Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Das Parzenlied
2. „Iphigenie auf Tauris“
2.1 Der Stoff und das Drama im Licht der Humanität – früher und heute
2.2 Goethes Beziehung zur „Iphigenie“ – „ganz verteufelt human“
3. Fazit – Und warum Adornos und Raschs Interpretationen fragwürdig sind
4. Literaturverzeichnis
5. Anhang
6. Eidesstattliche Erklärung
Vorwort
Jena, 19. Januar 1802
„Hiebei kommt die Abschrift des gräcisirenden Schauspiels. Ich bin neugierig, was Sie ihm abgewinnen werden. Ich habe hie und da hineingesehen, es ist ganz verteufelt human. Geht es halbweg, so wollen wir’s versuchen, denn wir haben doch schon öfters gesehen, daß die Wirkungen eines solchen Wagestücks für uns und das Ganze incalculabel sind“1.
Diese Zeilen schrieb Johann Wolfgang von Goethe vor über 200 Jahren angesichts einer baldigen Aufführung seines Dramas „Iphigenie auf Tauris“ an Friedrich Schiller. Darin beklagt er mit einer gewissen Selbstironie, dass ihm selbst sein Werk „zu human“ sei.
Diese Facharbeit soll nun erörtern, wie und warum der Dichter fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen der endgültigen Fassung des Werks zu diesem Urteil gekommen ist.
So wird zunächst das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern als Thema des Parzenliedes behandelt. Aus dieser Analyse werden dann Rückschlüsse auf Goethes Verständnis des Humanitätsbegriffs gezogen. Daraufhin wird die Beziehung des Autors zu seinem eigenen Drama untersucht, wobei das obige Zitat als Grundlage dienen soll. Dabei sollen Interpretationen von Wolfdietrich Rasch und Theodor Adorno zu Rate gezogen und ihre Aussagen überprüft werden. Es wird schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es einige Ungereimtheiten zwischen der Meinung der beiden Literaturwissenschaftler und der des Autors dieser Facharbeit gibt. Doch der Leser soll selbst entscheiden, welcher Interpretation er glauben schenken mag. Denn die Literaturwissenschaft ist keine empirische Wissenschaft, das heißt unterschiedliche Meinungen sind durchaus akzeptabel. Zu guter Letzt sei nun noch einmal Goethe zitiert, der anscheinend nicht nur die Entstehung seines Iphigeniendramas beschreibt, wenn er sagt: „So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muß sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das Möglichste getan hat2.“ So ist es nämlich auch mit dieser Facharbeit, welche trotzdem Anspruch auf möglichst große Vollständigkeit und Korrektheit sowie ordentliche Bearbeitung des Themas legt. Wer mehr über „Iphigenie auf Tauris“ und zum Thema Humanität in diesem Goethe-Werk erfahren möchte, sei nun eingeladen, an den vielen neuen Erkenntnissen teilzuhaben, die der Autors dieser Arbeit während des Schreibens erfahren hat.
Der Verfasser
1. Das Parzenlied
Zu Beginn soll nun, wie in der Einleitung angekündigt, das Lied der Parzen aus Johann Wolfgang Goethes „Iphigenie auf Tauris“ betrachtet werden, wobei Hinweise auf die Verarbeitung des Begriffs „Humanität“ gefunden werden sollen. Man muss zunächst sagen, dass es unsinnig wäre, das Parzenlied völlig isoliert zu betrachten. Ebenso widersin-nig ist es natürlich, gleich das ganze Drama in der Analyse zu verarbeiten; dafür ist in den weiterführenden Kapiteln noch genügend Raum. Sinnvoll ist es wohl, nach einer kurzen inhaltlichen Einführung den fünften und letzten Auftritt des vierten Aufzugs zu betrachten.
An jener Stelle ist die Hauptfigur Iphigenie auf dem Höhepunkt einer Krise angekommen, die sich aus dem vorherigen Geschehen entwickelt hat. Sie hat von Pylades Anweisung bekommen, den Skythenkönig Thoas hinsichtlich der Raub- und Fluchtabsichten der Griechen zu belügen. Dies kann sie jedoch nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, weil sie Thoas, der sie eigentlich gerne heiraten möchte, noch Dank schuldig ist, da er ihr einst das Leben rettete. So ist sie hin- und hergerissen und betet nun zu Beginn des fünften Auftritts zu den olympischen Göttern, die sie um Hilfe anruft (V.1715-1716 „Rettet mich, / Und rettet Euer Bild in meiner Seele!3 “ ). Sie hat Angst, den Glauben an die olympischen Götter zu verlieren, was für sie eine Katastrophe wäre.4 Dabei spielt die Verlegung des Götterbildes in die Seele, die schon im ersten Aufzug angedeutet wird (V.494 „Sie reden nur durch unser Herz zu uns.“), eine entscheidende Rolle. Ein Quellentext drückt sich dazu so aus:
„Iphigenie ordnet sich damit den göttlichen Mächten nicht unter, vielmehr sucht sie nach einer Übereinstimmung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen im Menschen selbst. Die moderne Iphigenie versteht sich nicht mehr als Kampflatz göttlicher, numinöser Mächte, sondern als ehrfürchtige, dankende Partnerin der Götter, hebt Henkel hervor“5.
Diese Erkenntnis, dass Iphigenie sich als Mensch den Göttern sehr nahe fühlt und im wahrsten Sinne des Wortes ihr eigenes Bild göttergleich erscheinen lässt, ist insofern sehr wichtig, als dass dieser später näher erläuterte Umstand den Grundstein für eine Er-neuerung der strapazierten Beziehung zwischen Menschen und Göttern markiert.
Während sie also um Hilfe bittet in ihrer Not, vermeint sie, das „Lied der Parzen“ (V.1720) zu vernehmen, dass ihre Amme ihr und ihren Geschwistern einstmals vorgesungen hat.
In dem Lied wird der Fall des Tantalus aus dem Götterhimmel in den Tartaros, die Unterwelt, aufgegriffen. Tantalus, der Sage nach ein Sohn des Zeus und der Titanin Pluto, stritt sich während eines Festes im olympischen Himmel mit eben jenem Gott und wurde deshalb in den Tartaros geschleudert; dort muss er, wie auch alle seine Nachkommen, bis in die Ewigkeit unter einem bösen Fluch sein Dasein fristen.
