In dieser Hausarbeit werde ich das Stück „Die Humanisten“ von Ernst Jandl (1976) und die Erzählung „Das Gebell“ von Ingeborg Bachmann (1971) miteinander vergleichen.
Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Texte nicht viel gemeinsam zu haben. „Die Humanisten“ ist ein Theaterstück, von Ernst Jandl als Konversationsstück bezeichnet. Schon dieser Terminus deutet an, dass es in diesem Stück in besonderem Maße auf die Sprache ankommt, da die Bezeichnung "Stück" allein ja auch schon Konversation vorausgesetzt hätte. "Zweifellos rangiert auch in den Humanisten das Sprechen vor den anderen theatralischen Ausdrucksmitteln.“ Die Sprache, die die Personen des Stückes verwenden, ist in einer Weise verfremdet, die bestimmte Deutungen hinsichtlich der Intention des Stückes zulässt. Die Hauptpersonen des Stückes sind zwei Männer, die sich miteinander unterhalten. Eine Frau und ein dritter Mann kommen nur als Randfiguren vor. Ich bin der Meinung, dass Ernst Jandl nicht nur mit der verwendeten Sprache, sondern auch mit dem im Stück gezeigten Männerbild die Intention verfolgt, Kritik an der traditionalistischen Einstellung vieler seiner Zeitgenossen zu üben.
"Das Gebell" von Ingeborg Bachmann ist eine Prosaerzählung. Diese ist eingebunden in einen Zyklus von Prosaerzählungen, den Prosaband Simultan, in dem es durchgehend um die Rolle der Frau geht. Die Hauptpersonen sind also diesmal zwei Frauen, die in Beziehung zu einem Mann stehen, nämlich dem Sohn bzw. Ehemann. Auch Ingeborg Bachmann präsentiert in dieser Erzählung ein ganz bestimmtes Männerbild und kritisiert eine Gesellschaft, in der Frauen Opfer sind.
Beide Stücke haben eine ähnliche Intention: die Kritik an einer Gesellschaft, die dargestellt wird durch ein ganz bestimmtes Männerbild. Und doch haben beide Stücke eine ganz unterschiedliche Wirkung auf den Leser. Während "Die Humanisten“ Heiterkeit auslöst, fühlt der Leser von „Das Gebell“ eine starke Beklemmung.
Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede werde ich im Folgenden herausarbeiten und zu begründen versuchen.
1. Vorbemerkung
In dieser Hausarbeit werde ich das Stück „die humanisten“ von Ernst Jandl (1976) und die Erzählung „Das Gebell“ von Ingeborg Bachmann (1971) miteinander vergleichen.
Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Texte nicht viel gemeinsam zu haben. „die humanisten“ ist ein Theaterstück, von Ernst Jandl als Konversationsstück bezeichnet. Schon dieser Terminus deutet an, dass es in diesem Stück in besonderem Maße auf die Sprache ankommt, da die Bezeichnung „Stück“ allein ja auch schon Konversation vorrausgesetzt hätte. „Zweifellos ran-giert auch in den Humanisten das Sprechen vor den anderen the-atralischen Ausdrucksmitteln.“[1] Die Sprache, die die Personen des Stückes verwenden, ist in einer Weise verfremdet, die be-stimmte Deutungen hinsichtlich der Intention des Stückes zu-lässt. Die Hauptpersonen des Stückes sind zwei Männer, die sich miteinander unterhalten. Eine Frau und ein dritter Mann kommen nur als Randfiguren vor. Ich bin der Meinung, dass Ernst Jandl nicht nur mit der verwendeten Sprache, sondern auch mit dem im Stück gezeigten Männerbild die Intention ver-folgt, Kritik an der traditionalistischen Einstellung vieler seiner Zeitgenossen zu üben.
