Der Name "Marx" polarisiert: Ist er für die einen "der größte Denker des Industriezeitalters", so stellt er für andere einen Mythos dar, "geschaffen, um einen neuen Gott ins verwaiste Heiligtum zu setzen".
In den letzten Jahren ruft "Marx" allerdings eher Gleichgültigkeit hervor. Mit der Selbstzerstörung des Ostblockes und dessen "real existierenden Sozialismus" wurde Marx - womit eigentlich der Marxismus
(-Leninismus) gemeint war -, salopp gesagt, von vielen ins Museum der Geschichte, Abteilung "Mißglückte Versuche", abgestellt.
Ist es gerechtfertigt, Marx so "abzuhaken"? Oder lohnt es sich, auch und gerade heute, da er vom hohen Sockel, auf den er von zahlreichen Dogmatikern gewuchtet wurde, herabgestiegen ist, sich ihm und seinem Theoriegebäude zu nähern?
Diese Annäherung wir dem Leser hier nahegebracht. Nach einer kurzen Biographie wird die Denkart der Klassentheorie Karl Marx' herausgearbeitet. Am Ende sollen auch die Kritik und die Frage nach der Aktualität des marxschen Denkens ihren Raum finden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Klassenbegriff bei Karl Marx
2.1. „Klasse“ im allgemeinen Sprachgebrauch und bei Marx
2.2. Klasse an sich, Klasse für sich und Klassenbewusstsein
3. Die kapitalistische Klassengesellschaft
3.1. Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte
3.2. Die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie
3.3. Die Waffen, die der Bourgeoisie den Tod bringen
3.4. Die Hegemonie der Bourgeoisie
4. Klassenkampf und Revolution
4.1. Entfremdung, Verelendung und Ausbeutung
4.2. Über das Klassenbewusstsein zum Klassenkampf
4.3. Das Ende des Klassenkampfes
5. Die Kritik am marxschen Gesellschaftsmodell
5.1. Die Aktualität des marxschen Denkens
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Die Philosophen haben die Welt
nur verschieden interpretiert,
es kömmt darauf an,
sie zu verändern.
Karl Marx, Thesen über Feuerbach
Die Zukunft des Kapitalismus‘
ist der Sozialismus.
Werner Sombart
1. Einleitung
Noch vor wenigen Jahren polarisierte „Marx“: Für die einen war „Marxist“ ein Schimpfwort, andere trugen diese Titulierung wie eine Auszeichnung[1] ; für diese stellte er einen „[...] Mythos [...] (dar), geschaffen, um einen neuen Gott ins verwaiste Heiligtum zu setzen“[2], für jene war er „[...] der größte Denker des [...] Industriezeitalters“[3].
In letzter Zeit ist es um Marx allerdings eher ruhig geworden: „Wer spricht am Ende des Jahrtausends noch von Marx?“[4] Seit dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus‘“ wurde Marx von vielen Menschen, salopp gesagt, ins Museum der Geschichte gestellt.[5]
Doch bei näherem Hinsehen lohnt es sich, auch und gerade heute, da er vom hohen Sockel, auf den er von zahlreichen Dogmatikern gewuchtet wurde, heruntergestiegen ist, sich mit seiner Gesellschaftstheorie zu beschäftigen.[6]
Diese Beschäftigung soll hier erfolgen. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, beschränkt sie sich auf zentrale Begriffe der marxschen Theorie: den der Klassen, den der kapitalistischen Klassengesellschaft und den des Klassenkampfes.[7] Am Ende sollen auch die Kritik am Gesellschaftsmodell Marx‘ und die Frage nach der Aktualität des marxschen Denkens ihren Raum finden.
2. Der Klassenbegriff bei Karl Marx
Einen zentralen Punkt der marxschen Gesellschaftstheorie stellt der Ausdruck „Klasse“ dar. Marx selbst hat in seinem gesamten Werk diesen Begriff nicht formal definiert und ihn überdies auf mehrere Zustände angewandt. Zudem verwendet Marx den Klassenbegriff sowohl im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauch als auch in speziellem Sinne, was den Umgang mit dieser Vokabel nicht gerade erleichtert.
1. „Klasse“ im allgemeinen Sprachgebrauch und bei Marx
Im allgemeinen Sprachgebrauch kann „Klasse“ „[...] generell jede wesentliche soziale Gruppierung [...] bedeuten, und in diesem Sinne ist das Wort in der berühmten Eingangsformel des Kommunistischen Manifestes gebraucht“[8]: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. [...] Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander [...]“[9].
In speziellem Sinne jedoch versteht Marx unter Klasse eine Gesellschaftsgruppe, deren Individuen durch ihre „[...] Stellung in der Eigentumsordnung [...]“[10] - in der kapitalistischen Klassengesellschaft am stärksten determiniert durch Besitz oder Nichtbesitz von Produktionsmitteln - der jeweiligen Gruppe zugeordnet werden.