Der äußere Aufbau des Parzenliedes ist schnell erklärt: Es besteht aus sechs Strophen und einer Art Zusatzstrophe. Es gibt keine feste Verszahl – diese variiert von drei bis sieben Versen in einer Strophe – und kein festes Reimschema. Überdies fällt es nicht leicht, der Textstelle ein einheitliches Metrum zuzuordnen. Es sind zwar teils jambische Strukturen zu erkennen; von einem freien Metrum zu sprechen, ist aber wohl angebrachter.
Der Wechsel der Textform vom Tragischen ins Lyrische sticht jedenfalls sofort ins Auge. Er weist laut Achim Geisenhanslüke „auf den Prozess der Verinnerlichung der Götter6 “ hin. Das Parzenlied beschreibt das althergebrachte Verhältnis zwischen den Göttern und den Menschen, wie es sich eben aus der Sicht der Parzen darstellt. Die Parzen sind eigentlich die römischen Götter des Schicksals; bei den Griechen sind sie eher als Moiren bekannt und kommen auch in anderen Kulturen vor. Sie treten meist zu dritt auf und stehen noch höher als die Götter beziehungsweise sind „verbündet mit den alten Göttern im gemeinsamen Hass auf die Olympier“7, über deren Schicksale sie auch wachen.8
Zu Beginn der ersten Strophe wird das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern zunächst in Bezug auf die Furcht erklärt (V.1726-1727 „Es fürchte die Götter / Das Menschengeschlecht!“). Dieser Ausruf stellt die Basis, auf der die Beziehung sich abspielt, in den Bereich der Angst, was eine Annäherung der Menschen an die Götter schon so gut wie unmöglich erscheinen lässt. In den folgenden Versen, die die Unterschiede zwischen Menschen und Göttern verdeutlichen, wird diese Kluft noch einmal verstärkt dargestellt (V.1728-1731 „Sie halten die Herrschaft / In ewigen Händen, / Und können sie brauchen, / Wie’s ihnen gefällt.“). Die Götter sind nach dieser Definition unangreifbare Wesen, die sich erst recht durch die Menschen nicht verängstigen lassen. Ihr Handeln wird in den Bereich der Willkür gesetzt (V.1731 „Wie’s ihnen gefällt“), was sie außerdem grausam und ungerecht erscheinen lässt.9 Dabei fällt die h-Alliteration (V.1728-1729 „Sie halten die Herrschaft / In ewigen Händen“) auf, die die stark gefestigte und gesicherte Stellung der Götter unterstreicht.
In der zweiten Strophe wird zuerst die These vom Anfang der ersten Strophe verstärkt, nämlich dass es für die Menschen noch sehr viel gefährlicher wird, wenn die Götter jemanden zu sich holen und ihn auf einer Stufe mit sich verweilen lassen (V.1731-1732 „Der fürchte sie doppelt, / Den je sie erheben!“).
Dann wird das Geschehen der Tantalussage als Beispiel für eine solche Erhebung eingeführt: Es sind „Stühle bereitet / Um goldene Tische“ (V.1735-1736), es ist also wie in der Sage ein Fest geplant. Doch wenn während eines solchen Festes ein Streit (V.1737 „Zwist“) entstehe, so wird verallgemeinernd und doch die Tantalussage aufgreifend gesagt, würden die menschlichen Gäste unbarmherzig in die Tiefen der Unterwelt gestürzt, wo sie vergeblich auf einen gerechten Prozess warten müssten.
Sprachlich auffällig sind in der dritten Strophe mehrere Dinge. So erweckt der Doppelpunkt am Ende des ersten Verses den Eindruck, alles Folgende sei zwangsläufig und ultimativ wie in einer logischen Folge. Das macht die Götter zu cholerischen Wesen, die in jeder vergleichbaren Situation ihrem Zorn freien Lauf lassen und danach die Verstoßenen unbarmherzig in der Unterwelt zurücklassen. Des Weiteren sind die beiden g-Alliterationen auffällig (V.1738-1739 „Gäste / Geschmäht und geschändet“ sowie V.1742-1743 „Im Finstern gebunden, / Gerechten Gerichtes“). Sie erzeugen zusammen mit dem verbindenden „und“ (V.1741) beim Leser den Eindruck, dass er regelrecht mit Tantalus zusammen „in nächtliche Tiefen“ (V.1740) hinunterfalle und dort in der Dunkelheit vergeblich auf Gerechtigkeit warten müsse. Dieses Gefühl wird noch durch die lautmalerischen Eigenschaften der dunklen Vokale in Ausdrücken wie „geschmäht und geschändet“ (V. 1739) oder „harren vergebens, / Im Finstern gebunden“ (V.1741-1742) verstärkt; man fühlt sich leicht wie in einem dunklen Kerker, in dem man der ganzen Unbarmherzigkeit seiner Richter hilflos ausgeliefert ist.
Die kurze vierte Strophe wirkt daraufhin höhnisch (z.B. V.1744 „Sie aber“), wenn die Pracht beschrieben wird, in der die Götter weiterhin „in ewigen Festen“ (V.1745) ungestört leben können. Auf diesen Gedanken wird in der nächsten Strophe noch näher eingegangen, wenn illustriert wird, wie die Götter hoch oben über der Welt stehen und den Atem der Titanen nur noch als „leichtes Gewölke“ (V.1753) wahrnehmen.
„Der Höhe der Götter, die vom Berge / Zu Bergen schreiten, steht die Tiefe der Titanen gegenüber. Über dem Atem Erstickter Titanen schreiten die Götter unberührt hinweg. Ein leichtes Gewölke scheint ihnen nun der Atem der Titanen, der vorher eine reale Bedrohung ihrer Herrschaft war. Der Erhebung der Menschen zu den Göttern folgt ein Sturz in die Tiefe und damit eine räumliche Kluft, die den ursprünglichen Abstand von Menschen und Göttern noch vergrößert“10.
Die Erwähnung beziehungsweise die Gleichstellung Tantalus’ mit den Titanen ist auch ein interessanter Aspekt, der in Kapitel 2 noch eine Rolle spielen soll. In dieser fünften Strophe ist jedoch zuerst einmal die Aufmerksamkeit erneut der Sprache zu widmen. So stehen die Götter nicht nur in den direkten Wortbedeutungen über den Verstoßenen, sondern das Verhältnis macht sich auch in der Sprache bemerkbar. Die Götter „schreiten“(V.1747) majestätisch „vom Berge / Zu Bergen“ (V.1747-1748) und erinnern sich der Titanen nur noch anhand der leichten Bewölkung. Bei all diesen Beschreibungen sind fast ausnahmslos helle Vokale verwendet worden, was mit der dadurch entstehenden Unbeschwertheit im krassen Gegensatz zum Atem der „erstickten“(V.1751) Titanen steht, der ihnen „gleich Opfergerüchen“(V.1752) „aus Schlünden der Tiefe“(V.1749) „dampft“ (V.1750). Dieser ist nämlich an sich sehr bedrohlich, weil der ganze Hass der Verstoßenen auf die Götter in ihm steckt; wie schon gesagt, stehen die Götter aber so weit über den Dingen, dass sie nicht einmal mehr an den Hass oder die Verstoßenen selbst denken müssen.