„Das Gebell“ von Ingeborg Bachmann ist eine Prosaerzählung. Diese ist eingebunden in einen Zyklus von Prosaerzählungen, den Prosaband Simultan, in dem es durchgehend um die Rolle der Frau geht. Die Hauptpersonen sind also diesmal zwei Frauen, die in Beziehung zu einem Mann stehen, nämlich dem Sohn bzw. Ehemann. Auch Ingeborg Bachmann präsentiert in dieser Erzäh-lung ein ganz bestimmtes Männerbild und kritisiert eine Ge-sellschaft, in der Frauen Opfer sind.
Beide Stücke haben eine ähnliche Intention: die Kritik an ei-ner Gesellschaft, die dargestellt wird durch ein ganz bestimm-tes Männerbild. Und doch haben beide Stücke eine ganz unter-schiedliche Wirkung auf den Leser. Während „die humanisten“ Heiterkeit auslöst, fühlt der Leser von „Das Gebell“ eine starke Beklemmung.
Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede werde ich im folgenden herausarbeiten und zu begründen versuchen.
2. Ernst Jandl – „die humanisten“
Dass es in dem Stück „um die Auseinandersetzung mit kulturel-ler Tradition, vor allem um die repräsentativen und konserva-tiven österreichischen Kulturinstitutionen“[2] geht, zeigt sich schon an Ernst Jandls Vorschlag für das Bühnenbild, das nach Art einer Ansichtspostkarte österreichische Denk- und Sehens-würdigkeiten wie Burgtheater und Staatsoper zeigen soll.[3] Die Hauptpersonen in „die humanisten“ sind zwei Männer, die mit m1 und m2 betitelt sind. Die Tatsache, dass sie keine Namen be-kommen, weißt schon darauf hin, das hier eine Verallgemeine-rung intendiert ist. „Die Subjekte, die hier sprechend han-deln, tun dies weniger als Individuen denn als Rollenträger.“[4] Auch unterscheiden sich die beiden kaum durch äußerliche Merk-male. Ernst Jandl geht so weit zu sagen, „beide seien im Grun-de eins, ein für die Zwecke dieses Stückes in zwei Figuren ge-spaltener Einziger“[5]. Sie unterscheiden sich nur durch ihre Be-rufe, m1 ist ein Universitätsprofessor, m2 ein Künstler. „ahnenfangen! ahnenfangen!“ (H 4) – schon die ersten Worte, die m1 spricht, sind programmatisch für das ganze Stück. „Der Imperativ „Anfangen!“ erhält in der Erweiterung zu „Ahnenfang-en!“ eine differenziertere Satzstruktur mit Objekt und „tiefe-rer Bedeutung“, die zu dem traditionskritischen Impetus des Stückes vorzüglich passt.“[6] Denn Traditionalisten tun nichts anderes, als ihre „Ahnen zu fangen“, wenn sie allem Alten, Traditionellen hinterher jagen.
Doch nicht nur die inhaltliche Komponente, zeigt sich in die-sen Worten. Der Zuschauer bekommt auch einen ersten Eindruck von der verwendeten Sprache. Die immer wieder kehrenden Merk-male dieser Sprache zeigen sich freilich noch deutlicher im nächsten Satz: „ich hier sein/ damit sein ein stücken.“ (H 4): Verbformen werden nicht flektiert, es gibt nur den Infinitiv; die Substantive werden durch das Morphem –en erweitert, was zu einer Art „Überreflexion“ führt; wo die Endung –en legitim wäre, z.B. im Plural, wird sie durch ein –ä ersetzt („humanis-tä“ (H 8)); es wird auf den Umlaut verzichtet, und auch Adjek-tive werden nicht flektiert („groß kunstler“ (H 5)). Diese Sprache wirkt auf den Leser wie eine Kindersprache. Sie ist sehr reduziert, hält sich aber dennoch strikt an die wenigen vorgegebenen Regeln. Vor allem die Verwendung des Infinitivs erzeugt zunächst den Eindruck, man habe es hier mit einer Art „Gastarbeiterdeutsch“ zu tun, aber „vom Gastarbeiterdeutsch unterscheide[t] sich die Sprache der Humanisten [...] durch ein außerordentlich differenziertes Lexikon und die Verwendung komplizierter syntaktischer Muster.“[7]
Die Verwendung einer solchen Sprache wirkt im Vergleich zu dem, was die beiden Hauptpersonen inhaltlich sagen, besonders grotesk. Im ersten Monolog, den m1 hält, identifiziert er sich mit seiner „schön deutsch sprach“ (H 4), preist sie als die einzig wahre, als die Sprache der Bühne, des Burgtheaters. Nur ist die Sprache, die er dabei spricht, natürlich keineswegs die der Theaterbühne.