2. Klasse an sich, Klasse für sich und Klassenbewusstsein
Jede gesellschaftliche Großgruppierung, deren Mitglieder unter vergleichbaren sozioökonomischen Bedingungen leben, ist „an sich“ eine Klasse. Allerdings sind die Individuen dieser Menge untereinander unverbunden und sich ihrer Gemeinsamkeit nicht bewusst. Daher erdulden sie ihr Schicksal, beklagen es vielleicht, sehen sich selbst aber nicht in der Lage, es aktiv und nachhaltig zu beeinflussen.[11] Dabei gibt es Klassen, deren Mitgliedern es besonders schwer fällt, sich ihrer Gemeinsamkeit klar zu werden. Erschwernisse können beispielsweise durch eine starke räumliche oder kommunikative Trennung der Individuen untereinander verursacht werden. Marx führt hierfür exemplarisch die französischen Parzellenbauern an: Sie „[...] bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in [...] Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander [...]. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten [...] Kommunikationsmittel [...]. (Die Bauern) [...] sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse [...] geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten [...].“[12]
Anderen Klassen hingegen - im Kapitalismus die Klasse der Arbeiter, also das Proletariat - wird in ihren konkreten Situationen[13] „[...] gleichsam die Anweisung zum Bewußtwerden vorgegeben [...]“[14]. Dieses kollektive Bewußtsein über die eigene Lage ist das Klassenbewußtsein. Und genau dieses Bewußt-Sein macht aus einer Masse - einer Klasse an sich - „[...] eine selbstbewußte und handlungsfähige Einheit.“[15] Durch Organisation und Solidarität, durch das „[...] massenhafte Zusammenhalten [...]“[16] des Proletariats wird es zur Klasse für sich „[...] und damit zur politischen Partei [...].“[17]
3. Die kapitalistische Klassengesellschaft
In der kapitalistischen Klassengesellschaft, die mit der Industrialisierung die feudale Ständegesellschaft abgelöst hat, reduzieren sich die gesellschaftlichen Gruppierungen nach der marxschen Klassentheorie sukzessive auf zwei antagonistische und unvereinbare Klassen. DieZugehörigkeit der Individuen zu ihrer Klasse wird von den ihnen zugrunde liegenden ökonomischen Strukturen und Verhältnissen bestimmt. Damit ist das entscheidende Kriterium, das die Klassenzugehörigkeit festlegt, der Besitz oder aber Nichtbesitz an Produktionsmitteln.[18]
So entstehen also „[...] zwei neue, allmählich alle übrigen verschlingenden Klassen [...]:“[19] Die mehrheitliche „[...] Klasse der gänzlich Besitzlosen, welche darauf angewiesen sind, den Bourgeois ihre Arbeit zu verkaufen, um dafür [...] Lebensmittel zu erhalten. Diese Klasse heißt die Klasse der Proletarier oder das Proletariat.“[20] Auf der anderen Seite steht die minoritäre, privilegierte und herrschende Klasse der „[...] Kapitalisten, welche [...] ausschließlich im Besitz aller Lebensmittel und der Erzeugung der Lebensmittel nötigen Rohstoffe und Instrumente sind. Dies ist die Klasse der Bourgeois oder die Bourgeoisie.“[21]
1. Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte
Die Bedingungen, welche die kapitalistische Klassengesellschaft bestimmen, werden von Marx als sozioökonomische Bedingungen identifiziert und als Beziehung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gesehen.[22] Die Produktionsverhältnisse sind „[...] die jeweils bestehenden sozialökonomischen Strukturen, also Eigentumsverhältnisse, Organisationsformen vor allem des Wirtschaftens, der Stand der technischen Entwicklung.“[23] - „Die Produktivkräfte hingegen sind die Antriebskräfte der Entwicklung.“[24]
Diese Gefüge sind in der marxschen Theorie jedoch nicht abstrakte Größen, sondern werden von gesellschaftlichen Gruppen, also nach marxschem Versändnis Klassen, repräsentiert. Ralf Dahrendorf bezeichnet diese „Umlage“ auf die konkrete Konstellation der Gesellschaft als „[...] das eigentlich geniale Element der Marxschen Theorie des Wandels [...].“[25]
Generell gibt es „[...] die Klasse derer, die ein Interesse daran haben, die bestehenden Produktionsverhältnisse zu verteidigen, und die andere Klasse, die im Namen neuer Möglichkeiten die Veränderung dieser Strukturen fordert.“[26]
2. Die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie
Mit dem Aufkommen der Industrialisierung hat die Bourgeoisie „[...] eine höchst revolutionäre Rolle gespielt“[27], denn sie kann, bedingt durch das Streben-Müssen nach einer Effizienzmaximierung der Produktion durch Anwendung rationaler Prinzipien und Gewinnmaximierung als Ziel wirtschaftlichen Handelns, „[...] nicht existieren, ohne die [...] Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.“[28] Der Bourgeoisie und der von ihr entfachten industriellen Revolution stand anfangs die feudale Ständegesellschaft gegenüber, deren Macht und Privilegien von der „[...] Einführung der freien Konkurrenz [...]“[29] vernichtet wurde. Aus diesem Grunde wird die industrielle Revolution von Marx im Prinzip positiv bewertet. So unmenschlich sich die „[...] Vereinfachung des Klassenantagonismus, die Verschärfung des rein ökonomischen Zwangs, der Fortfall aller humanen Rücksichten [...]“[30] für die Unterdrückten auch auswirkt, so sehr läßt er den Menschen doch keine andere Wahl als die, diese nunmehr offengelegten Verhältnisse zu erkennen - und „[...] das alles scheint Marx von Nutzen, weil es die Lohnarbeiter dazu zwingt, ,ihre Verhältnisse mit nüchternen Augen anzusehen‘.“[31]