In der sechsten und letzten Strophe des Liedes wird die Idee der Familienschuld aufgegriffen, die auch Tantalus’ Geschlecht zu erleiden hat, nämlich dass sich die Schuld des Urahns als Familienfluch automatisch auf alle Nachkommen überträgt. Die Götter wenden „ihr segnendes Auge / Von ganzen Geschlechtern“(V.1755-1756), um zu verhindern, dass sie bei einem Nachkommen erneut die „ehmals geliebten / Still redenden Züge / Des Ahnherrn“ sehen. Sie vernichten also auf grausame Art und Weise lieber gleich eine ganze Familie, als dass sie Reue zeigen und barmherzig sind, damit sie später die Folgen ihres unnötig cholerisch erscheinenden Wutausbruchs nicht sehen müssen. Wichtig ist hier auch, dass die Götter verallgemeinernd „Herrscher“(V.1754) genannt werden, was den Rezipienten an eine Allegorie mit beispielsweise Königen in der realen Welt denken lässt, die in der Historie ja teilweise nicht weniger willkürlich gehandelt haben als die Götter im Parzenlied. Inwieweit Goethe hier Kritik an Herrschaftsordnungen übt, bleibt an diesem Punkt jedoch der persönlichen Interpretation des Lesers vorbehalten.
Auf jeden Fall aber gibt es also für den, den die Götter einmal verstoßen haben, keine Möglichkeit auf Rettung. Das Parzenlied stellt somit die Beziehung, besser, den „Konflikt zwischen Menschen und Göttern als einen unaufhebbaren Streit zwischen zwei ungleichen Mächten dar“.11
Am Schluss der Szene steht noch ein kleiner Nachsatz aus sechs Versen, der die Bedeutung des Liedes im Gesamtzusammenhang des Dramas verständlich macht.
„Entscheidend für die Bedeutung des Parzenliedes im Kontext der IPHIGENIE ist die letzte Strophe des Gedichtes, die das Parzenlied als eine Reminiszenz an Iphigenies Kindheit ausweist“12.
Es wird dabei auf die beiden Tempuswechsel im ersten (V.1761 „sangen“) und im zweiten Vers (V.1762 „horcht“) Bezug genommen, die erstens die Geschehnisse des Liedes und die Einstellung der Götter sowie die Furcht der Menschen vor ihnen in die Vergangenheit legen und zweitens Tantalus als gegenwärtigen Zuhörer seiner eigenen Sage präsentieren.13
„Durch die Idee Tantalus zum Hörer seiner eigenen Geschichte zu machen, erscheint der Gehalt des Parzenliedes in einem anderen Lichte. Die Tatsache, dass Tantalus zum Schluss des Gedichtes sein Haupt schüttelt, weist darauf hin, dass der Urahn des Fluches mit seinen Ahnen leidet, da er die Verantwortung nicht nur für die eigene Tat trägt, sondern auch für seine Nachfahren“14.
Nicht zuletzt sind auch die Anführungsstriche, die das Lied der Parzen umrahmen, von Bedeutung, da sie das Lied als ein Zitat aus früheren Tagen kennzeichnen.
So ist, zusammenfassend gesagt, das Parzenlied eine Beschreibung der Beziehung zwischen Menschen und Göttern. Sie wird im Kontext der „Iphigenie auf Tauris“ so umgedeutet und in die Vergangenheit verwiesen, dass ein neuer Bund zwischen Menschen und Göttern, eine neue Annäherung und ein neuer Anfang im Angesicht der Humanität möglich sei. Die Anklage der Parzen wird bedeutungslos und nichtssagend für den Menschen, der ein Abbild der Götter in seinem Herzen schafft und somit den Grundstein für eine friedliche Lösung des Konflikts auf gleicher Ebene legt. Der freie Mensch muss nicht mehr wie einst die Titanen gegen die Götter rebellieren, um ihnen näher zu kommen; vielmehr steht er mit den Göttern vereint und ihnen gleich auf der selben existentiellen Stufe.15
2. Iphigenie auf Tauris
2.1 Der Stoff und das Drama im Licht der Humanität – früher und heute
Nach diesem Einstieg soll nun über das gesamte Drama und über die darin enthaltene Verarbeitung des Humanitätsideals nachgedacht werden.
Johann Wolfgang Goethe schrieb die erste Prosafassung des Stücks im Jahre 1779 im Alter von 30 Jahren in nur sechs Wochen, während er im Auftrag des Herzogs von Weimar umherzog, um Rekruten für die preußische Armee auszuheben. Bei der ersten Aufführung am 06.04.1779 spielte Goethe selbst den Orest. Nach mehreren Überarbeitungen, die sich über acht Jahre hinzogen, erschien im Jahre 1787 die endgültige Fassung, in der sich der Dichter auf einen fünffüßigen Jambus als Versmaß festlegte; diese Idee war ihm 1786 auf seiner Reise nach Italien gekommen und fand großen Anklang.16
Der Stoff des Stückes gehört zur großen trojanischen Sage, also zur „Ilias“ von Homer. Iphigenie ist die Schwester des Orest und der Elektra und die Tochter Agamemnons und seiner Frau Klytemnästra; Agamemnon ist Herrscher auf Kreta und zudem ein direkter Nachfahre des Tantalus, der wiederum aus dem Geschlecht der Titanen stammt.