Nicht nur durch die besondere Grammatik der Sprache, sondern auch durch ihre besondere Verwendung parodiert Jandl die bei-den Sprecher. Denn das Stück heißt zwar Konversationsstück, jedoch findet wirkliche Konversation kaum statt. „Jeder Ansatz zu einem leichten Gespräch wird –mit wenigen Ausnahmen- in seiner Entfaltung aufgehalten: Ständige Wortwiederholungen, Assoziationen an das vorher gesagte, Echo-Effekte erlauben noch nicht einmal,[!] dem Reden um des Redens willen in Gang zu kommen.“[8] Dies kommt auch zum Tragen, als sich m1 und m2 einander vorstellen. Sie versuchen sofort, sich gegenseitig mit akademischen Titeln zu überbieten, was bis ins Lächerliche gesteigert wird, wenn schließlich nur noch Titel aneinanderge-hängt werden („ich sein ein nobel preisen universitäten pro-fessor kapazität von den deutschen geschichten“ (H 5)). Die beiden können sich dann aber darauf einigen, dass sie Nobel-preisträger sind. Daraufhin geben beide noch einen Beweis ih-rer jeweiligen Kunst, der Historiker, indem er einen national-sozialistischen Spruch gegen einen österreichischen Politiker zitiert und der Künstler, der ein Goethe-Gedicht von sich gibt[9]. Hier wird ein Männerbild vorgestellt, dem es nur um ge-sellschaftliche Titel geht.
Die beiden Männer sind völlig von sich und von ihrer öster-reichischen Kultur überzeugt. Doch immer, wenn sie etwas davon mit großen Worten preisen wollen, wird dies durch die verfrem-dete Sprache zu einer Parodie („burgentheatern! operan! schu-ber und brahmst! (H 7)). „All dies emblematisch Beschworene kehrt im Text beschädigt, angekratzt wieder.“[10]
Die Männer fühlen sich als eine Elite, sie selbst haben ihrer Meinung nach als einzige einen Kunstverstand und nur sie selbst können entscheiden, was Kunst und Kultur ist („modenli-teraturen sein kulturenschanden“ (H 10)). „Beide Herren sind ‚Besitzer’ der Tradition, die sie bis zum letzten Atemzug ver-teidigen.“[11]
Doch ein so festgefahrenes Weltbild wie die beiden Männer es haben, fordert immer Opfer. Sie suchen sich ein Feindbild, um alles, was den Konsens stören könnte, darauf abzuwälzen. „Als ‚Opfer’ bietet sich die Frau an.“[12] Als eine schwangere Frau auftaucht und die beiden Männer um Hilfe bittet –sie möchte eine Abtreibung vornehmen-, wird sie von den beiden heftig beschimpft und fortgejagt. Schon durch ihre Sprache ist diese Frau anders, sie hat nämlich einen Sprachfehler und wird da-durch zum Fremdkörper, zum Feind. Für die beiden Männer passt eine Frau –und schon gar eine unverheiratete schwangere- nicht in ihr Bild von der von Männer beherrschten Welt. „Daß es eine schwangere Frau ist, ist so bedeutsam: an ihr ist das Frau-Sein –das Anders-Sein also- sichtbar ausgestellt.[13] Und dass sie eine Abtreibung vornehmen möchte –ein großes Streitthema in den 70er Jahren- macht sie nur noch angreifbarer, da sie sich hier der Meinung der Konservativen und der Kirche widersetzt, indem sie selbst entscheiden will, was mit sich und ihrem Kind geschieht. „Durch ihre zur Schau getragene Sexualität verkörpert sie eine Zielscheibe für die soziale Zensur, die ihre Legitimierung von ‚unantastbaren’ Autoritäten bezieht: Kirche, Kultur, Vaterland.“[14] Und Letztere liegen m1 und m2 sehr am Herzen. Die Mitgliedschaft in einer christlich-konservativen Partei erscheint ihnen selbstverständlich. Eben-falls wichtig ist ihnen die Nähe zur Kirche, wobei sie wiede-rum versuchen sich in Bezug auf Kirchentreue gegenseitig zu überbieten, während Nicht-Christen schon fast den Status von Kranken bekommen („um gottes willen du nicht sollen denken an atheisten“ (H 10)). Da m1 und m2 allerdings nach ihrem Ge-spräch über die Kirche sofort das Thema Puff ansprechen, wird die Heuchelei der beiden deutlich.
