ins Gleichgewicht zurückzukehren. Carl nennt das Lebensordnung. Dieses Thema – verbunden mit den Leitbegriffen Natur/Glückseligkeit – bestimmte nicht nur die Ausrichtung auf die Medizin, sondern auch der Dichtung der Frühaufklärung (vgl. Mauser 1988, 94).
3.2 Die Stärke der Seele
Wenn man sich vorstellt, der Körper hätte eine Seele und ist dazu noch durchsichtig, wo würde sich dann die Seele befinden?
Die Diätetiker der Aufklärung formulierten die Seele als geistige Seite der Existenz, die sich nicht anders als Licht vorstellen lässt. Die Lichtintensität ist dort besonders groß, wo das Vorstellungsvermögen seinen Ort hat. Am stärksten geschieht das im Gehirn. Hier laufen aber nicht logische Operationen ab, sondern an diesem schärfsten Punkt seelischer Intensität kann man sich „einen Hauffen künstliche(r) Gemählde“ vorstellen, die aber nicht beständig bleiben, sondern immer durch andere abgewechselt werden. Die Kraft der Seele äußert sich z. B. im Säftefluss oder in den Zuckungen der Fasern, sprich in allen Bewegungen des Körpers. Leben heißt, von der Stärke der Seele durchströmt zu werden. Der Tod bedeutet, dass die Kraft der Seele infolge von Spannungsverlust erlahmt (vgl. Mauser 1988, 96).
Wieder einmal zeigt sich, dass das große Thema des 18. Jahrhunderts die Seele war. Um sie zu verstehen und mit ihr umzugehen, wurden viele Anstrengungen unternommen. Nicht nur, dass die „Seele in den Körper“ wirkt, sie bestimmt auch alle Körpervorgänge wie Gesundheit und Krankheit, Leben oder Tod. Der Seele können viele Fertigkeiten zugeschrieben werden. Vornehmlich erschien sie unter dem Aspekt der Stärke. Dafür werden Begriffe wie ‚Willen’ oder ‚Willenskraft’ verwendet. Dabei spielte die christliche Grundlehre vom freien Willen des Menschen eine Rolle. Menschen und Tiere verfügen durch ihre Seele über eine Kraft, die Materie bewegen kann (vgl. Mauser 1988, 97).
Wie wirkt nun die Seele auf den Körper ein? Und welche Bedeutung, welches Gewicht hat die Erfahrung dabei? Diese Fragen beschäftigten die Gelehrten des 18. Jahrhunderts, einer davon war Johann Andreas Roeper aus Halberstadt, der sich mit der Würckung der Seele In den Menschlichen Cörper [19] beschäftigt. Roeper ist ebenfalls Stahlianer. Nachdem er über das mechanistisch-dualistische Modell ausführlich referiert hatte, faßt er zusammen:
„Man mag sich drehen und wenden wie man will, so kan man das Vermögen und die Krafft der Seele in den Cörper nicht ausschliessen, oder man negiret, was man ein andermahl zugegeben; giebt man feywillige Bewegungen zu, so kan man damit nicht angestochen kommen, die Seele wisse nichts de excitatione vel directione motuum, sie könne darin nichts verändern, geschwinder oder langsamer machen, der Leib sey eine machina hydraulica, in welcher fluida solida und solida fluida actione reciproca bewegten, wie eine Mühle, eine Uhr, ein Bratenwender etc. welches leichter und geschwinder gesaget, als zu erweisen stehet.“[20]
Was Roeper zurückweist, ist die Influx-Theorie, die davon ausgeht, dass Leib und Seele durch einen „natürlichen Einfluss eines Dinges in das andere“ aufeinander wirkten. Dies erfolgt über die Nervenbahnen und die „darinnen befindliche flüßige Materie“[21]. „Das Commerzium zwischen Seel und Leib“ ist für Roeper eine gegebene Tatsache: „... leidet der eine Theil, so leidet der andere auch“. Und da die Seele „eine Freyheit“ hat, „ihre Kräfte zu gebrauchen, und den Leib an vielen Gliedern willkürlich zu bewegen“, lassen sich daraus Heilmethoden ableiten: „Therapia imaginaria ist nicht zu leugnen“. Für das Literaturverständnis des 18. Jahrhunderts ist nicht wichtig, ob der mechanistische Ansatz mit seiner logischen Beweisführung oder der organismische Ansatz, der auf Beobachtung und Erfahrung basiert, durch bessere Gründe und geschärfte Argumentationen gestützt wird, sondern „daß sich das Interesse von einer schulphilosophisch-konzeptuellen zu einer lebenspraktisch-diätetischen Orientierung verlagerte“ (Mauser 1988, 98).
