A) Alfred Wolfensteins Gedicht „Krankes Wohnen“, erschienen im Jahr 1913, beschäftigt sich mit den auftretenden Problemen der zeitlich bedingten Veränderungen des menschlichen Lebensraumes zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie so oft ist die Rede von Verstädterung und Industrialisierung[1], zwei Begriffe die kurz gesagt den Verlust an Freiheit und Natur beschreiben und von nun an den Lebensraum der Menschen darstellen.
B) I. 1. Zu Beginn der ersten Strophe durchstreift das lyrische Ich eine Straße, die als „trüber Tunnel“ (V.1) bezeichnet wird. Vorbei an „bleichen Fenstern“ (V.2) wird der Himmel wahrgenommen, der sich in Fensterscheiben spiegelt und ihm „ein schiefes Lachen“ (V.4) zuwirft. Schon zu Beginn wird hier durch die Verwendung von bildlich darstellenden Adjektiven die Stimmung des städtischen Lebens hervorgerufen. Ein „trüber Tunnel der Straße“ (V.1) verweist auf die Straßen zwischen Häusern und stellt gleichzeitig die verschmutzte Luft dar. Dieser Vorstellung folgt auch das Bild der „bleichen Fenster“ (V.2) welches ebenso den Anschein erweckt, die Fenster könnten durch verschmutzte Luft und Abgase angehaucht sowie verdreckt sein und somit einen bleichen Eindruck erwecken. Eine Verstärkung dieses Eindrucks wird durch die Verwendung von Alliterationen und Inversionen erlangt, welche Assoziationen der bildlichen Adjektive mit den Substantiven herstellen. Die Wirkung des „trüben Tunnels“ (V.1) wird dadurch beispielsweise verstärkt. Des Weiteren spaltet Wolfenstein durch die Personifikation des Himmels die Szenerie in drei Teile, die Straße, die Fenster und den Himmel. Der Himmel wirft „ein schiefes Lachen“ in die Fensterscheiben, was wiederum eine Art Schadensfreude erzeugt und die Person des Himmels nun über den Menschen stellt. Während das lyrische Ich in den Straßen festsitzt, ist der Himmel frei.
B) I. 2 In der zweiten Strophe wird nun die Art und Weise beschrieben, wie sich das lyrische Ich durch die Straßen bewegt, wie es „in Unruh und Hass“ (V.6) auf die Straße tritt und wie ihm die „niedre Luft von Stadtgerüchen durchraucht“ (V.7) auf die Stirn speit. Der Eindruck der dunstigen, schmutzigen Stadt wird auch in dieser Strophe beibehalten. Die personifizierte Straße wird „in Unruh und Hass gebraucht“ (V.6), sie liegt „hündisch“ (V.5) und somit unter den Füßen der Menschen. Diese beiden Ausdrücke lassen den Schluss ziehen, dass die Straße ein Ort der Eile und der schlechten Erfahrungen ist. Die Menschen trampeln auf ihr zu ihrer täglichen Arbeit, sie lassen an der Straße ihren Stress und ihren Hass aus, den sie über den ganzen Tag angesammelt haben. Ebenso wird die Luft nun personifiziert und auch sie ist Opfer der Verschmutzung der Industrie- und Arbeitswelt des Menschen. Wie die Verse „Niedre Luft von Stadtgerüchen durchraucht Speit auf meine Stirn“ (V.7f)zeigen, ist die Luft von Abgasen verschmutzt und deren Russpartikel setzen sich nun auf der Stirn ab. Die Metapher des „pfeifenden Rachens“ (V.8) könnte somit auf die Schornsteine der Fabriken bezogen sein, die mit leicht pfeifenden Tönen ihre verdreckten Abgase in die Luft blasen. Andererseits könnten damit auch andere Menschen in Verbindung gebracht werden, Individuen, welche aufgrund der schlechten Luft schwer atmen und somit ein pfeifendes Geräusch erzeugen. Wie in Strophe 1 werden auch hier wiederum Assoziationen durch Inversionen und Alliterationen hervorgerufen, welche sich verstärkend auf die Darstellung der bildlichen Handlung, der schmutzigen Stadt, auswirken.
