Inhalt
1. Einleitung
1.1 Einführung
1.2 Definition des Wirkungsbegriffs
1.3 Medienwirkung als Forschungsgebiet
2. Das geistige Umfeld des Stimulus-Response-Modells (S-R)
2.1 Die "Allmacht der Medien"
2.2 Die Instinkttheorie
2.3 Theorie der Massengesellschaft
3. Ein Kind seiner Zeit – das S-R-Modell
3.1 Das monokausale Modell
3.2 Die drei Grundannahmen des Modells
3.2.1 Transitivität
3.2.2 Kausalität
3.2.3 Proportionalität
3.3 Einsatz des S-R-Modells
4. Der Beweis? – "Invasion from Mars"
4.1 Das Hörspiel
4.2 Die Massenpanik und Hadley Cantril
5. Kritik
5.1 Schwächen des Modells:
5.1.1 Absichtslose Kommunikation
5.1.2 Übersummation und Selektivität
5.1.3. Freiheit der Stimuli
5.2 Meta-Kritik von Brosius/Esser: Das S-R-Modell als KW-Mythos
6. Zusammenfassung
1. Einleitung
1.1 Einführung
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Massenmedien. Nie zuvor in der Geschichte wurde die Menschheit aus so vielen Kanälen mit so vielen Meinungen bombardiert. Die neuen Medien wuchsen schnell zu einer festen Größe innerhalb der Gesellschaft heran, die sich schwer einordnen oder berechnen ließ. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die Sozialwissenschaften bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Einfluss der Presse auf die öffentliche Meinung auseinandersetzten (Schenk 1987, S. 3). Das Bedürfnis, dieses neue Phänomen zu untersuchen, brachte schließlich eine eigene Wissenschaft hervor, die Kommunikationswissenschaft. Man kann also durchaus behaupten, dass die Medienwirkungsforschung die Kommunikationswissenschaft an sich begründete.
Diese Arbeit befasst sich mit einem der ersten Versuche, Massenkommunikation schematisch zu beschreiben – mit dem Stimulus-Response-Modell. Gegenüber den komplexen Modellen der heutigen Kommunikationswissenschaft, wirkt das S-R-Modell schon fast unglaubwürdig einfach, beinahe naiv. Dennoch hat es die Wissenschaft in den 20ger bis 40ger Jahren geprägt und auch spätere Modelle setzen sich immer wieder kritisch mit ihrem Ursprung auseinander. Diese Arbeit will das Modell in seinen zeitlichen Kontext einordnen und die später geübte Kritik durch andere Modelle darstellen. Da das Hauptthema also die Wirkungsforschung ist, sollte zunächst der Begriff der Wirkung von Kommunikation tragfähig definiert werden.
1.2 Definition des Wirkungsbegriffs
Maletzke definierte 1963 Wirkungen im weitesten Sinne als "sämtliche beim Menschen zu beobachtenden Verhaltens- und Erlebensprozesse, die darauf zurückzuführen sind, daß der Mensch Rezipient im Felde der Massenkommunikation ist". (Maletzke 1963, S. 189). Dieser weit gefasste Begriff ist für die Forschungspraxis und auch für diese Arbeit allerdings nicht praktikabel. Daher möchte ich mich Maletzkes engerer Definition anschließen. Danach sollen unter Wirkungen alle Prozesse in der postkommunikativen Phase verstanden werden, die als Resultate der Massenkommunikation ablaufen, des Weiteren alle Verhaltensweisen, die sich ergeben, wenn Menschen massenmedial vermittelte Inhalte aufnehmen. (Maletzke ebd., S. 190). Wirkungen manifestieren sich also im Verhalten, im Wissen, in Meinungen und Einstellungen, im emotionalen Bereich, in den Tiefensphären des Psychischen und in der Physis (Burkart 2002, S. 189). Das im folgenden untersuchte S-R-Modell schließt unter der Annahme einer übermäßigen starken Medienwirkung alle Wirkungsmöglichkeiten ein.