Die Charakteristik über die Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert mit neuen Erkenntnissen wurde dadurch bestimmt, dass neue Antworten und Theorien Zustimmung fanden und durch ältere ersetzt wurden. Das dualistische Erklärungsmodell der Schulphilosophie wurde zwar nicht widerlegt, es verlor jedoch bei der Auseinandersetzung an Interesse. Dies hatte nicht nur Folgen für die Auffassungen auf dem Gebiet der Literatur und Kunst, auch die Definition des Begriffes ‚Moral’ musste neu gewichtet werden, da die Stärke der Seele einen wichtigen Platz in der Lebensorientierung einnahm. Dies bedeutete nicht, dass die Moral an Verbindlichkeit verlor, sondern etwa in dem Sinne, dass sie in ein Feld veränderter anthropologischer Orientierungen tritt (vgl. Mauser 1988, 98f.).
4 „Von den Leidenschaften“ – Johann Friedrich Zückert
Eine der aufschlussreichsten Schriften im Zusammenhang mit Diätetik und Literatur ist das Werk von Johann Friedrich Zückert Von den Leidenschaften [22]. Er setzt sich das Ziel, „diätetische Anweisungen“ zu geben. Er will „beyde Theile (Körper und Seele), welche das Wesen des Menschen ausmachen“ ständig im Auge behalten und er trennt die „moralischen und medicinischen Betrachtungen“ nicht voneinander. Dieses Werk war weit verbreitet. Zückert bezieht die Körperveränderungen im Sinne direkter Verursachung auf den Seelenzustand, auf den jeweiligen Status der Leidenschaften. Das bedeutet, die Leidenschaft – die grundlegenden Seelenformen von Vergnügen oder Missvergnügen – verändert den Körper, woraus sich Rückwirkungen auf die Seele ergeben können. Diese reichen erheblich weiter als die Vernunft. Sie sind notwendig und „gehören mit zu den Kräften, die unsere zusammengesetzte Natur hat, und uns berechtigen, unsere Begierden und Fähigkeiten zu brauchen, damit wir durch unser Zuthun unsere Vollkommenheiten, und mit denselben unsere Glückseeligkeit täglich vermehren können.“ (Mauser 1988, 100).
Zückert nennt es das Seele-Körper-Modell, das im lebenspraktischen Schrifttum meist von ärztlicher Provenienz, aber auch in den Moralischen Wochenzeitschriften konsequent vertreten wird und das in der inneren Begründung des bürgerlichen Kulturbetriebs der Zeit wiederkehrt. Musik, Literatur, Gartenkunst und Geselligkeit werden nicht nur als Bildungsgüter mit hohem Sozialprestige und als wichtige gemeinschaftsfördernde Faktoren gesehen, sondern vor allem auch in Hinblick auf ihre diätetischen Möglichkeiten, in denen sich Vorstellungen von Gesundheit, Wohlergehen und Moral verbinden (vgl. Mauser 1988, 101).