B) I. 3 Sofort zu Beginn der dritten Strophe ist nun der Spaziergang durch die Straßen beendet. Die Straße endet „gähnend“ (V.9), womit wohl auf den monotonen, langweiligen und endlos wirkenden Bau einer Stadt hingewiesen wird. Die „zuckenden Lippen atmen ins freie hinaus“ (V.10). Das lyrische Ich ist an dem Rand der Stadt angelangt und atmet nun frische Luft. Die „zuckenden Lippen“ (V.10) können als Zeichen der Rührung zu verstehen sein, welche der Anblick der Natur dem Menschen bietet. In der Ferne „umfängt“ (V.12) die „goldene Hoheit“ (V.12), die Sonne, das Grüne. Hiermit wird auf den Anblick am Horizont hingewiesen, welchen sich die Sonne mit dem Grün der Wiesen und Wälder teilt. Der Autor zeigt dabei wohl die mächtigen Emotionen, welche der Anblick der Natur in das menschliche Antlitz zaubert. Der hier verbreitete Optimismus wird in den folgenden und letzten beiden Versen wieder in sein Gegenteil verkehrt. Der Mensch wendet sich, er wendet sich wieder ab von der Natur, „dumpf gedrängt“ (V.13). Der letzte Vers des Gedichts zeigt die Realität, aus der kein wirkliches Entkommen möglich ist. „In der Gewalt der Häuser bin ich zu Haus“. Dem Menschen wird nun klar, dass er abhängig ist, von der Stadt, von Industrie und Arbeit. Ihm wird bewusst, dass er dem Einfluss der Wirtschaft, dem täglichen Kampf um das Überleben, nicht entrinnen kann. Er muss in der Stadt leben und die Natur zum Wohle des Geldes und seines Wohlstandes aufgeben. In dieser letzten Strophe übernehmen nun eine Reihe von Metaphern, wie „zuckende Lippen“ (V.10) sowie „goldene Hoheit“ (V.12), die Aufgabe die Situation bildlich und lebendig darzustellen, was ebenfalls die obige Interpretation unterstreicht und die Gewalt der Natur wiederspiegelt. In Zusammenhang mit der Abhängigkeit der Menschen von der Stadt ist vor allem die Alliteration im letzten Vers zu nennen, welche somit die Gewalt der Häuser mit der Heimat, dem „zu Haus“, verbindet.
B) II. 1. Das Gedicht ist in drei Strophen unterteilt, von denen die ersten beiden Strophen je vier Verse und außerdem eine identische Versgestalt besitzen. Diese identische Anordnung und Form der beiden ersten Strophen spielt ebenso auf den Inhalt an und stellt somit die Monotonie der Straße dar, welche sich auch nach mehreren Schritten nicht ändert und bis an den Rand der Stadt anhält. Hier setzt nun auch zum ersten Mal eine Veränderung in der Versgestalt ein. Schon der erste Vers der letzten Strophe unterscheidet sich formal von allen anderen und auch die Verse 11 und 12 zeigen eindeutig die Veränderung des Umfelds, von Stadt zu Natur, im Gedicht auf. Das hier formal dargestellte Ausbrechen aus dem Trott der täglichen städtischen Monotonie wird aber im letzten Vers sofort wieder in sein Gegenteil verkehrt, als sich das lyrische Ich wieder der Stadt zuwendet.
B) II. 2. Allgemein verwendet der Autor in diesem Gedicht kein bestimmtes Metrum sondern beschränkt sich nur auf eine Art Sprechrhythmus, welchen aber wohl jeder Leser für sich selbst verschieden wählt. Durch den Verzicht auf ein Metrum konzentriert sich die Verbindung von strophenübergreifenden Assoziationen ganz auf das umschließende Reimschema, welches in jeder Strophe vorhanden ist und die Situation in der Stadt weiter schildert und genauer beschreibt. So wird beispielsweise die Monotonie durch den Verbund der Wörter „vorbei“ (V.2) und „Einerlei“ (V.3) hervorgehoben. Das Bild der schmutzigen Stadt wird aufgrund des Reimes auch in der zweiten Strophe mit „gebraucht“ (V.6) und „durchraucht“ (V.7) verstärkt. In der letzten Strophe verstärkt das Reimschema die menschenfeindlichen Attribute der Stadt, indem es „hinaus“ (V.10) mit „Haus“ (V.14) verbindet.