Nach Helenas Entführung durch den Trojaner Paris liegt die griechische Flotte auslauf-bereit im Hafen von Aulis, von wo aus sie nach Troja segeln will, um die Entführung zu rächen. Die Göttin Artemis ist den Griechen jedoch nicht freundlich gesonnen, lässt eine Flaute aufkommen und fordert von Agamemnon, Iphigenie zu opfern. Er tut schweren Herzens, wie ihm geheißen und lockt seine Tochter unter dem Vorwand, sie solle Achill heiraten, in das griechische Lager. Während der Opferungszeremonie wird Iphigenie jedoch von der Göttin Diane nach Tauris entführt; an Stelle von Iphigenie wird eine Hirschkuh auf den Opferaltar gelegt. Artemis merkt das jedoch nicht und lässt nach der falschen Opferung den nötigen Wind aufkommen, so dass die Griechen nach Troja aufbrechen können, welches sie auch nach zehnjährigem Kampf erobern. Als Agamemnon nach Hause zurückkehrt, wird er von seiner Frau und deren Liebhaber Ägisth wegen der vermeintlichen Opferung der gemeinsamen Tochter ermordet. Orest, der zusammen mit Pylades bei dessen Vater aufwächst, rächt sich später seinerseits und bringt seine Mutter und ihren Liebhaber um. Dafür wird er von den antiken Rachegöttinnen verfolgt, bis es in Athen unter dem Gericht der Göttin Athene zur Aussöhnung kommt17. Das Drama spielt nach dem Muttermord; Orest und Pylades fahren nach Tauris, wo die Skythen herrschen. Dort, so glauben sie, müssten sie das Bild der Göttin Diane aus dem Tempel stehlen, um die Weisung des Apollo-Orakels von Delphi zu erfüllen, die ihnen aufträgt, das Bild der Schwester zurückzubringen.
Iphigenie ist aufgrund der Gnade des Skythenkönigs Thoas nach ihrer Ankunft Priesterin im Tempel der Diane geworden – der König hofft, dadurch ihr Herz gewinnen zu können. Normalerweise opfern nämlich die Bewohner von Tauris nach einem alten Brauch unerwünschte Gäste; eine Errungenschaft Iphigenies ist es gewesen, diesen Brauch vergessen zu machen. Mit der Ankunft von Orest und Pylades keimt jedoch bei den Untertanen von Thoas der Wunsch, diesen Brauch wieder aufleben zu lassen und die beiden zu töten, wodurch das Schauspiel an Dramatik gewinnt.
Der Stoff ist in der Literaturgeschichte unter anderem von Euripides und Racine verarbeitet worden. Dabei löst sich die Spannung, die durch den Raub des Götterbildes aus dem Tempel und durch Orests verzweifelte Situation – er wird ja von den Rachegöttinnen verfolgt – entstanden ist, beim erstgenannten griechischen Tragiker des 5. Jahrhunderts vor Christus ganz klassisch durch einen Deus, in diesem Fall durch eine Dea ex machina, das heißt durch das plötzliche lösungsbringende Auftreten einer Göttin, hier das von Athene.
In der Bearbeitung des französischen klassizistischen Dramatikers Racine steht das Geschehen in Aulis im Mittelpunkt18 ; hier noch weitere Bezüge aufzuzeigen, würde aber den Rahmen des Themas dieser Arbeit sprengen. Johann Wolfgang Goethe jedenfalls zeigt auch bei der Bearbeitung dieser Sage wie schon bei der des Faust-Stoffes ein Faible für die Veränderung von in der Mythologie beschriebenen Ausgängen. So erfolgt bei ihm die Erlösung Orests nicht durch einen Gott oder eine Göttin, sondern vielmehr durch die reine Menschlichkeit Iphigenies. Außerdem erübrigt sich das Stehlen des Götterbildes, das weiteren Unmut verbreiten würde, durch die korrigierte Deutung des Orakelspruchs, nach dem die Griechen das Bild der Schwester zurückholen sollen: Gemeint ist nicht Apollos Schwester Diane, sondern vielmehr Iphigenie, die verloren geglaubte Schwester des Orest, die heimgebracht werden soll.
Das frühklassische Drama, das nicht zuletzt wegen seines fünfaktigen Aufbaus und aufgrund der Tatsache, dass es dem Standardmodell des klassischen geschlossenen Dramas nach Gustav Freytag (Exposition – Steigerung – Höhepunkt – Fall/Umkehr – Katastrophe/Lösung sowie Einheit von Ort und Zeit)19 konsequent folgt, so bezeichnet werden darf, setzt sich in seiner Gesamtheit also mit der Humanität auseinander, was sich wohl gemäß der Aufklärung am besten mit „Menschlichkeit“ übersetzen lässt. Diese Menschlichkeit beinhaltet im goetheschen Sinn sowohl Wahrhaftigkeit als auch Vollkommenheit, wie es sich in Iphigenie manifestiert. Sie macht das Werk zu einem „religiösen Drama20 “, in dem die Annäherung des Menschen an die Götter thematisiert wird in Bezug auf die Humanität. Die Menschen streben danach, göttergleich zu werden, und das gelingt ihnen eben durch die vollendete Menschlichkeit. Im vorliegenden Drama ist Iphigenie die Inkarnation dieser Menschlichkeit, da sie das Bild der Götter in ihre Seele verlagert und somit nahezu göttergleich wird. Ihr gelingt es, durch den „Einsatz“ von Wahrhaftigkeit gleich drei Konflikte zu lösen. Zuerst befreit sie Orest von dem Familienfluch, dessen unglückliches Opfer er zu sein glaubt; dann kann sie verhindern, dass das Götterbild geraubt oder auf andere Weise befleckt wird, und schließlich kann sie sogar noch ihre beiden Landsleute und sich selbst retten – die drei dürfen heimkehren. Gleichwohl bedarf es bei all diesen Schritten der Einwilligung der Götter beziehungsweise der Übereinstimmung mit ihnen; das heißt, der Mensch darf nie so vermessen sein, sich über den Willen der Götter zu stellen, so wie beispielsweise Orest sich zu Unrecht zum Richter über seine Mutter erhoben hat21. Ist diese Übereinstimmung aber gegeben, wie es sich in der vollendeten Menschlichkeit Iphigenies darstellt, kann sich in der Lösung der Probleme ein ganz neues Verhältnis zwischen Menschen und Göttern im Angesicht der Humanität entwickeln: Am Schluss des Dramas werden alle Charaktere, mithin alle Menschen wieder mit dem Götterwillen vereint und aufgenommen „in den endgültig begründeten Bund der Menschlichkeit.22 “
Das Bild des perfekten Menschen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Iphigenie nicht ohne Fehler bleibt. Denn eben sie ist es, die Thoas belügt und somit Schuld auf sich lädt. Aber gerade dieser Umstand lässt das Drama im doppelten Sinne lebendiger werden. Erstens entsteht durch die Tatsache, dass Iphigenie lügt, weitere Spannung, und zweitens kommt sie durch diese Tatsache dem Rezipienten oder Zuschauer insofern entgegen, als dass sie gerade durch diesen kleinen Fehler in ihrer Perfektion der Menschlichkeit, die sie am Schluss des Dramas repräsentiert, menschlicher wird beziehungsweise dem menschlichen Beobachter näherrückt.