Zückert führt über die Sinnlichkeit folgendes aus:
“Aber das sinnliche Vergnügen, die sinnliche Wolllust, würket hier auf Erden mit mächtiger Gewalt auf uns. Sie ist die allgemeinste, die herrschendeste Leidenschaft unter den Menschen. Sie hat für die ganze Welt einerlei Reizungen. Der Reiche verschwendet ganze Tage in dem Schooße der Wollust. Der Weise ist viel zu schwach, die angenehmen Vorstellungen, die sie macht, ganz zu unterdrücken. Selbst in den Hütten der Armen wohnet sie in ihrer unschuldvollen und einfältigsten Gestalt. Der Held, vor dessen Namen der Feind schon zittert, nimmt von seiner Geliebten Gesetze an. Der Hochmüthige nähert sich den Schönen mit Demuth. ... wird bey dem Anblik eines Schönen Frauenzimmers wie aus einem Schlummer erwecket; ... Der Ernsthafteste, der sonst gegen alles reizende kalt und unempfindlich ist, schämet sich nicht, bey einem Glase Wein den Liebesgott zu besingen. So mächtig ist die Gewalt der Wollust. Sie macht den Held, den Hochmüthigen, den Gelehrten, den Mürrischen, zu einem nüzlichen Mitbürger, zum muntern Gesellschafter, zu einem umgänglichen und gefälligen Menschen.“ (Mauser 1988, 102)
Des Weiteren geht er auf die Legitimation der körperlichen Lust ein. Er stellt fest, dass die „Liebe zum Geschlechte nachdrüklichere Würkungen auf unsern Körper“ ausübe, denn sie sei „unserer Gesundheit sehr ersprießlich, wenn sie den Zwek der fleischen Lust erreichen kann“ (vgl. Mauser 1988, 103).
Der Widerspruch zwischen einer naturwissenschaftlich-medizinisch begründeten Leidenschaft und der durch die Moral verordneten Enthaltung wird sehr deutlich. Er empfiehlt:
„Die Vernunft muß entweder dafür sorgen, daß diese Sehnsucht nie überhand nehme, oder wenn sie einmal da ist, so muß man sie schlechterdings zu befriedigen suchen, wenn es ohne Verlezung höherer Pflichten geschehen kann“ (Mauser 1988, 103).
Zückert gibt keine näheren Erläuterungen darüber, wie dies geschehen kann. Er wolle auch die Autorität eines Zimmermanns nicht in Frage stellen. Er will nur feststellen, „daß der Arzt von der Liebe unter allen Leidenschaften am meisten zu hoffen hat, wenn sie befriedigt wird, und am meisten zu fürchten, wenn sie den geringsten Widerspruch leidet“ (vgl. Mauser 1988, 103).
5 Einbildungskraft und Gesundheit – Therapia imaginaria
Abgekoppelt von dualistischen Konzeptionen entwickelten im 18. Jahrhundert Medizin, Diätetik und Dichtung sowie auch die Moralischen Wochenschriften eine Vielfalt neuer Ideen. Die Einbildungskraft[23] erfüllte dabei eine besondere Funktion: sie galt als Fähigkeit, sich Gegenstände vorzustellen, die nicht gegenwärtig sind. Dies war im 17. Jahrhundert noch nicht verbreitet und die Skeptiker Wolff und Gottsched sahen in ihr keineswegs freie schöpferische Phantasie, sondern nur das Vermögen, sich an frühere Wahrnehmungen und Erfahrungen zu erinnern, wenn bestimmte Eindrücke oder Empfindungen der Gegenwart den Prozess des Erinnerns auslösen. Die beiden Schweizer Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger befreiten „die Einbildungskraft aus dem Bann der Schulphilosophie.“ Sie stützten sich auf Vorbilder wie Addison, Locke, Du Bos. Während die Schulphilosophie am Wahrheitskriterium der Dichtung festhielt, orientierte sich die allgemeine Diskussion immer stärker an der Frage der Wirksamkeit:
„Mit der Anerkennung des Neuen als poetologischer Kategorie war der Vorrang der Affekte, der Seele, des Willens verbunden, veränderte sich die Bedeutung des Metaphorischen, versprach Imaginiertes ganz neue Perspektiven zu eröffnen.“ (Mauser 1988, 105f.)