An einer Stelle kommt es zwischen den beiden Protagonisten zum Streit. Als m1 bei einem Vortrag über Kosmos und Wissenschaft ins Stocken gerät, macht sich m2 über ihn lustig und es kommt zu Handgreiflichkeiten („kopfenstücken“, „fußentritten“ (H 12)) und zum Ausspielen von Wissenschaft gegen Kunst. Doch die Verbrüderung folgt auf dem Fuße, da die beiden die Meinung der „barbarenvolken“ (H 13) fürchten. „Nach der momentanen Panne aber setzt sich die Sprachmaschinerie wieder in Gang, ange-trieben durch ein Elite-Bewußtsein, das Widersprüche verkit-tet.“[15]
Bemerkenswert ist auch der Schluss des Stückes. Als ein ver-meintlicher Terrorist das Burgtheater sprengen will, wollen m1 und m2 ihn aufhalten und werden dabei erschossen. Nach dem Tod beider erscheint m3 (wieder kein Name), und befiehlt, die bei-den an der Stadtmauer aufzuhängen, weil sie die deutsche Spra-che besudelt haben. So wird zwar die eine Generation dieser traditionalistischen Gesellschaft ausgerottet, was jedoch da-nach kommt, ist genauso (sprach-)deformiert wie vorher, denn auch m3 bedient sich der gleichen verfremdeten Sprache wie m1 und m2. „In dieser ironischen Schlussszene hebt eine neue Macht diese Tradition auf. Der ‚Vernichter des Bisherigen’ ist allerdings ‚diesem in der Diktion zum Verwechseln ähnlich.’“[16]
„Ich sehe die Humanisten als eine Art Endspiel: es kommt nichts nachher. Wer Humanist ist wie diese beiden, an dem gibt es nichts zu verändern, er bleibt’s bis zum Tod. Und daß er es bleibt, ist zu zeigen, in dem sein Weg bis zum Tod gezeigt wird.“[17]
3. Ingeborg Bachmann – „Das Gebell“
Die Hauptpersonen in „Das Gebell“ sind zwei Frauen, nämlich eine alte Frau, die alte Frau Jordan und ihre Schwiegertoch-er, die junge Frau Jordan, Franziska. Der Sohn bzw. Ehemann ist der berühmte Psychiater Leo Jordan.