1.3 Medienwirkung als Forschungsgebiet
Als ältestes Teilgebiet der Kommunikationswissenschaft hat diese Sparte naturgemäß eine Fülle von Modellen und Theorien hervorgebracht, die je nach Forschungslage für einen eher schwächere oder eher stärkere Medienwirkung eintreten. In einem knappen Jahrhundert Wirkungsforschung lassen sich drei Tendenzen feststellen (Noelle-Neumann 1997, S. 519ff.):
1. Die stark fallstudien- und labororientierte Forschung der zwanziger und dreißiger Jahre entwickelte sich bis in die 70er zu weitgefassten, langfristig angelegten Feldstudien, die versuchen, ein möglichst breites Bild abzudecken und damit der vielfältigen Einflüsse, die in die Wirkung der Medien hinein spielen, gerecht zu werden.
2. Zwei Grundauffassungen von Medienwirkung befinden sich in einem ständigen Ringkampf: die Annahme starker Wirkung (bzw. passiver Rezipienten) gegen die Annahme schwacher Wirkung (bzw. aktiver Rezipienten). Momentan geht man von einer Mischung beider Komponenten aus, mit einem Übergewicht auf seiten eines passiven Publikums und damit einer starken Medienwirkung.
3. Die Wirkungsforschung begann mit der Untersuchung des Publikums. Was machen die Medien mit den Menschen, was eine der wichtigsten Fragen, die sich Forscher in den 30gern und 40gern stellten. Heute verlagert sich das Interesse der Wirkungsforscher immer mehr auf den Kommunikator und seine Beeinflussung durch den eigenen Mediengebrauch.
Das S-R-Modell steht als "Urmutter" der Wirkungsforschung stets am Anfang dieser Tendenzen, wie die folgende Arbeit zeigen will. Dazu soll zuerst das geistige Umfeld der S-R-Theorie untersucht werden, um das Modell in seinen ideen-geschichtlichen Kontext einzuordnen. Danach wird das Modell selbst sowie seine prominenteste Anwendung dargestellt, Hadley Cantrils Untersuchung der Massenpanik in Bezug auf das berühmt-berüchtigte Hörspiel "War of the Worlds". Abschließend möchte ich auf die Kritik am S-R-Modell durch spätere Forscher eingehen, um den Wert des Modells für die Kommunikationswissenschaft prüfen zu können.
2. Das geistige Umfeld des S-R-Modells
2.1 Die "Allmacht der Medien"
Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Massenkommunikation mit der Einführung der sogenannten "Penny Press" für alle Bevölkerungsschichten erschwinglich geworden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lernten die Bilder laufen, 1920 kam das Radio hinzu, 1940 das Fernsehen. Schenk weist darauf hin, dass durch diese rasante Entwicklung der Massenkommunikation die interpersonale Kommunikation unterlaufen wurde und neue Handlungskomplexe entstanden (Schenk 1987, S. 24). Die Industrie entdeckte die Werbung als Mittel zur Weckung neuer Konsumbedürfnisse und die ersten Werbefeldzüge des Jahrhunderts zeigten durchschlagende Erfolge (Naschold 1973, S. 16). Die Politik entdeckte die Massenmedien als modernes Mittel für Populismus in all seinen Formen. Vor allem totalitäre Regimes erkannten Propaganda und Volksverhetzung für ihre Zwecke. Lenin bezeichnete in seinem berühmten Leitartikel "Was tun?", erschienen in der Nr. 4 der sozialistischen Zeitung „Iskra“, die Kontrolle über die Presse als essentiell für den Erfolg der sozialistischen Revolution (IOJ 1970, S.73-79). Die faschistischen Herrscher in Italien und Deutschland kamen zu einem ähnlichen Schluss und richteten Propaganda-Ministerien ein. In den USA wurden die Medien für eine nie dagewesene Pro-Kriegskampagne eingesetzt, die das Volk hinter seine Regierung einschwören sollte. Für einen Menschen des frühen 20. Jahrhunderts muss die Allgegenwärtigkeit der Medien erdrückend gewirkt haben. Es war kaum möglich, sich der Omnipräsenz der selbsternannten Meinungsmacher zu entziehen. Gleichzeitig schränkten die beiden Weltkriege den Pluralismus der Medien stark ein – auch in demokratischen Ländern führte das bekannte Phänomen des "Burgfriedens" oder "Schulterschlusses" in Kriegszeiten zu einer meist kritiklosen Vermittlung der Regierungsinteressen.[1] All diese Elemente erzeugten in den 20er und 30er Jahren eine schon fast resignierende Akzeptanz des "Mythos der Allmacht der Medien", der man sich nicht entziehen konnte.