Bodmer unternahm mit seiner Schrift Von dem Einfluß und dem Gebrauche der Einbildungskraft (1727) einen entscheidenen Schritt in die zukunftsträchtige Richtung in Deutschland. Er ging davon aus, dass „die Sinnen ... unsere ersten Lehr-Meister“ seien. Über die „Instrumente der Sinnen“ habe Gott
„die Seele mit einer besonderen Krafft begabet/ daß sie die Begrieffe und die Empfindungen/ so sie einmal von den Sinnen empfangen hat/ auch in her Abwesenheit und entferntesten Abgelegenheit der Gegenständen nach eigenem Belieben wieder annehmen/ hervor holen und aufwecken kann: Diese Krafft der Seelen heissen wir die Einbildungs-Kraft.“ (Mauser 1988, 107)
Breitinger entwarf dann in seiner Schrift Von den Gleichnissen (1740) Ideen zu einer Logik der Phantasie. Beides, Verstand und Einbildungskraft haben Ordnung nötig. „Dazu dienten in besonderer Weise die Gleichnisse, mit deren Hilfe der Dichter den Gedanken in sein volles Licht zu setzen vermag“ (Mauser 1988, 107).
Roepers Therapia imaginaria geht davon aus, dass ein gegebener Zustand von Körper und Seele bestimmte Einbildungen hervorbringt und dass Werke der Einbildungskraft, nämlich Kunst und Literatur, zur Gesundung des Menschen beitragen können. Zückert dagegen unterscheidet nicht zwischen den diätetischen Wirkungen, die ein sinnliches Vergnügen wie Gartenlust, Musik, Wein oder der Anblick eines schönen Frauenzimmers auslösen, und den Wirkungen eingebildeter sinnlicher Vergnügen wie Kunst- und Literaturgegenstände. (vgl. Mauser 1988, 108). Es kommt ihm darauf an, „dass der Mensch reichlich genießt“, und zwar:
„die Tonkunst, die Kirchenmusik, das Singen, vortrefliche Schildereyen und Gemählde, die Sammlung und Betrachtung der Naturalien, mechanische Arbeiten, wohlausgearbeitete Schauspiele, das Lesen eines Dichters, die sinnreichen Scherze, der Umgang mit tugendhaften Freunden und Freundinnen.“ (Mauser 1988, 109).
Zur Unterstützung seiner Theorie von den Wirkungen der Einbildungskraft entwirft er eine zweite, veränderte Theorie. Hier unterscheidet er zwischen moralischen und physischen Temperamenten. Den moralischen (oder auch seelischen) Temperamenten gibt er eine neue Bezeichnung. Er spricht „von einem lustigen, traurigen, verständigen und sinnlichen Temperament“. Nun genüge es nicht, im Falle einer Krankheit den Zustand des Körpers ändern zu wollen und nur das physische Temperament zu betrachten. Man muss beim moralischen Temperament ansetzen, dass heißt die „in der Seele festsitzende Idee“ ausrotten. Zum Beispiel könnte die Nahrung der Melancholie vertrieben werden durch eine Reise oder bei lustiger Gesellschaft geschehen, oder aber auch durch Poesie (vgl. Mauser 1988, 109).
6 Anakreons Mut oder die Kunst, stets fröhlich zu sein
Die Fröhlichkeit ist ein Seelenzustand, dem man große Wirkung auf den Körper und auf die gesamten Lebensvorgänge zuspricht. Gemeint ist ein Zustand der Heiterkeit. Im 18. Jahrhundert ersetzte man es auch durch Begriffe wie Vergnügen oder Freude. Schon damals sind sie Ausdruck von Glückseligkeit. Uz schrieb: „Denn Vergnügen ist das Wesen der Glückseligkeit, die entstehet, wenn wir alle unsere natürliche Begierden mit Vergnügen erfüllet sehen“. Für ihn steht fest, dass das „Vergnügen ein Zweck der Natur sey“ und „daß Vergnügen nicht anders als Tugend und Weisheit zur Absicht der Natur gehörten“ (Mauser 1988, 110).