Leos Charakter ist von Egoismus und Kaltherzigkeit geprägt. Dies erfährt man mittelbar durch die Gespräche, die die beiden Frauen miteinander führen. „Jordans Egomanie [...] zeigt sich [...] an äußeren Kleinigkeiten, die einzeln betrachtet gering-fügig sein mögen, die insgesamt jedoch deutlich machen, daß Jordan seine Mutter gezielt vernachlässigt und unter Druck setzt.“[18] Schon im Prolog wird dies deutlich. Denn die alte Frau Jordan lebt in einer „verlotterten Villa“[19] und bekommt von ihrem Sohn nur 1000 Schilling im Monat, die „an Wert ver-loren hatten“ (G 13), was zeigt, wie wenig ihm seine Mutter am Herzen liegt, da der Eindruck entsteht, als habe er bei seiner Bank nur einmal einer Dauerüberweisungsauftrag gegeben und sich danach nie wieder darum gekümmert. Er besucht sie auch nie, weil er „absolut nicht wußte, worüber er mit seiner fünf-undachtzigjährigen Mutter reden sollte“ (G 14). Die alte Frau Jordan jedoch bleibt in ihrer Bewunderung für ihren Sohn ge-fangen („aber der Leo ist halt ein so guter Sohn!“ (G 13)). „So begibt sie sich auch in gesellschaftliche Isolation, weil sie mit Rücksicht auf ihren berühmten Sohn nur noch mit Akade-mikern verkehren will.“[20]
In ihrer Furcht vor dem Sohn flieht die alte Frau mehr und mehr aus der Realität. Es wird deutlich, dass sie sich immer mehr in die Vergangenheit zurückzieht. Die Sprache der alten Frau ist der Vergangenheit verhaftet[21], wovon der Erzähler sich seinerseits abgrenzt, indem er sie durch Anführungszeichen markiert: Franziska bringt ihr immer Delikatessen mit, weil sie weiß, dass die alte Frau Jordan Wert darauf legt, „etwas zum >>Aufwarten<< zu haben“ (G 13). „Frau Jordan lebt am Rande der Welt und außerhalb der gegenwärtigen Zeit.“[22] In den Ge-sprächen mit Franziska erzählt sie hauptsächlich von früher, vor allem von ihrer Zeit als Gouvernante in einer griechischen Familie. Franziska hat hier „die erste Ahnung, daß dieser Kiki <das Kind der griechischen Familie> der alten Frau mehr bedeu-tet haben mußte als Leo“ (G 20), denn Leo bezeichnet sie als „kompliziertes Kind“ (G 14). Hierin begründet sich auch die Furcht der alten Frau Jordan vor ihrem Sohn. Sie hat Schuldge-fühle ihm gegenüber. „Sie beeinträchtigen das Mutter-Sohn-Ver-hältnis und haben eine tiefgründige Angst vor der Rache ihres Sohnes zur Folge, seinem grenzenlosen Hass auf sie.“[23] „Kann man so die Negativeigenschaften Dr. Jordans zumindest partiell auf mangelnde Mutterliebe zurückführen, wäre ja gerade sein Beruf ein Anlaß zu einer Bewältigung dieses Problems.“[24]
Besonders deutlich wird die Grausamkeit Leos, als die Alte von ihrem Hund Nuri[25] erzählt. Diesen hat sie weggegeben, weil er Leo wütend anzubellen pflegte. Das Bellen des Hundes Nuri steht dabei für die Auflehnung der alten Frau gegen die Auto-rität ihres Sohnes. „Die Mutter hingegen lebt in einer zuneh-menden Wahnwelt, die Negativeigenschaften ihres Sohnes, die sie verdrängt, kommen als Wahnvorstellung wieder.“[26] Im Laufe der Erzählung fängt die alte Frau an, immer wieder das Bellen des Hundes Nuri zu hören. Diese Wahnvorstellungen zeigen ihre Ohnmacht, aber auch ihre Protesthaltung ihrem Sohn gegenüber. „In diesem potenzierten Gebell vieler Hunde könnte sich ein Protest gegen Leo und gegen das vergangene verbitterte Leben artikulieren.“[27] Das eingebildete Gebell schützt sie vor der Furcht vor ihrem Sohn. Als er sie später einmal besucht, ist sie „so eingekreist von dem Gebell und einem sehr sanften, sanften Schrecken, daß sie sich vor ihrem Sohn nicht mehr fürchtete. Die Furcht eines ganzen Lebens wich auf einmal aus ihr“ (G 30).