„Zu Unrecht hat man gesagt, in diesem Drama sei der vollkommene Mensch in die Mitte des Universums gerückt worden. Auch Iphigenie entstammt dem Geschlecht des Urvaters Tantalus, in dem der Titanen kraftvolles Mark sich fortgeerbt hat, der gewaltigen Übermenschen, denen Rat, Mäßigung, Weisheit und Geduld versagt bleibt. Wer mit den Erwartungen von „klassischer“ Einfalt und Stille an die ersten Szenen herangeht, versäumt es leicht, die vibrierende Lebendigkeit im Innern Iphigenies zu spüren“23.
Diese Einschränkung, die vielleicht noch ein letzter Rest, eine Erinnerung an den noch nicht „klassisch“ denkenden Goethe des Sturm und Drang ist, soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich an der Grundidee, der Mensch solle sich ganz im Sinne der Aufklärung aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Zitat I. Kant) befreien, im Ausgang des Werkes nichts ändert. Diese Befreiung vollzieht sich hier im Wesen der Humanität und durch eine neue Form der Annäherung an die Götter. Das Drama entfaltet sich am Schluss zu einem „Festspiel der reinen Menschlichkeit, und der Lichtglanz des Glaubens erstrahlt über den Abgründen der menschlich-allzumenschlichen Welt24.“
Mit der Zeit hat das Werk eine Vielzahl von Deutungen erfahren. Immer stand jedoch die Humanität im Mittelpunkt des Interesses, auch wenn direkt nach dem Erscheinen des Werkes zunächst über das Verhältnis zum griechischen Vorbild gestritten wurde.25 Heute gibt es grundsätzlich zwei Deutungsversuche.
Theodor W. Adorno stellt auf der Basis von Arthur Henkels Interpretation das Drama in die „Dialektik der Aufklärung26 “, so dass „die Unterdrückung der Natur durch die Vernunft in der abendländischen Geschichte26 “ bei Goethe eine Kritik erfahre, „die den Umschlag von Aufklärung in den Mythos prophezeie26 “. Das bedeutet, dass Iphigenie nicht als Symbol für die vorbildliche und vollendete Menschlichkeit gelten könne, weil gerade die Humanität, mithin eine Idee der vernunftbezogenen Aufklärung, von Goethe gar nicht so gelobt worden sei, wie es aufgrund der obigen Überlegungen offensichtlich zu sein scheint. Adorno glaubt, Goethe habe die Aufklärung kritisiert, indem er das Humanitätsideal der „Iphigenie“ in den unerreichbaren Mythos gesetzt hat. Dagegen steht die Meinung von Wolfdietrich Rasch, der sich auf die Interpretation von Robert Jauss bezieht, wenn er sagt, dass er „ Iphigenie auf Tauris als Drama der Autonomie27 “ sehe. Das Drama „sei kein hehres Festspiel der Humanität“28, es thematisiere vielmehr „das Problem der menschlichen Autonomie im Spannungsverhältnis von Menschen und Göttern28 “.
Ich persönlich denke weder, dass Goethe das Humanitätsideal oder die Aufklärung selbst kritisieren wollte, noch, dass der Dichter in seinem Drama gar nicht das Thema der Humanität bearbeitet hat. Aufgrund dieser Meinungsverschiedenheit ist es deshalb meiner Ansicht nach notwendig, sich Goethes Beziehung zur Iphigenie und die Wirkung des Werks in seiner Zeit noch einmal genauer anzusehen, bevor man einer der Interpretationen zustimmen oder beide verwerfen kann.
2.2 Goethes Beziehung zur Iphigenie – „ganz verteufelt human“
Acht Jahre lang trug Johann Wolfgang Goethe, seit 1782 von Goethe, die verschiedenen Versionen des Dramas mit sich herum, bevor die endgültige Fassung in jambischen Versen erschien. Wichtige Ereignisse in seiner Biographie sind eigentlich an jedem Punkt seines Lebens zu finden; fast nichts ließ ihn unberührt, und so gibt es auch in diesem Werk viele nennenswerte Einflüsse. Als er die erste Prosafassung des Stücks schrieb, war er, wie oben schon erwähnt, am Hof in Weimar beschäftigt. 1775 hatte er Charlotte von Stein kennen gelernt, die nachweislich als Vorbild für die Iphigenie gedient hat und ohne die es das Stück wohl nie gegeben hätte. Das Werk ist eine Absage an die alles hinterfragende und kritisierende Periode des Sturm und Drang, die der 30-jährige Goethe bewusst hinter sich ließ. So ist es denn auffällig, dass der Dichter sich relativ strikt an das Konzept des klassischen Dramas hält, obwohl er in vorherigen Werken – eben den Stücken des Sturm und Drang wie „Egmont“ oder „Götz von Berlichingen“ – gerade diese Form kritisiert und als zu starr empfunden hat.
Auch die Tatsache, dass Goethe sich intensiv mit dem Thema „Humanität“ – sei es im Positiven oder den vorgestellten Interpretationen zufolge im Negativen – auseinander-gesetzt hat, macht deutlich, dass er sich nun eindeutig aufklärerischen Ideen zuwandte und sie verarbeitete. Sieht man die Epoche des Sturm und Drang als Gegenbewegung zur Aufklärung*, stellt man fest, dass Goethe in der Zeit, in der er „Iphigenie auf Tauris“ schrieb, von der Idee Abstand nahm, sich der Aufklärung entgegenzustellen. In früheren Werken aus der Epoche des Sturm und Drang wie der ersten Fassung des Faust heißt es noch: „Er [der Mensch] nennt’s Vernunft und braucht’s allein / Nur tierischer als jedes Tier zu sein• “. In diesen Worten findet sich eine Art Verachtung der Vernunft, einer der Schlüsselgebriffe der Aufklärung. Der Mensch braucht – nach diesem Zitat – die Ideen der Aufklärung nicht, um sich in irgendeiner Form zu verbessern. Im späteren Iphigenien-Drama benötigt der wahrhaftige, vorbildliche Mensch jedoch sehr wohl Ideale der Aufklärung, eben vor allem die Humanität, um durch das Menschsein an sich perfekt und göttergleich zu werden. Hier zeichnet sich somit ein Wendepunkt in Goethes Leben ab: Er wandelte sich von einem „Stürmer und Dränger“ zu einem „Klassiker“.