Die deutsche Rokokodichtung ist der Versuch, unter vielfältigen diätetischen Anstrengungen der Zeit sinnliches Vergnügen nicht nur zu fordern und theoretisch zu begründen, sondern in poetischen Inszenierungen auch vorzustellen. „Am Übergang vom allegorischen zum symbolischen Denken, von Begriffen zu Sinnbildern gab es ein weit verbreitetes Bedürfnis, sich neuer Verhaltensmuster zu vergewissern. Dies geschah auch durch Gestalten, deren Lebensgebärden solche Verhaltensmuster beispielhaft vergegenwärtigten: Sokrates, Prometheus, Demokrit. So auch: Anakreon“ (Mauser 1988, 111).
„Alle Figuren sind mehr als historisch-mythologische Referenzfiguren, sie beglaubigen jeweils eine neue Lebensart, indem sie sie verkörpern. Der Anakreon der 40er Jahre ist ein anderer als der früherer Zeiten, denn er ist der Fröhliche seiner Zeit. Noch im 17. Jahrhundert war Fröhlichkeit Signatur und Leitbegriff einer (protestantischen) Glaubenskraft. Sie vermochte der Sünde, den Gebrechen und dem Tod in dieser Welt widerstehen. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wird Fröhlichkeit zum Zeichen für das Vermögen des Menschen, dem betrüglichen Reichtum, der Heuchlerzunft, der Splitterrichterei, der Sklaverei zu trotzen. In dem Wort erkennen sich alle, die von dem Bedürfnis beseelt sind, Staat und Gesellschaft an eine humanere Praxis heranzuführen (Mauser 1988, 111).
Die Moralische Wochenschrift „Der Gesellige“ (1748-1750) bringt dies im 64. Stück zum Ausdruck: Hier wird eine Lanze für jemanden gebrochen, der Wein, Weib und Gesang verherrlicht und zugleich tugendhaft und nüchtern ist: der anakreontische Dichter. Die Wochenzeitschrift wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der fröhliche Mensch zugleich der geselligste und der dienstfertigste sei. Fröhlichkeit, Glückseligkeit und Vollkommenheit bedingen einander. Das Denken des Fröhlichen geht besser vonstatten. Die Fröhlichkeit belebt die ganze Seele und auch die Gesundheit hängt davon ab. Sie ist die beste Arznei für Krankheiten, wo Ärzte oft nicht heilen können. Anakreon ist die Leitfigur dieser Lebensart (Mauser 1988, 111f.).
Die Dichtung des Rokoko ist ein Werk der Einbildungskraft, sie bildet nicht ab, sondern erfindet, setzt in Szene oder arrangiert. Thematik, Metaphorik und Rhythmus stellen seelische Wirklichkeit her, die heilkräftig und gemeinschaftsfördernd ist. Sie soll imstande sein, eine innere Übereinstimmung zwischen den Menschen herzustellen, die Staat und Gesellschaft nicht zu verwirklichen wissen. 1741 schrieb Gleim an Uz: „Das Landleben hat viel annehmliches, aber es fehlt ihm das Lebhafte, welches aus dem Umgange, und von den Sitten mehrerer Bürger entsteht, die mit uns einerley Neigungen haben“. Diese Aussage zeigt, worauf des der jungen Generation ankommt, nämlich auf die Lebhaftigkeit der Empfindungen und auf den Umgang mit Mitbürgern, die Gleichgesinnte suchen und nicht die Einsamkeit. Sie wollen das Gemeinschaftserleben, dessen Lauterkeit und Lebhaftigkeit dazu angetan sein soll, die öffentlichen Verhältnisse einschließlich der Politik zu humanisieren. Das Wort Geselligkeit erhält in Deutschland einen bislang unbekannten Klang. „Was die Poesie des Rokoko vergegenwärtigt, ist ein gesellschaftlich-politisches Modell empathischen Miteinanders“ (Mauser 1988, 113).