„In ‚Das Gebell’ wird als Möglichkeit der Flucht vor der Rea-lität ihre Uminterpretation vorgestellt.“[28] Auch Franziska be-wundert ihren Mann über alle Maßen. „Der dornenreiche, leid-volle Aufstieg eines genialen Arztes war schon Franziskas Re-ligion zu der Zeit“ (G 19) und die Besuche bei der alten Frau Jordan sind ein „Liebesbeweis“ (G 19) von ihr.
Die beiden Frauen kommen sich in Gesprächen –zunächst nur über Leo- näher. Doch sie sind nicht in der Lage, sich gegenseitig über Leos Charakter aufzuklären. Allerdings wird Franziska durch die Gespräche mit der alten Frau Jordan mit der Zeit klar, dass etwas nicht stimmen kann. „Franziska beginnt den Mann, dem sie sich als junge und fröhlich Frau anvertraut hat, zu fürchten.“[29] Sie erkennt im Laufe der Erzählung allmählich, Leos wirklichen Charakter und entwickelt Angst vor ihm. („Sie entdeckte, dass er sie schon dermaßen eingeschüchtert hatte, daß sie sich fürchtete vor ihm.“ (G 24)) Ihr „in einem Anfall von ihrem alten Mut“ (G 24) gemachter Vorschlag, die alte Frau Jordan zu sich und Leo zu nehmen, wird von Leo als lächerlich abgetan. Den entscheidenden Erkenntnisaugenblick aber hat Franziska, als die alte Frau von ihrem Hund erzählt. „Das also ist es, das ist es, sie hat ihren Hund für ihn weggegeben. Was sind wir für Menschen, sagte sie sich – denn sie war unfähig zu denken, was ist mein Mann für ein Mensch!- wie gemein sind wir doch, und sie hält sich für eine Egoistin, während wir al-les haben!“ (G 27) „Franziska erkennt die Selbstlosigkeit der alten Frau Jordan und ihre eigene Mitschuld und Unfähigkeit, Leo für sein niederträchtiges Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen.“[30] Offenbar bekommt jedoch Franziska diese Erkenntnis nicht gut. Im weiteren Verlauf der Geschichte erfährt der Le-ser nur andeutungsweise, was mit ihr geschieht. Ein Telefonat mit der alten Frau Jordan von ihrer Familie aus und die Tat-sache, dass Leo später seiner Mutter gegenüber eine neue Frau erwähnt lassen den Schluss zu, dass sie sich von Leo getrennt hat.
Der Schluss der Erzählung führt dem Leser noch einmal in be-sonderer Weise die Kaltherzigkeit Leos vor Augen. Denn wie sich zeigt, geht die Vernachlässigung seiner Mutter sogar über ihren Tod hinaus. Es wird beschrieben, wie Franziskas Bruder zwei Jahre nach ihrem Tod eine Rechnung eines Taxiunternehmens für Taxifahrten der alten Frau Jordan erhält, die offenbar auch schon tot ist, doch das sind nur Vermutungen des Bruders. Es zeigt, dass Leo sich nicht einmal nach dem Tod seiner Mut-ter um ihre Angelegenheiten gekümmert hat. Und auch die Ein-samkeit der alten Frau wird deutlich, wenn die Taxifahrten –ihr einziger Luxus- von einem Wildfremden bezahlt werden. Auch das Schicksal von Franziska berührt den Leser. Es wird zwar nicht genau beschrieben, woran sie stirbt, aber ihr früher, plötzlicher Tod deutet auf einen Selbstmord hin. Auch dies lässt Leo Jordan in einem wirklich schlechten Licht er-scheinen.