Nun ist es angebracht, sich daran zu erinnern, dass die Tantalussage im Parzenlied direkt mit dem Schicksal der Titanen verbunden ist. Die Titanen sind der Sage nach die alten Götter, die von den neuen, den olympischen Göttern, besiegt worden sind. Dabei wurde ihnen beziehungsweise Zeus als dem Höchsten unter ihnen von dem Titanen Prometheus geholfen; dieser brachte jedoch den Menschen später ohne Erlaubnis von Zeus das Feuer, wofür er an den Kaukasus geschmiedet wurde und jeden Tag das Leid ertragen musste, dass ihm seine Leber aus dem Bauch herausgefressen wurde, bevor sie wieder nachwuchs.
Das Schicksal des Prometheus ist, stellvertretend für das aller Titanen oder Menschen, die sich gegen die neuen Götter auflehnen, dem des Tantalus gar nicht unähnlich, da auch er vom wutentbrannten Zeus verstoßen wird, weil er zu hochmütig wurde und glaubte, selbst auf der Stufe der Götter verbleiben zu können. Über Prometheus hat Goethe im Jahre 1774 ein Gedicht verfasst, dessen Botschaft ganz der des Sturm und Drang folgt. Das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern wird darin so beschrieben, dass der Mensch sich endgültig von den Göttern befreit hat, mithin – durch die Errungenschaft des Feuers – autonom geworden ist und die Götter nicht mehr braucht. Diese werden dort als Knechte dargestellt, die auf die Gunst der Menschen angewiesen sind („Ihr nähret kümmerlich / Von Opfersteuern / Und Gebetshauch / Eure Majestät / Und darbtet, wären / Nicht Kinder und Bettler / Hoffnungsvolle Toren29 “).30
Im Drama „Iphigenie auf Tauris“ und besonders im Parzenlied wird dieses menschenverherrlichende Ideal des Sturm und Drang jedoch stark relativiert beziehungsweise geradezu auf den Kopf gestellt. Der Mensch muss sich nicht mehr selbst über die Götter erheben und gegen sie kämpfen, sondern erreicht das Ziel der Gleichstellung mit ihnen durch das Knüpfen eines neuen Bundes im Sinne der Humanität, das heißt durch völlige Offenheit gegenüber den Göttern und nicht durch Verschlossenheit. Die Tatsache, dass der Weg zum Ziel sich somit geändert hat, ist auch im Lebensweg des älter werdenden Goethe wiederzufinden.
„Für den Iphigeniendichter hat das Werk die Überwindung eines jugendlich unbedingten Titanismus bedeutet, einer Zeit, da Goethe sich selbst als Tantalus gefühlt hat und dem Orest verwandt als Mitglied einer „ungeheuren Opposition“ gegen die guten und weisen Götter“31.
Die hier angesprochene Verwandtschaft zum Orest spiegelt sich auch darin wieder, dass er bei der Uraufführung eben jenen Charakter gespielt hat. Goethe fühlte sich damals insofern wie Orest, als dass auch er in den Genuss kam, von einer Seele, die er als komplett rein erachtete, auf eine bestimmte Art und Weise befreit zu werden. Ganz nach dem Vorbild der Sage sah er in sich Orest und in Charlotte von Stein Iphigenie, die ihn aus den Irrungen seiner Jugendjahre in einen neuen Abschnitt seines Lebens geführt hatte. Nun stellt sich natürlich die Frage, warum von einer „ganz verteufelt humanen“ Beziehung zwischen Goethe und seinem Werk die Rede ist. Dieser Aspekt hat mehrere Facetten.
Zum einen muss man sich klarmachen, wie die Beziehung zwischen Goethe und Frau von Stein endete. In der Nacht zum 3. September 1786 stahl Goethe sich nämlich heimlich davon und brach von Karlsbad zu seiner zweiten Italienreise auf.32 Heute würde man diesen überstürzten Aufbruch vielleicht als eine Art Midlife-Crisis verstehen – Goethe war ja schon fast 40 Jahre alt. Auf jeden Fall suchte er die Ruhe und die Freiheit, die ihm vorher verwehrt geblieben war. Bemerkenswert ist wohl auch, dass er sich während seiner zehnjährigen Beziehung mit Charlotte von Stein der restlichen Frauenwelt nicht so sehr geöffnet hat wie in anderen Lebensabschnitten. Jedenfalls fühlte er sich im Nachhinein ja durchaus bemüßigt, weiter am Faust zu arbeiten und sich auch sonst nicht so sehr von seiner eigenen Vergangenheit zu lösen, wie er es während der Zeit mit Charlotte zumindest teilweise getan hatte.
Ebenso ist es wichtig, dass man sich die historische Situation noch einmal genau anschaut. Unter anderem hat Goethe selbst sich zu diesem Problem geäußert: „Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König Thoas soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolde hungerte33 “.
Dieses Zitat aus einem Brief an Frau von Stein vom 06.03.1779 ist eines der ganz wichtigen zum Verständnis von Goethes Beziehung zur Iphigenie. Während er für den Herzog von Weimar Soldaten rekrutierte, kam er unter anderem durch das thüringische Dorf Apolda. Dort ging es den einfachen Leuten gegen Ende des 18. Jahrhunderts schlecht, und insbesondere das Elend der Strumpfwirker, das er überall zu Gesicht bekam, machte Goethe zu schaffen. Dennoch oder gerade deshalb und aus dem Grund, dass seine Beziehung mit Charlotte von Stein sein Denken stark beeinflusste, schrieb er weiter an seinem klassischen Iphigeniendrama und postulierte den Triumph der vollendeten, reinen Menschlichkeit über die alte Ordnung, obwohl er genau sah, dass diese Utopie keineswegs der Realität der einfachen Bevölkerung entsprach, die seine Thesen weder verstehen konnte noch wollte.