2.2 Die Instinkttheorie
Die Vorstellung der Unausweichlichkeit bestimmte auch die Wissenschaften. In den 20ern entwickelte zum Beispiel die Psychologie die Instinkttheorie, die sich bald unter Wissenschaftlern und Laien großer Beliebtheit erfreute (Burkart 2002, S. 193). Diese Theorie brach mit der Tradition des 19. Jahrhunderts, die davon ausgegangen war, dass jeder Mensch in seinen Anlagen und Fähigkeiten grundverschieden ist und es im wesentlichen von Ehrgeiz und Bildung abhänge, wie viel jeder Mensch in seinem Leben erreichen könne. Als eine Ausprägung des Sozialdarwinismus widersprach die Instinkttheorie dieser individualistischen Auffassung, und behauptete im Gegenteil, dass der Mensch, der sich ja, wie Darwin erst 40 Jahre zuvor bewiesen hatte, aus dem Affen entwickelt hatte, nichts anderes sei, als ein höheres Tier und als solches eine reine Ansammlung von Trieben und Instinkten, die durch bestimmte äußere Reize ausgelöst werden. Die Instinkttheorie ging sogar noch weiter, wie DeFleur zusammenfasst: "Each person inherited (...) more or less the same elaborate set of built-in biological mechanisms, which supplied him with motivations and energies to respond to given stimuli in given ways." (zitiert nach: Schenk 1987, S. 23). Alle Menschen reagieren also auf einen Stimulus mit dem gleichen ausgelösten Instinkt. Diese rein behavioristische Theorie wurde im sogenannten Black-Box-Modell zusammengefasst:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1 Black-Box-Modell
Dieses Modell will also einen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen dem Input, dem äußeren Reiz, und dem Output, der Reaktion des Individuums, herstellen.
2.3 Die Theorie der Massengesellschaft
Auch die zeitgenössische Soziologie trug maßgeblich zur Entwicklung des S-R-Modells in der Kommunikationswissenschaft bei. Die Schwesterwissenschaft entwickelte zu dieser Zeit die sogenannte Theorie der Massengesellschaft. Sie bietet in gewisser Weise eine Ergänzung zur Instinkttheorie, da sie das soziale Umfeld eines jeden Individuums als eigenständigen Reiz ausweist und so das einfache Reaktionsmodell etwas komplexer gestaltet. Laut Bell ist die Massengesellschaft gekennzeichnet durch arbeitsteilige Prozesse, welche die Entfremdung der einzelnen Individuen voneinander verstärken. Im Zuge dieser Entfremdung verlieren traditionelle "Primärgruppen" wie die Familie oder die dörfliche Gemeinschaft an Bedeutung, ebenso wie die Identifikationsbedingungen der Primärgruppen wie Traditionen und Religion (Bell, 1961, S. 21-22). Die Urbanisierung potenziert diesen Prozess. Die Folge dieser Entwicklung ist, wie Naschold es formuliert, "dass die einzelnen Individuen atomisiert, isoliert und in wechselseitiger Anonymität stehen" (Naschold, 1973, S. 17).