Doch nicht nur die beiden Frauen sind Opfer von Leo Jordan. „Offenbar hat er es immer verstanden, andere Menschen auszu-nutzen.“[31] Seinen Vetter Johannes, der ihm das Studium bezahlt hat, beschimpft er als „Schmarotzer“ (G 17), obwohl er das ja eigentlich viel eher wäre. Johannes ist homosexuell und war während des Kriegs deswegen im KZ. Weil das jedoch damals Leos Ruf geschadet hätte, „ist anzunehmen, dass Jordan den Vetter verleugnet oder ihn wahrscheinlich sogar denunziert hat.“[32] Dies kann man aber nur aus Andeutungen der alten Frau Jordan schließen. Leos Zynismus wird besonders deutlich, als der Le-ser den Titel seines Forschungsprojektes sieht, nämlich „Die Bedeutung endogener und exogener Faktoren beim Zustandekommen von paranoiden und depressiv gefärbten Psychosen bei ehemali-gen Konzentrationslagerhäftlingen und Flüchtlingen“ (G 22). Auch seine erste Frau, die ihm finanziell geholfen hat, als er noch ein junger Arzt war, wird von ihm schlecht gemacht und als „preziöses Fräulein“ (G 19) beschimpft. „Für diese Men-schen, die ihm geholfen haben oder von denen er abhängig war, empfindet er Haßgefühle und verdrängt deren Bedeutung für sei-ne Karriere, indem er sie herabsetzt und an dem Mythos seiner schweren Jugend und seines schwer erkämpften Aufstiegs fest-hält.“[33]
Was all diese Geschehnisse noch erschreckender macht, ist die Tatsache, dass die beiden Frauen Leo dieses Verhalten erst er-möglichen. Denn die Frauen sind nicht nur die Opfer von Leo Jordan, sie versuchen auch noch, ihn vor sich selbst zu be-schützen, indem sie die Wirklichkeit verleugnen.[34] So schützt die alte Frau Jordan dadurch, dass sie behauptet, Leo sei ja so gut zu ihr, nicht nur sich selbst, sondern auch Leo, für dessen Ruf es sehr schädlich wäre, wenn bekannt würde, wie er seine eigene Mutter behandelt.
„Durch ihre innere Wesensverwandschaft und die Ähnlichkeit ihres Verhaltens gegenüber Leo erweisen sich beide Frauen als Vertreterinnen des gleichen, nur durch Alter und äußere Le-bensumstände voneinander unterschiedenen Opfertyps.“[35] Dies deutet wiederum auf eine Verallgemeinerung hin. Ingeborg Bach-mann übt hier Kritik an einer von Männern beherrschten Gesell-schaft, in der Frauen unterdrückt werden.
4. Ergebnisse
Ich habe nun beide Texte ein wenig genauer beleuchtet. Beide üben Kritik an einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Frauen von den Männer verachtet und unterdrückt werden.
Die Wirkung der beide Texte auf den Leser ist jedoch völlig unterschiedlich: „die humanisten“ ist eine Parodie auf die traditionalistische Gesellschaft. Die Protagonisten wirken deshalb lächerlich, weil die benutzte Sprache, die zunächst wie eine Kindersprache und somit degradiert klingt in so gro-ßer Diskrepanz zu der totalen Überheblichkeit und Selbstver-liebtheit der beiden Hauptpersonen steht.
„Das Gebell“ hat auf den Leser eine eher beklemmende Wirkung. Das liegt an einer sehr distanzierten, vollkommen ironiefreien Erzählweise. Es werden nur die Tatsachen geschildert und diese für sich allein sind schon erschreckend genug. Was in besonde-rem Maße die Beklemmung auslöst, ist, dass an vielen Stellen, an denen der Erzähler Leerstellen lässt, also nicht genau er-zählt, was passiert, der Leser selbst diese Lücken füllen und Schlussfolgerungen ziehen muss. Dadurch entsteht eine Invol-viertheit in den Text, die in besonderem Maße Empathie er-zeugt.