Als letzten wichtigen Punkt darf man nicht vergessen, was in Europa geschehen ist in der Zeit von der Veröffentlichung des Dramas bis zu dem Brief an Schiller aus dem Jahre 1802. Es muss daran gedacht werden, dass am 14. Juli 1789 mit dem Sturm auf die Bastille in Paris die französische Revolution begann. Sie war die erste bürgerliche Revolution in Europa, die eine den Idealen der Aufklärung entsprechende, genauer gesagt eine den Lehren von Voltaire und Rousseau folgende Demokratie an die Stelle der absolutistischen Monarchie setzen wollte. Sie scheiterte spätestens dann, als die Revolutionäre wie so oft übertrieben handelten – gewissermaßen die Ästhetik der Demokratie zur Moral erhoben – und begannen, alle vermeintlichen Gegner der neuen Republik zu verfolgen und zu töten; so musste zum Beispiel Robespierre durch die Hand seiner eigenen Mitrevolutionäre sterben. Mit dem Aufstieg des jungen Leutnants Napoleon, der zuerst Konsul, später Kaiser von Frankreich wurde, war die Revolution zumindest bis zur Julirevolution von 1830 gestoppt.
Nun kann man natürlich nicht behaupten, Johann Wolfgang Goethe hätte politische Schriften zum gewaltsamen Aufstand verfasst. Genauso wenig kann man die „Iphigenie“ ein politisches Stück nennen. Dennoch darf man nicht vergessen, dass an sich eher „harmlose“ Werke wie das vorliegende Drama, die auf vielfache Weise deutbar sind, in den Augen von politisch überzeugten Menschen bis hin zu Fanatikern eine nicht zu unterschätzende Wirkung haben können. Und so kann auch das Drama „Iphigenie auf Tauris“ einen nicht zu verachtenden Effekt auf das Handeln solch überzeugter Personen ausüben, wenn es als Werk verstanden wird, das das Ideal des freien und unabhängigen autonomen Menschen über alles andere stellt.
Es ist durchaus möglich, dass Goethe sich nach der gescheiterten Revolution auch über diesen Punkt Gedanken gemacht und festgestellt hat, dass es vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt war, ein Stück zu schreiben, dass den Sieg der vollendeten Menschlichkeit über die alte Ordnung ankündigt. Denn diese alte Ordnung könnte für einen Teil der Kontakte nach Deutschland pflegenden französischen Intellektuellen hinter der revolutionären Idee allegorisch die heruntergekommene Monarchie dargestellt haben.
Unter Betrachtung der drei vorgestellten Aspekte, also der Trennung von Frau von Stein, der alltäglichen Realität des Volkes und der möglichen Fehlinterpretation des Werks durch revolutionäre Fanatiker kann man nun Goethes Aussage verstehen, die „Iphigenie“ sei „ganz verteufelt human“. Der Dichter befand sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer Art Sackgasse, da für ihn das Werk aus allen Blickrichtungen im Nachhinein falsch erscheinen musste. Entweder hatte er sich zu sehr von Charlotte von Stein leiten lassen oder die Wirklichkeit zu idealistisch wiedergeben oder den falschen Leuten die falschen Ideen geliefert. Dass er diese Zwickmühle als „verteufelt“ empfand, ist also gar nicht verwunderlich, wenn man sich einmal in seine Situation hineinversetzen mag. Goethe war sich zu dieser Zeit natürlich ebenso wenig klar, ob vielleicht noch ein unvorhergesehenes Ereignis, das mit der Iphigenie irgendwie assoziiert werden könnte, diese Zwickmühle noch verschärfen würde. Er wusste nicht, wie es mit dem Werk weitergehen sollte und ob man es überhaupt noch aufführen sollte oder könnte. So schrieb er nämlich am 19.03.1802 an Schiller: „Mit der Iphigenie ist mir unmöglich etwas anzufangen34 “.
Auch wenn er damals also anscheinend weder aus noch ein wusste, so heilte auch bei ihm die Zeit die Wunden. Die Tatsache, dass das Stück die Leute weiterhin ansprach und auch nichts historisch Bedeutsames passierte, wofür man Ideen aus der „Iphigenie“ die Schuld hätte geben können, trug ein Übriges dazu bei. Der Konflikt löste sich spätestens mit der folgenden Widmung aus dem Jahr 1827 an den Schauspieler Krüger, der in einer Aufführung den Orest spielte. Goethe fügte dessen Ausgabe des Dramas einige kurze Verse an, von denen die letzten beiden „in der Wirkungsgeschichte der Iphigenie eine fast kanonische Bedeutung erlangt35 “ haben, da sie erstens noch einmal die Hauptaussage des Dramas vom Triumph der Humanität über alle erdenklichen Schwächen herausstellen und zweitens auch auf die Erlösung aus der persönlichen Zwickmühle, in der Goethe sich jahrelang befunden hatte, hindeuten: Die vollendete und „reine“ Menschlichkeit kann jeden von allem erlösen.
„Was der Dichter diesem Bande Liebevoll verkünd’ es weit:
Glaubend, hoffend anvertraut, Alle menschlichen Gebrechen
Werd’ im Kreise deutscher Lande Sühnet reine Menschlichkeit. “36
Durch des Künstlers Wirken laut.
3. Fazit – Und warum Adornos und Raschs Interpretationen fragwürdig sind
Das Drama „Iphigenie auf Tauris“ ist in vielerlei Hinsicht ein ganz besonderes Werk. Vom Autor selbst und von zeitgenössischen Rezipienten oft wenig beachtet beziehungsweise mit viel Kritik und Ironie versehen, ist es dennoch wie kaum ein anderes Werk ein Sinnbild der Klassik und der Zeit in Weimar.37 Bis heute hat sich am Bekanntheitsgrad des Stückes nicht viel geändert – fragt man Menschen auf der Straße, kennt es im Prinzip niemand.38 Die Literaturwissenschaft beschäftigt sich jedoch weiterhin intensiv mit dem Schauspiel, das für die Goethe-Forschung wohl unerlässlich ist, weil es seinen Eindruck vom Ende des 18. Jahrhunderts und seine Ideen von einer besseren Welt zeigt.
In dieser Facharbeit ist, wie im Vorwort angekündigt, Goethes Beziehung zur „Iphigenie auf Tauris“ in den Mittelpunkt gerückt worden, nachdem aus der Analyse des Parzenliedes und des Dramas der Begriff „Humanität“ auf der Grundlage der Beziehung zwischen Menschen und Göttern erläutert wurde.