Individuen einer Massengesellschaft, wie diese Theorie sie beschreibt, sind damit die idealen Opfer für die Verführungen der Massenmedien. Isoliert, ihrer traditionellen Werte und Bindungen beraubt, sind sie ganz auf die Informationen der Medien angewiesen, deren Einfluss sie sich wiederum kaum entziehen können. In diesem Umfeld entstand schließlich mit der S-R-Theorie das kommunikationswissenschaftliche Pendant.
3. Ein Kind seiner Zeit – das S-R-Modell
3.1 Das monokausale Modell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2 Stimulus-Response-Modell
Es lässt sich unschwer erkennen, dass das S-R-Modell nichts ist anderes als eine Übertragung des Black-Box-Modells der Instinkttheorie in die Kommunikationswissenschaft. So bezeichnet es Naschold dann auch als "Korrelat von Instinkttheorie und der Theorie der Massengesellschaft" (Naschold, 1973, S. 17). Das Stimulus-Response-Modell, auch als hyperdermic needle-, bullet-, oder transmission belt-theory behauptet,
"daß sorgfältig gestaltete Stimuli jedes Individuum der Gesellschaft über die Massenmedien auf die gleiche Weise erreichen, jedes Gesellschaftsmitglied die Stimuli in der gleichen Art wahrnimmt und als Ergebnis eine bei allen Individuen ähnliche Reaktion erzielt wird" (Schenk, 1987, S. 24.)
Das Modell ist also vollständig monokausal – ein Stimulus genügt, um eine bestimmte Reaktion bei jedem Individuum auszulösen.
3.2 Die Grundannahmen des Modells
Neben der Monokausalität wird das Modell durch drei weitere Grundannahmen bestimmt, die sich zugleich zu den angreifbarsten Schwachstellen für Kritiker entwickelten (siehe Punkt 5).
3.2.1 Transitivität
Die S-R-Theorie wuchs vor allem im Umfeld von nachhaltiger Kriegspropaganda. Auf beiden Seiten des Atlantik versuchten Politiker, Armeen und Industrie die Menschen mit einer enormen Propagandamaschinerie auf ihre Seite zu ziehen. Unter diesen Voraussetzungen versteht das S-R-Modell Kommunikation als den bewussten Austausch von gezielten Informationen. Jegliche Form von Kommunikation "zielt" also mit einer bestimmten Absicht auf den Rezipienten. Wird dieser "getroffen", setzt er sich also dem Stimulus aus, wird der Kommunikator in jedem Falle eine Wirkung erzeugen.
3.2.2 Kausalität
Ein weiterer zentraler Punkt des S-R-Modells liegt im Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion. "Der Inhalt der Kommunikation und die Richtung des Effekts (...) werden gleichgesetzt" (Schenk, 1987, S. 24f). Das heißt, eine humorvolle Botschaft wird immer mit einer amüsierten Reaktion beantwortet, eine angsterregende Nachricht immer mit Panik und Schrecken. Der Stimulus, der von den Medien ausgesandt wird, bedingt also in allen Aspekten die Beschaffenheit der Response. Damit wird die Reaktion des Rezipienten auf den Stimulus nicht nur zwingend, sondern auch vorhersagbar.
3.2.2 Proportionalität
Die Wirkung ist nach dem S-R-Modell nicht nur in ihrer Form vorhersehbar, sondern auch in ihrer Intensität. Demnach gilt: je intensiver, anhaltender und direkter ein Stimulus auf den Rezipienten zielt, desto größer, spektakulärer und andauernder ist die Wirkung.