Mit der Veröffentlichung der Oden an die Freude wird gezeigt, dass die Fröhlichkeit der politisch-gesellschaftlichen und der wirtschaftlichen Realität eine Kraft entgegenstellt, die sich durch Stärke der Seele legitimiert. Die Dichtung setzt sich ab von Macht, Reichtum, Falschheit, Heuchelei und staatliche Enge. Fröhlichkeit ist demgegenüber ein Zustand innerer Unabhängigkeit von allen äußeren Nöten, Beschränkungen und Verkürzungen. Dies wird durch die Leichtigkeit und Lockerheit der Verse sichtbar. Die Liebe ist „der Lebensbereich, in dem man dieses Gefühl inneren Gelöstseins von Materie, Interessen und falschem Glück am deutlichsten und zugleich am überzeugendsten erleben kann. [...]
7 Schlussbetrachtungen
Mausers Ansatz ist verständlich und nachvollziehbar. Der Gesundheitsaspekt bildet die Grundlage dafür, dass sich der Mensch wohlfühlt. Körper und Seele lassen sich dabei nicht trennen. Sich auf die lebendig-sinnliche Seite einzulassen, bedeutet, in der Phantasie Sinnlichkeit zuzulassen. Dann wird die Gesundheit gefördert. Freude, Fröhlichkeit und Lust tragen dazu bei.
Durch die Rokokodichtung des 18. Jahrhunderts werden die Menschen zur Glückseligkeit im Diesseits. In medizinisch-diätetischen Schriften wurde nachgewiesen, dass die Forderung nach sinnlichen Vergnügen wie Wein, Weib und Gesang berechtigt sind. Denn nur so entsteht eine Harmonie des menschlichen Lebens zwischen Alltag, Arbeit und Freizeit. Poetischen Inszenierungen stellen seelische Wirklichkeit her, die heilkräftig und gemeinschaftsfördernd sind. Sie sollen eine innere Übereinstimmung zwischen den Menschen bringen. Der jungen Generation kommt es auf die Lebhaftigkeit der Empfindungen und auf den Umgang mit Mitbürgern an.
Mauser (1988, 114) fasst es zusammen: „Das, worauf es der Rokokopoesie ankommt, [...] ist die Vermittlung eines Liebes- und Glücksgefühls, das auf ein persönlich-individuelles Bedürfnis antwortet und zugleich dem Prinzip der Natur entspricht.“
Literatur
Bergdolt, Klaus: Leib und Seele: eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens. München 1999
Breitinger, Johann Jacob: Von den Gleichnissen. 1740
Bodmer, Johann Jacob: Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft. Frankfurt und Leipzig 1727
Carl, Johann Samuel: Medicina Aulica. In einigen nötigen täglich vorkommenden Betrachtungen, Vorstellungen und Anschlägen betreffend die Gesundheit-Sorge. 1740
Carl, Johann Samuel: Armenapotheke nach allen Grundtheilen und Sätzen der Medicin kürzlich eingerichtet zum Unterricht und Dienst sowol der Kranken, Armen als auch derer die sie versorgen. Frankfurt/M. 1789
Dictionnaire portatif de Santé. Paris 1771
Egger, Irmtraud.: Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen. München 2001
Glauer, Reiner: Gesundheitserziehung durch Ärzte als naturrechtlich begründetes Programm aufgeklärter Medizin im 18. Jahrhundert. Hannover 1976
Harvey, William: Die Bewegung des Herzens und des Blutes 1628. Übersetzt und erläutert von R. Ritter von Töply. Leipzig 1910
Hoffmann, Friedrich: Gründliche Anweisung, wie ein Mensch vor dem frühzeitigen Tod und allerhand Arten Kranckheiten durch ordentliche Lebensart sich verwahren könne. In: Glauer, R.: Gesundheitserziehung durch Ärzte als naturrechtlich begründetes Programm aufgeklärter Medizin im 18. Jahrhundert. Hannover 1976, S. 17
Hufeland, Christoph Wilhelm: Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Mit einem Brief Immanuel Kants an den Autor (=Insel-Taschenbuch 770). Frankfurt/M. 1984
Hufert, John: Bewegungsdiätetik: ein Paradigma auf der Grundlage von Krüger, Feuchtersleben und Zdarsky. Ahrensburg 1987
Mauser, Wolfram: Anakreon als Therapie? Zur medizinisch-diätetischen Begründung der Rokokodichtung. In: Lessing Yearbook XX. 1988, S. 87-120
Roeper, Johann Andreas: Die Würckung der Seele In den Menschlichen Cörper. Nach Anleitung der Geschichte eines Nacht-Wanderers. Aus vernünftigen Gründen erläutert. Halberstadt 1748
Uz, Johann Peter: Sämtliche Poetische Werke. Hg. von August Sauer, Stuttgart 1890, S. 21
von Feuchtersleben, Ernst: Diätetik der Seele, Wien 1838
Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen. Halle und Frankfurt/M. 1752
Zückert, Johann Friedrich: Von den Leidenschaften. 1768, S. 28
[...]