B) III. Aufgrund zahlreicher epochentypischer Merkmale lässt sich dieses Gedicht eindeutig in die Epoche des Expressionismus[2] einordnen, welche man, in Übereinstimmung mit der Veröffentlichung des vorliegenden Gedichts, auf den Zeitraum von 1910 bis 1924 datiert. Bei Betrachtung des Themas sowie der sprachlichen Gestaltung wird die Auseinandersetzung mit der Hektik und dem erbärmlichen Leben in einer Industriestadt deutlich. Diesen Eindruck unterstützt ebenso die Anonymität des lyrischen Ichs, welches über das ganze Gedicht hinweg alleine und unbekannt bleibt. Ein weiteres Merkmal des deutschen Expressionismus ist der Zwang in ein Leben in der Stadt und somit die Entfremdung von der Natur und von der Umwelt, was vor allem in der letzten Strophe erkennbar wird. Der Mensch muss sich einem Leben in der Stadt fügen, wie in diesem Gedicht vor allem ein Teil des letzten Verses, „In der Gewalt der Häuser“ (V.14), zeigt. Des Weiteren werden die Umweltbedingungen im gesamten Gedicht überdrastisch dargestellt, wie beispielsweise in Vers 8, Luft „speit auf meine Stirn“. Sprachlich und formal gesehen ist das Gedicht vor allem in Alltagssprache verfasst und enthält eine Alfred Vielzahl an Ausrufe- und Satzzeichen, was wiederum eindeutige Indizien für den Expressionismus sind. Die Strophen verfügen über unterschiedliche Längen und auch deren Versmaß orientiert sich an keiner traditionellen Richtung. Insgesamt reit sich dieses Gedicht somit in die Reihe expressionistischer Gedichte von Alfred Wolfenstein ein.
C) Ähnlich wie in seinem Gedicht „Die Städter“ kritisiert Alfred Wolfenstein[3] in „Krankes Wohnen“ die zunehmende Verstädterung und Industrialisierung. Außerdem greift er, zwar in kleinerem Maße wie in „Die Städter“, die Anonymität des Menschen auf, wie die Interpretation der „pfeifenden Rachen“ (V.8) in der zweiten Strophe zeigt. Sein Hauptaugenmerk gilt hier allerdings der Beziehung zwischen Mensch und Natur sowie der Beziehung zwischen Mensch und Stadt, beides prägende Einflüsse auf die damalige Dichtung der Expressionisten.
Literaturverzeichnis Stefan Schönig
1) Geschichtlicher Hintergrund
Quelle - Internet:
a) http://www.geocities.com/hoefig_de/LKD12/index.htm
2) Merkmale Expressionismus
Quelle - Internet:
a) http://www.geocities.com/hoefig_de/LKD12/index.htm
b) http://ursulahomann.de/geschichteundBedeutungdesliterarischenexpressionismus/komplett.html
3) Informationen über Alfred Wolfenstein
Quelle:
a) Bertelsmann Lexikon Verlag – „Deutsche Autoren – Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ von Walther Killy
[...]
[1] Geschichtlicher Hintergrund – Quelle: http://www.geocities.com/hoefig_de/LKD12/index.htm – siehe Literaturverzeichnis
[2] Markmale Expressionismus – Quelle: http://www.geocities.com/hoefig_de/LKD12/index.htm – siehe Literaturverzeichnis
[3] Informationen zu Alfred Wolfenstein – Quelle: „Bertelsmann Lexikon – Deutsche Autoren“ – siehe Literaturverzeichnis
- Arbeit zitieren
- Stefan Schönig (Autor:in), 2004, Wolfenstein, Alfred - Krankes Wohnen - Gedichtinterpretation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108951
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