3.3 Einsatz des S-R-Modells
Wie bereits erwähnt, wurde die S-R-Theorie nach (fast) einhelliger Forschungsmeinung[2] vor allem in der Propaganda-Forschung verwendet. Hier fanden die frühen Kommunikationswissenschaftler die drei Grundannahmen des Modells weitgehend bestätigt. Propaganda ist eine Kommunikationsform, die eine gewisse Wirkung beabsichtigt und versucht, diese mit gezielt eingesetzten Stimuli beim Rezipienten zu erreichen: "Propaganda wurde als eine Strategie zur Erzeugung, Auswahl und Versendung wirkungsmächtiger Stimuli gedacht" (Merten, 1994, S. 296). Der durchschlagende Erfolg der Propagandafeldzüge beispielsweise zum Kriegseintritt der USA 1917 schien die Theorie voll und ganz zu bestätigen: Hunderttausende reagierten auf die Propaganda-Stimuli, die durch Radio, Kinowerbung, Presse und Straßenplakate die Individuen der Massengesellschaft förmlich bombardierten, indem sie sich freiwillig zur Armee meldeten oder strickende Solidaritätsgesellschaften für die "Jungs an der Front" bildeten. Ein stärkerer Einsatz von Propagandamitteln erzeugte dabei durchaus noch intensivere Reaktionen bei den Rezipienten. Transitivität, Proportionalität und Kausalität waren damit erfüllt und das Modell gültig. So schrieb Lasswell 1927: "(...) fact remains that propaganda is one of the most powerful instruments in the modern world" (zit. nach Brosius/Esser, 1998, S. 342).
Als das Hörspiel "War of the Worlds" unter der amerikanischen Bevölkerung eine Massenpanik auslöste, schien bewiesen, dass sich das Modell auch auf andere Formen der Kommunikation übertragen ließe.
4. Der Beweis? – "Invasion from Mars"
4.1 Das Hörspiel
Am 30. Oktober 1938 wurde eine von Orson Welles inszeniertes Hörspielbearbeitung des Science-Fiction-Klassikers "War of the Worlds" von H.G. Wells ausgestrahlt. Nach neuesten Erkenntnissen haben wohl etwa 12 Millionen Menschen das Stück gehört (Brosius, 1998, S.) eine Reichweite, von der moderne Hörspielproduzenten nur träumen können.
Orson Wells inszenierte mit besonderem Geschick den Einbruch der Marsmenschen in eine friedliche, nichtsahnende Welt. Das Hörspiel beginnt wie eine normale Radiosendung der 30er: Musik, ein Wetterbericht und Weltnachrichten, in denen unter anderem auch über eine seltsame Anomalie in der Atmosphäre des Planeten Mars berichtet wird. Während des Berichts werden fiktive, aber durch allerlei Titel und Würden als glaubwürdig dargestellte Experten zum Thema befragt, danach geht das Leben, bzw. die Radiosendung normal weiter. Im Laufe des Hörspiels wird immer wieder zu einem "Außenreporter" geschaltet, der von der Landung einer außerirdischen Kapsel berichtet – bis zu dem Zeitpunkt, an dem er den entstiegenen Marsmenschen zum Opfer fällt. Danach spinnen sich die Ereignisse rasant weiter, Vertreter der Regierung und der Armee treten auf, um die Bevölkerung zu beruhigen, gleichzeitig treffen immer neue Nachrichten von den mordenden und technisch weit überlegenen Marsianern ein.
Der Trumpf des Hörspiels liegt in seiner Authenzität, die für viele Hörer kaum von der eines echten Radioprogramms zu unterscheiden war. Die Folge ist bekannt: Eine nie zuvor gesehene Massenpanik und eine der interessantesten Feldstudien der Kommunikationswissenschaft.
4.2 Die Massenpanik und Hadley Cantrils Studie
Am Tag nach der Ausstrahlung des Hörspiels lautete die Schlagzeile der New York Daily News: "Fake radio war stirs terror through U.S" (zit. Nach Brosius/Esser, 1998, S. 342). Und tatsächlich hatte die hohe Authenzität des Stücks etwa ein Sechstel seiner Hörer (Cantril, 1982, S. 15) so tief verunsichert, dass sie sich in Angst und Schrecken nach phaserschwingenden Marsianern umgesehen hatten oder gar in reine Panik verfallen waren. Der Wissenschaftler Hadley Cantril erarbeitete eine Studie der Massenpanik, die er 1940 veröffentlichte. Darin stellt er sich ganz bewusst in die Tradition der S-R-Theorie von der übermächtigen Medienwirkung: "Die Bedeutung der Rolle des Radios für aktuelle nationale und internationale Ergebnisse ist so bekannt, daß hier nicht darauf eingegangen werden muß. Das Radio ist von seiner Struktur her das Medium par excellence (...)" (Cantril, ebd., S. 14).