[1] Wolfram Mauser. In: Lessing Yearbook XX. 1988, S. 87-120
[2] Erste Strophe eines Gedichts von Johann Peter Uz, 1749 in der Sammlung Lyrische Gedichte erschienen; aus Johann Peter Uz: Sämtliche Poetische Werke. Hg. von August Sauer. Stuttgart 1890, S. 21
[3] Der diätetische Aspekt der Rokokodichtung wurde in der bisherigen Forschung nicht berücksichtigt. In: Mauser 1988, S. 116 [Anm. 2]
[4] Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803), Dichter, studierte zwischen 1738 und 1741 Jura und Philosophie in Halle/Saale. Dort gründete er u. a. mit Johann Peter Uz und Johann Nikolaus Götz den Halleschen Freundeskreis, der sich unter französischem Einfluss der sinnlich-lebensfrohen Anakreontik verschrieb. Er selbst avancierte mit seinem dreiteiligen Versuch in scherzhaften Liedern (1744-1758), einem Preisgesang auf Wein und Liebe, zu ihrem bedeutendsten Vertreter. 1730 erschien Johann Christoph Gottscheds (1700-1766) Versuch einer kritischen Dichtkunst, in dem es ihm als Erstem gelang, ein in sich stimmiges „poetologisches Regelsystem“ der deutschen Literatur zu entwerfen. Ziel war die Reformierung des deutschen Dramas im Sinn des französischen Klassizismus.
[5] Ein Vertreter war William Harvey (1578-1657), englischer Arzt, der 1628 den Blutkreislauf und die Funktion des Herzens als dessen Antriebspumpe erkannte. Mit seiner Entdeckung widerlegte er die Theorien von Galen und legte den Grundbaustein der modernen Physiologie.
[6] Friedrich Hoffmann (1660-1742), Arzt. Er empfahl bei Schwächezuständen die noch heute verwendeten „Hoffmannstropfen“. In: Bergdolt 1999, S. 252
[7] Friedrich Hoffmann: Gründliche Anweisung, wie ein Mensch vor dem frühzeitigen Tod und allerhand Arten Kranckheiten durch ordentliche Lebensart sich verwahren könne. In: Bergdolt 1999, S. 253
[8] Christian Wolff (1679-1754), deutscher Philosoph und Mathematiker. Seine rationalistischen Lehren brachten ihn in Konflikt mit pietistischen Theologen. 1721 hielt er eine Vorlesung, in der er einige moralische Axiome des Konfuzius als Beweis dafür anführte, dass die menschliche Vernunft moralische Wahrheiten kraft eigener Anstrengung erkennen könne. 1723 wurde er aufgrund des Vorwurfs des Atheismus seines Amtes und aus Preußen ausgewiesen. Durch ihn bildete sich eine philosophische deutsche Fachsprache heraus und er prägte das System eines umfassenden Rationalismus.
[9] Georg Ernst Stahl (1659-1734), Arzt.
[10] Animismus [lat.]: Lehre von der Beseeltheit aller Dinge; nach der Animismus-Theorie werden der gesamte mechanische Apparat des Leibes, aber auch der Intellekt durch die Seele gesteuert. Krankheiten entstehen durch Zersetzungs- und Fäulnisprozesse, sobald die Kontrollfunktion der Anima (vis medicatrix naturae) nachlässt. In: Bergdolt 1999, 255.