3. Die Waffen, die der Bourgeoisie den Tod bringen...
Nachdem sich die Bourgeoisie als herrschende Klasse etabliert hat, hat sie auch die Sozialstruktur umgewälzt und eine neue Gesellschaftsstruktur geschaffen. Nunmehr am Höhepunkt ihrer Macht angekommen, hat die Bourgeoisie ein naturgegebenes starkes Interesse am Erhalt des Status quo.
[...]
[1] Vgl. Dahrendorf, Ralf: Karl Marx (1818-1883). In: Kaesler, Dirk (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Band 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias. München 1999. S. 58.
[2] Löw, Konrad: Der Mythos Marx und seine Macher. München 1996. S. 21.
[3] Da Costa, Uriel / Ziegler, Jean: Marx, wir brauchen Dich. München 1992. S. 20.
[4] Dahrendorf, Ralf: Karl Marx (1818-1883). In: Kaesler, Dirk (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Band 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias. München 1999. S. 59.
[5] Streng genommen hatten die bürokratisch-zentralistischen Systeme des Ostblocks mit „Marx“ zwar nicht viel zu tun. Der Propaganda dieser Staaten ist es zu „verdanken“, dass dieser „Sozialismus“ gemeinhin mit Marx, der den Missbrauch seiner Theorien nicht zu verantworten hat, in Verbindung gebracht wird. Vgl. Fetscher, Iring (Hrsg.): Karl Marx. Friedrich Engels. Studienausgabe. Band I – Philosophie. Frankfurt am Main 1990. S. 9 und S. 11 ff .
[6] Vgl. Dahrendorf, Ralf: Karl Marx (1818-1883). In: Kaesler, Dirk (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Band 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias. München 1999. S. 59.
[7] Hierbei ist eine Reduktion auf ein abstraktes Modell nötig, um dessen Elemente klar zu verdeutlichen.
[8] Fetscher, Iring: Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten. München 1967. S. 480. (Hervorhebungen im Original)
[9] Engels, Friedrich / Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart 1989. S. 19.
[10] Fetscher, Iring: Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten. München 1967. S. 481.
[11] Vgl. Fetscher, Iring: Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten. München 1967. S. 478.
[12] Hehner, Gerd / Lieber, Hans-Joachim: Marx-Lexikon. Zentrale Begriffe der politischen Philosophie von Karl Marx. Darmstadt 1988. S. 386.
[13] Wichtig hierfür ist bei Marx die Fabrik als Ort der kollektiven Bewusstwerdung.
[14] Fetscher, Iring: Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten. München 1967. S. 478.
[15] Ebd. S. 478.
[16] Engels, Friedrich / Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart 1989. S. 28.
[17] Ebd. S. 30.
[18] Dieses Kriterium wurde vor der Klassengesellschaft durch z. B. religiöse Fixierungen verwischt. Erst nach dem Verschwinden dieser Fixierungen konnte die rein ökonomisch bedingte Schichtung offen zutage treten. Vgl. Fetscher, Iring: Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten. München 1967. S. 478.
[19] Engels, Friedrich / Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart 1989. S. 59.
[20] Ebd., S. 59. (Hervorhebungen im Original)
[21] Ebd., S. 59. (Hervorhebungen im Original)
[22] Vgl. Dahrendorf, Ralf: Karl Marx (1818-1883). In: Kaesler, Dirk (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Band 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias. München 1999. S. 60.
[23] Ebd., S. 61.
[24] Ebd., S. 61.
[25] Ebd., S. 62.
[26] Ebd., S. 62.
[27] Engels, Friedrich / Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart 1989. S. 21.
[28] Engels, Friedrich / Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart 1989. S. 22.
[29] Ebd., S. 63.
[30] Fetscher, Iring: Nachwort zum Kommunistischen Manifest. In: Engels, Friedrich / Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart 1989. S. 84.
[31] Ebd., S. 84.
- Citation du texte
- Patrick G. Stößer (Auteur), 1999, Karl Marx - der größte Denker des Industriezeitalters?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1080