In der Studie wurden 135 Personen interviewt, von 100 war bereits vor dem Interview bekannt, dass sie durch die Radiosendung in Panik geraten waren.[3] Cantril unterteilte die Hörer in vier Gruppen (Cantril, ebd. S. 21ff):
1. Hörer, die die innere Beweisführung des Hörspiels prüften und zu dem Schluß kamen, dass es sich um eine Fiktion handeln musste.
2. Hörer, die die Sendung durch andere Informationsquellen prüften und so zu der Überzeugung kamen, dass es ein Hörspiel war.
3. Hörer, die andere Informationsquellen prüften, sich aber in ihrer Annahme, es handle sich um eine reale Nachrichtensendung, bestätigt sahen.
4. Hörer, die der Sendung ungefragt glaubten und entsprechend mit paralysierter Panik reagierten.
In seinem Versuch, diese Reaktionen zu erklären, unterstreicht Cantril ein weiteres Mal die Bedeutung des Mediums: "Keiner (...) kann leugnen, daß das Hörspiel in den ersten paar Minuten so realistisch war, daß es auch gut informierten Zuhörern als glaubhaft erschien. Die dramatische Qualität des Hörspiels darf nicht übersehen werden" (Cantril, ebd., S. 17). Im weiteren Verlauf seiner Erklärung bezieht Cantril jedoch die Persönlichkeit der individuellen Hörer als wichtigste Variable ein und entfernt sich damit vom klassischen S-R-Modell, nach dem der angsterregende Stimulus des Hörspiels in allen Hörern Angst und Schrecken hätte hervorrufen müssen, nicht nur in einem Sechstel und auch dort in unterschiedlicher Ausprägung.
5. Kritik
5.1 Die Schwächen des Modells
5.1.1 Absichtslose Kommunikation
Wie bereits erwähnt, machten ausgerechnet die drei Grundannahmen, auf denen das S-R-Modell basiert, es auch besonders angreifbar. Die These der Transitivität erwies sich als erstes als unhaltbar. Neben dem Faktum, dass nicht jede Kommunikation eine Absicht in sich trägt, die auf den Rezipienten zielt, um eine bestimmte Wirkung zu erzeugen, müssen auch non-semantische und Meta-Kommunikation bedacht werden, die oft genug unbewusst ablaufen, und denen daher gar keine Absicht auf Kommunikator-Seite vorausgegangen sein kann. Auch die anderen beiden Grundannahmen mussten bald revidiert werden.
5.1.2 Übersummation und Selektivität
Die Annahme der Proportionalität wurde durch die Entdeckung des Reiz-Schwellenwertes außer Kraft gesetzt. Mit der Wiederholung eines Reiz tritt eine Übersummation ein, dass heißt, damit der Reiz weiterhin wirkt, muss seine Intensität ständig erhöht werden. Damit verändert sich die Wirkung ein und desselben Stimulus eben doch und die Theorie stimmt nicht mehr.
Weiterhin beachtet die Variable der Selektivität nicht: Stimuli kommen nicht in der vom Kommunikator gewünschten Form ungebremst beim Rezipienten an. Nach Merten (Merten, 1994, S. 298f) sind sieben Faktoren der Selektivität zu beachten:
1. die Aussage erreicht den Rezipienten oder nicht
2. Auswahl der Themen
3. Selektion nach enthaltenen Bewertungen des Kommunikators
4. Aufmerksamkeit: Selektionsleistung durch Überraschung und Relevanz
5. Kontextuelle Selektion ((...)Gegenwart anderer Personen)
6. Einstellungen (subjektive Präferenzen)
7. Abgleichen von internem und externem Informationsangebot (die Aussage wird mit Wissen, Werten, Normen und der Einstellung verglichen und daran gemessen).