[11] Der Angelpunkt von Stahls Lehre und die Grundlage seiner veränderten Vorstellung von Krankheit – und damit auch von Gesundheit – ist die von ihm entwickelte Theorie vom motus tonicus vitalis (1685). Sie erschien in Latein und in deutscher Übersetzung im Anhang zu seiner Ausführlichen Abhandlung von den Zufällen und Kranckheiten Des Frauenzimmers. Leipzig 1724. In: Mauser 1988, S. 117 [Anm. 9]
[12] Stahls Ruhm begründete das umfassende Werk Theoria medica vera (1708). Seine zahlreichen wissenschaftlichen Schriften, das Echo, das seine Lehre in Halle fand, und nicht zuletzt seine Heilerfolge waren die Gründe dafür, dass er 1716 zum Leibarzt Friedrich Wilhelms I. von Preußen berufen wurde. Die Reformen des preußischen Gesundheitswesens sind weitestgehend sein Verdienst. In: Mauser 1988, S. 91
[13] Dictionnaire portatif de Santé. Paris 1771
[14] Ebd.
[15] Moralische Wochenschriften, in England entstandener und rasch in ganz Europa verbreiteter wichtigster periodischer Publikationstypus der Aufklärung, der deren Ideen mit dem Ziel der Belehrung und vor allem der sittlich-moralischen Erziehung des Bürgertums zu verbreiten suchte. In Deutschland sind für das 18. Jahrhundert über 500 Titel Moralischer Wochenschriften nachweisbar: Trotz ihrer Beliebtheit waren sie meist kurzlebig, die Erscheinungsdauer betrug durchschnittlich zwei Jahre. Die Moralischen Wochenschriften waren ein entscheidendes Forum für die Entwicklung des bürgerlichen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert.
[16] Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836): Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Er postulierte als Grundursache allen Lebens eine Lebenskraft. Er fühlt sich als Aufklärer und verurteilt „mittelalterliche“ Techniken der Gesundheitssuche wie „Behexung, Sympathie der Körper, Stein der Weisen, geheime Kräfte“ etc. In: Bergdolt 1999, 277
[17] Johann Samuel Carl: Armenapotheke nach allen Grundtheilen und Sätzen der Medicin kürzlich eingerichtet zum Unterricht und Dienst sowol der Kranken, Armen als auch derer die sie versorgen. Frankfurt/M. 1789
[18] Johann Samuel Carl: Medicina Aulica. In einigen nötigen täglich vorkommenden Betrachtungen, Vorstellungen und Anschlägen betreffend die Gesundheit-Sorge. 1740
[19] Johann Andreas Roeper: Die Würckung der Seele In den Menschlichen Cörper. Nach Anleitung der Geschichte eines Nacht-Wanderers. Aus vernünftigen Gründen erläutert. Halberstadt 1748
[20] Ebd.
[21] Dieses Verstehensmodell, das auch Christian Wolff vertrat, folgt einer strengen dualistisch-materialisti-schen Konzeption. Am bekanntesten ist Wolfs Beschreibung dieses Modells in Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (1752). Das Stahlsche Modell geht demgegenüber vom Prinzip des Synergetischen aus, d. h. von der ‚Erfahrungstatsache’, dass in der Bewegung, in der allein sich Leben denken lässt, Körper und Seele gemeinsam wirken. In: Mauser 1988, S. 97 [Anm. 19]
[22] Johann Friedrich Zückerts Traktat Von den Leidenschaften (1768) blieb in der germanistischen Forschung weitgehend unbeachtet. Man findet Ausführungen zu den Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele. Die Formulierung ‚Nahrung der Seele’ findet sich auf Seite 28. In: Mauser 1988, S. 119 [Anm. 23]
[23] Zur Einbildungskraft neben den Lexika (Ritter, Grimm, Zedler usw.) vor allem Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. 1750-1945. 2 Bde. Darmstadt 1985. In: Mauser 1988, S. 119 [Anm. 28]
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- Kristin Retzlaff (Autor), 2004, Anakreontik als Therapeutikum, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108961
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