In „Das Gebell“ treibt die männliche Hauptperson Leo Jordan seine Mutter in den Wahnsinn und seine Frau in den (vermut-lichen) Selbstmord. „Bachmanns Erzählung ist [...] ein Plädo-yer für [...] die Bewusstmachung und Überwindung von Restbe-ständen der obsoleten patriarchalischen Familienideologie des bürgerlichen Zeitalters im Bewusstsein der Frau.“[36]
In „die humanisten“ wird dies an der schwangeren Frau deutlich gemacht, die von den Hauptpersonen als „terroristä“ (H) und somit als Störfaktor in ihrer heilen österreichischen Kultur-Welt betrachtet wird. „Die Frau steht stellvertretend für alle anderen ‚Opfer’ der im Stück denunzierten Repression in huma-nistischer Verkleidung.“[37] In dieser Hinsicht geht Jandl in seinem Stück weiter als Bachmann, da sein Stück verallgemei-nernd für jegliche Art von Repression steht.
[...]
[1] Sauder, Ernst Jandl „Stücke“, S.451.
[2] Sauder, Ernst Jandls „Stücke“, S.449.
[3] Vgl. Jandl, die humanisten, S.4. Im folgenden werden Zitate anhand der Sigle „H“ nachgewiesen.
[4] Haag/Wiecha: Konversation auf Abwegen, S.117.
[5] Jandl, Anmerkungen, S.348.
[6] Sauder, Ernst Jandl: Die Humanisten, S.104.
[7] Sauder, Ernst Jandls „Stücke“, S.451.
[8] Sauder, Ernst Jandl: Die Humanisten, S.106.
[9] vgl. Sauder, Ernst Jandl: Die Humanisten, S.106.
[10] Schmidt-DenglerHumanisten und/oder Terroristen, S.27.
[11] Sauder, Ernst Jandl: Die Humanisten, S.108.
[12] Haag/Wiecha, Konversation auf Abwegen, S. 119.
[13] Ebd., S.119.
[14] Ebd., S.119.
[15] Ebd., S.119.
[16] Sauder, Ernst Jandls „Stücke“, S.450.
[17] Jandl, Anmerkungen, S.348f.
[18] Schneider, Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S.341.
[19] Bachmann, Gebell, S.13. Im folgenden werden Zitate anhand der Sigle „G“ nachgewiesen.
[20] Schneider, Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S.343.
[21] vgl. Schneider, Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S.345.
[22] Mauch, Ingeborg Bachmanns Erzählband Simultan, S.281.
[23] Shieh, Ingeborg Bachmanns Erzählkunst, S.105.
[24] Schmid-Bortenschlager, Frauen als Opfer, S.89.
[25] Lat. „nurus“ bedeutet soviel wie „Schwiegertochter“, aber auch „junge Frau“, womit sowohl auf Franziska, als auch auf Frau Jordan in ihrer Jugendzeit als Gouvernante angespielt sein könnte, vgl. Schneider, Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S.350.
[26] Schmid-Bortenschlager, Frauen als Opfer, S.89.
[27] Shieh, Ingeborg Bachmanns Erzählkunst, S.106.
[28] Schmid-Bortenschlager: Frauen als Opfer, S.88.
[29] Bannasch, Von vorletzten Dingen, S.54.
[30] Beicken, Ingeborg Bachmann, S.207.
[31] Thau, Gesellschaftsbild und Utopie, S.27.
[32] Ebd., S. 28.
[33] Ebd., S. 27.
[34] vgl. Schmid-Bortenschlager, Frauen als Opfer, S.86.
[35] Albrecht/Göttsche, Bachmann-Handbuch, S. 166.
[36] Albrecht/Göttsche, Bachmann-Handbuch, S.166.
[37] Haag/Wiecha, Konversation auf Abwegen, S.119.
- Arbeit zitieren
- Leonie Hagelberg (Autor:in), 2003, Ernst Jandl "die humanisten" und Ingeborg Bachmann "Das Gebell" - ein Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107988
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