Diese Kriterien der Selektion stellen alle eine Variable dar, die Wirkung beeinflussen, auslösen oder verhindern kann.
5.1.3 Freiheit der Stimuli
Die Annahme der Kausalität geht davon aus, dass eine Ursache eine artverwandte Wirkung erzeugt. Doch was passiert, wenn unterschiedliche Rezipienten einen Reiz unterschiedlich deuten? Diese Unsicherheit kann man als Freiheit der Stimuli übertiteln. Ein Zeichen, ein Symbol, ein Wort, ein beliebiger Stimulus kann also auf verschiedene Weise gedeutet werden, womit der lineare Reizreaktionsbegriff modifiziert werden muss. Vielmehr hängt die Wirkung einer Aussage zusätzlich von Kontextvariablen ab. Lewin (zitiert nach: Merten, ebd., S. 298) beschreibt dies mit der Formel "B(ehavior)=f(P(erson)), E(nvironment)". Diese Variablen beeinflussen sich gegenseitig und bestimmen miteinander, wie ein bestimmter Rezipient einen Stimulus deutet.
5.2 Die Meta-Kritik von Brosius/Esser
Wesentlich profunder als alle bisherigen Kritiker argumentieren Brosius/Esser in ihrem 1998 erschienenen Aufsatz "Mythen der Wirkungsforschung: Auf der Suche nach dem Stimulus-Response-Modell". Während andere Wissenschaftler das S-R-Modell quasi als reichlich veraltete, aber dennoch respektierte Urmutter der Wirkungsforschung ansehen[4], zweifeln Brosius/Esser, dass das Modell tatsächlich jemals in der Kommunikationswissenschaft konsequent angewendet wurde. Die meisten Wissenschaftler bedienen sich in diesem Zusammenhang eines Zitats von Laswell:
"The strategy of propaganda [...] can readily be described in the language of stimulus-response. The propagandist may be said to be concerned with the multiplication of those stimuli which are the best calculated to evoke the desired response, and with the nullification of those stimuli which are likely to instigate the undesired response" (zit. nach Brosius/Esser, 1998, S. 346).
Laut Brosius/Esser hingegen muss bezweifelt werden, ob dieses sehr allgemeinen Zitats tatsächlich ein Modell der Medienwirkungsforschung beinhaltet. Weiterhin demontieren sie die Wirkung des Welles'schen Hörspiels. Nur etwa ein Sechstel der Hörer verstand "War of the Worlds" als echte Nachrichtensendung und war dementsprechend besorgt. Nur ein Bruchteil dieser Personen verfiel tatsächlich in Panik. Betrachte man die hohe Reichweite der Ausstrahlung, sei die Wirkung relativ gering einzuschätzen (Brosius/Esser, 1998, S. 349). Das S-R-Modell sei also niemals tatsächlich zur Anwendung gekommen und hätte damit auch nicht im großen Paradigmen-Wechsel der Kommunikationswissenschaft um 1940 mühsam durch Lazarfelds "The people's choice"-Wahlstudie demontiert werden müssen. Es ist im Gegenteil ein reines Gedankengebäude, erschaffen von einigen Forschern, um einerseits die komplexen Zusammenhänge idealisiert zu vereinfachen, andererseits die Ergebnisse der "The people's choice"- und anderer Studien spektakulärer und bahnbrechender erscheinen zu lassen (Brosius/Esser, 1998, S. 351).