Dabei wurden die Interpretationen von Wolfdietrich Rasch und Theodor W. Adorno angesprochen, wobei einer deren Ansätze ist, Goethe habe die Humanität der Aufklärung kritisiert oder sich gar nicht mit ihr beschäftigt. Ich halte diese Aussagen nach reiflichen Überlegungen zu den historischen Umständen und zur Verarbeitung des Humanitätsbegriffs im zugrunde liegenden Drama nach wie vor für fragwürdig. Johann Wolfgang Goethe hat in der „Iphigenie“ meiner Meinung nach wenig bis keinerlei Kritik an der Humanität geübt. Ebenso glaube ich gezeigt zu haben, dass die Humanität sehr wohl Thema des Dramas ist. Allein die Tatsache, dass Charlotte von Stein als Vorbild für die Figur der Iphigenie zu sehen ist, lässt die erste Behauptung absurd erscheinen. Kritik an der Humanität auszusprechen hieße nämlich für Goethe, seine langjährige Freundin zu diskreditieren. Und das wage ich ihm nicht zu unterstellen.
Vielmehr stellt er die Humanität als eine Eigenschaft oder Fähigkeit dar, die jeder Mensch erreichen kann, auch wenn sie ihm nicht unbedingt angeboren ist. Ihr ist es zu verdanken, dass der Mensch sich nicht länger durch Rebellion profilieren muss, sondern im Einklang mit den Göttern und allen anderen Menschen eine neue Stufe der Existenz betreten kann.
Selbstverständlich ist diese Vorstellung eine Utopie, die weder Bezug zur Realität des ausgehenden 18.Jahrhunderts noch zur heutigen hat. Und dennoch ist das Iphigeniendrama keine Kritik an den Ideen der Aufklärung, auch wenn einem dieser Gedanke kommen mag. Ich könnte mir eher vorstellen, dass Johann Wolfgang Goethe den Idealzustand der menschlichen Existenz beschreiben wollte, nach dem alle Menschen streben sollten, wie weit der Weg dorthin auch sein möge.
4. Literaturverzeichnis
Goethe: Textausgaben; Ausgaben mit Materialien; Biografien
Goethe, Johann Wolfgang: „Iphigenie auf Tauris“. Reclam Universalbibliothek Nr.83, Stuttgart 1970.
Goethe, Johann Wolfgang: „Faust: Der Tragödie Erster Teil“. Reclam Universalbibliothek Nr.1/1a, Stuttgart 1968.
Goethe, Johann Wolfgang / May, Kurt (Einführung): „Sämtliche Werke / Band 6: Die Weimarer Dramen“. Artemis-Verlags-AG, Zürich 1954. 2.Auflage 1961-1966.
Biermann, Heinrich / Schurf, Bernd: „Texte, Themen und Strukturen. Grundband Deutsch für die Oberstufe“. Cornelsen Verlag, Berlin 1993.
Wahler, Benedikt: „Goethe – Eine Biografie“. http://www.fortunecity.de/lindenpark/ goethe/1/goethdbio.htm.
“Äußerungen Goethes zur ‘Iphigenie auf Tauris’”, http://www.chraugustin.de/texte/ Deutsch/de-Äußerungen Goethes zur Iphigenie.doc.
Sekundärliteratur
Geisenhanslüke, Achim: „Goethe, Iphigenie auf Tauris: Interpretation / von Achim Geisen-hanslüke“. Oldenbourg Verlag, München 1997.
Müller, Udo: „Lektürehilfen / Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris / von Udo Müller“. Ernst Klett Verlage, Stuttgart 1988.
5. Anhang
Das Parzenlied aus „Iphigenie auf Tauris“ 3
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Prometheus
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Umfrage (in Lingen (Ems)): „Welche Werke von Johann Wolfgang von Goethe kennen Sie?“ (Mehrfachnennungen möglich)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
6. Eidesstattliche Erklärung
Hiermit versichere ich, dass diese Facharbeit von mir selbstständig und nur unter Verwen-dung der angegebenen Hilfsmittel angefertigt wurde.
Alle Stellen, die wörtlich oder sinngemäß aus veröffentlichten oder unveröffentlichten Schriften entnommen sind, habe ich als solche gekennzeichnet. Dies bestätige ich durch meine Unterschrift.
Der Verfasser
[...]
1 http://www.chraugustin.de/
2 Ebd.
3 Alle folgenden Versangaben und -zitate beziehen sich auf „Goethe: Iphigenie auf Tauris“, Stuttgart 1970
4 Vgl. Goethe 1954, S. 1160
5 Geisenhanslüke, S.55.
6 Geisenhanslüke, S.57.
7 Goethe 1954, S.1161
8 Vgl. Zompro, Andreas: „Das Schwarze Netz“, http://www.sungaya.de/schwarz/romer/parcae.htm
9 Vgl. Geisenhanslüke, S.57
10 Geisenhanslüke, S.59
11 Geisenhanslüke, S.59
12 Ebd.
13 Vgl. Geisenhanslüke, S.59
14 Geisenhanslüke, S.59
15 Vgl. Geisenhanslüke, S.60
16 Vgl. Müller, S.70/71
17 Vgl. u.a. Geisenhanslüke, S.10
18 Vgl. Geisenhanslüke S.11-14
19 Vgl. Müller, S.50
20 Goethe 1954, S.1153
21 Vgl. Goethe 1954, S.1157
22 Goethe 1954, S.1166
23 Goethe 1954, S. 1154
24 Goethe 1954, S.1166
25 Vgl. Geisenhanslüke, S.20
26 Ebd., S.21
27 Rasch, Wolfdietrich: „Goethes Iphigenie auf Tauris als Drama der Autonomie“, München 1979
28 Geisenhanslüke, S.21
* Vgl. u.a. Mannott, Kim: „Sturm und Drang als Gegenbild zur Aufklärung“ - Facharbeit im Deutsch- Leistungskurs des Gymnasiums Georgianum, Schuljahr 1999/2000
• J.W. Goethe: „Faust“, V.285-286
29 Biermann/Schurf, S.188, V.15-21 (s. auch Anhang)
30 Vgl. Geisenhanslüke, S. 58
31 Goethe 1954, S. 1150
32 Wahler, Benedikt
33 Müller, S. 6
34 http://www.chraugustin.de/
35 Geisenhanslüke, S.91
36 Geisenhanslüke, S.93
37 Vgl. Müller, S.5
38 Umfrage s. Anhang
- Arbeit zitieren
- Gregor Roßwinkel (Autor:in), 2003, Goethe, Johann Wolfgang von - Parzenlied und Iphigenie auf Tauris - "Ganz verteufelt human" - Goethes Parzenlied und Iphigenie auf Tauris im Licht der Humanität der Aufklärung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108020
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