6. Zusammenfassung
Im Laufe der Medienwirkungsforschung hat sich die naive Einfachheit der S-R-Theorie als unhaltbar erwiesen. Wir wissen heute, dass Kommunikation keine Einbahnstraße ist, und wir haben auch erkannt, dass Medienwirkung zu einem großen Teil von der Persönlichkeit des Individuums abhängig ist. Dennoch wendet sich die Kommunikationswissenschaft, wie Noelle-Neumann es beobachtet hat, in den letzten Jahren wieder einer Aufwertung der Medienwirkung zu. Es wird wieder gefragt, wie stark Medien Menschen beeinflussen können und alte, unter dem Einfluss der S-R-Theorie entstandene Ergebnisse werden neu geprüft. Unter diesen Umständen erscheint mir die Kritik von Brosius/Esser als zu einseitig. Das Modell fand gewiss seinen Einsatz in der Propaganda-Forschung und ist damit nicht nur ein reines Gedankengespinst früherer Forscher, die von einer einfachen Welt träumten. Weiterhin muss bedacht werden, dass es unzulässig wäre, ältere Studien mit heutigen zu vergleichen. Denn nicht nur die Wissenschaft hat sich verändert, auch die Medienkompetenz der Rezipienten ist im letzten Jahrhundert stark angewachsen. Auch wenn Orson Welles Hörspiel auf heutige Hörer schon fast komisch anmutet, läßt sich nicht wegdiskutieren, dass es auf die zeitgenössischen Hörer offensichtlich eine völlig andere Wirkung hatte. Da sich also die Variablen Kommunikator, Message und Rezipient ständig verändern, kann ein Gleichungsergebnis der 30er nicht einfach in den 90ern für ungültig erklärt werden.
Literaturverzeichnis
Bell, D. (1961). The End of Ideology. New York
Brosius, H.-B., Esser, F. (1998). Mythen der Wirkungsforschung: Auf der Suche nach dem Stimulus-Response-Modell. Publizistik, 43, 341-361.
Burkart, R. (2002). Kommunikationswissenschaft. S. 186-197. Köln: Böhlau.
Cantril, H. (1982). The invasion from Mars: A study in the psychology of panic (with complete scrip of the Orson Welles broadcast). Princeton, NJ: Princeton University Press.
Cantril, H. (1985). Die Invasion vom Mars. In D. Prokop (Hrsg.), Medienforschung. Band II. Wünsche, Zielgruppen, Wirkungen (S. 14-28). Frankfurt a. Main: Fischer.
Internatinale Organisation der Journalisten (1970). Lenin über die Presse. Prag
Maletzke, G. (1963). Psychologie der Massenkommunikation. Hamburg:
Merten, K., Schmidt, S.J., Weischenberg, S. (Hrsg.). (1994): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Naschold, F. (1973). Kommunikationstheorien. In: Aufermann, J. et al (Hrsg.). Gesellschaftliche Kommunikation und Information. Band 1 (S. 16-48).Frankfurt:
Noelle-Neumann, E. (1997). Wirkung der Massenmedien auf die Meinungsbildung. In: Noelle-Neumann E., Schulz, W., Wilke, J. (Hrsg.), Publizistik Massenkommunikation (S. 519 – 571). Frankfurt a. Main: Fischer.
Schenk, M. (1987). Medienwirkungsforschung. Tübingen: J.C.B.Mohr.
[...]
[1] Ein Phänomen, dass in seiner Brisanz erst kürzlich durch das Verhalten der amerikanischen Medien im Zweiten Golfkrieg bestätigt wurde.
[2] Außer Brosius/Esser – siehe Kap. 5.2.
[3] Ein Vorgehen, dass Brosius/Esser scharf kritisiert haben (Brosius/Esser, 1998, S. 348f). Dadurch sei der Eindruck einer Massenpanik willentlich vom Forscher mit "unfairen Daten" herbeigeführt worden.
[4] Zum Beispiel Elisabeth Klaus: "Am Beginn der Wirkungsforschung steht das Stimulus-Response-Modell" (zit. Nach Brosius/Esser, 1998, S. 341).
- Citar trabajo
- Ingrid Lommer (Autor), 2003, Das Stimulus-Response-Modell - Urmutter der Wirkungsforschung oder Mythos der Kommunikationswissenschaft?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108071
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