Die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema in Deutschland geworden. Angesichts der Vielfalt der Einwanderungsgeschichte und der aktuellen gesellschaftlichen Realitäten ist die Frage nach dem Zusammenleben von Deutschen und Ausländern von großer Bedeutung für die Zukunft des Landes. In diesem Kontext wird die multikulturelle Gesellschaft sowohl von Befürwortern als auch von Kritikern kontrovers diskutiert, da sie grundlegende Fragen der Identität, Integration und des sozialen Zusammenhalts aufwirft.
Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser Diskussion und setzt sich zum Ziel, verschiedene Aspekte der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland zu beleuchten. Dazu werden zunächst Hintergrundinformationen zur Einwanderungsgeschichte Deutschlands sowie zu den Ursachen und Problemen der Einwanderung dargelegt. Diese bilden die Grundlage für das Verständnis der aktuellen Situation und der damit verbundenen Herausforderungen.
Im Anschluss werden unterschiedliche Vorstellungen vom Zusammenleben von Deutschen und Ausländern präsentiert, wobei insbesondere auf das Konzept der Leitkultur und die Argumente für oder gegen eine kulturelle Assimilation eingegangen wird. Dabei werden die verschiedenen Positionen und Argumentationslinien kritisch betrachtet und analysiert.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Einwanderung in Deutschland
2.1 Entwicklung der Einwanderung
2.2 Ursachen der Einwanderung
2.3 Probleme mit der Einwanderung
3. Vorstellungen vom Zusammenleben von Deutschen und Ausländern
3.1 Die Leitkultur
3.2 Die multikulturelle Gesellschaft
4. Die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft
4.1 Zwei Ebenen des Begriffes
4.2 Spezifische Probleme der multikulturellen Gesellschaft
4.3 Historischer Verlauf der Diskussion
5. Fazit und Ausblick
6. Danksagung
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
Die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft wird seit einigen Jahren in Deutschland kontrovers geführt. Die multikulturelle Gesellschaft ist einer der wichtigsten Streitpunkte der deutschen Politik, da es um die Zukunft unserer Gesellschaft und daher um die Zukunft von uns allen geht.
Deutschland ist seit langem ein Einwanderungsland. Daraus resultiert die Frage, wie die Integration von Ausländern durchgeführt werden soll. Eine Möglichkeit, um das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern zu regeln, ist die multikulturelle Gesellschaft. In dieser werden die Ausländer zwar politisch integriert (eingegliedert), aber nicht kulturell assimiliert (angepasst).
Um der Diskussion folgen zu können, muss eine Kenntnis über die Hintergrundinformationen vorhanden sein. Kapitel zwei „Einwanderung in Deutschland“ ist als Einführung zum Thema und als Basis für die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft zu sehen.
In Kapitel drei „Vorstellungen vom Zusammenleben von Deutschen und Ausländern“ stelle ich eine Auswahl von Auffassungen, sowohl von Befürwortern, als auch von Kritikern der multikulturellen Gesellschaft dar, da in die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft beide Seiten involviert sind.
Das vierte Kapitel „die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft“ soll eine Vertiefung der vorherigen Diskussion darstellen. Es soll Ihnen, dem Leser helfen, die Idee multikulturelle Gesellschaft besser zu verstehen.
Im „Fazit und Ausblick“, dem fünften Kapitel werden die Ergebnisse dieser Arbeit dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[1]
2. Einwanderung in Deutschland
Die Einwanderung in das Deutsche Reich, die Weimarer Republik und in die Bundesrepublik Deutschland hat es zu jedem Zeitpunkt gegeben. Allerdings war Deutschland bis 1945 ein Auswanderungsland, d.h. die Zahl der Fortzüge z.B. in die USA war größer als die Zuzüge nach Deutschland. Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Wanderungssaldo positiv.
2.1 Entwicklung der Einwanderung
Die Einwanderung nach Deutschland steigt seit den frühen 50er Jahren an (siehe Abb. 1). Wie stark, das beeinflussen die politischen Maßnahmen und die wirtschaftliche Lage in der jeweiligen Zeit, z.B. restriktive (beschränkende) Einwanderungspolitik.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbbildung 1[2]
Die Entwicklung der Einwanderung nach Deutschland lässt sich in sieben Phasen einteilen. Diese Phasen überschneiden sich, gekennzeichnet sind nur die Hochphasen.
1. Flüchtlinge und Vertriebene wanderten von 1945 bis 1949 nach Deutschland ein. Diese Flüchtlinge kamen aus ehemaligen Ostgebieten Deutschlands oder aus der Sowjetischen Besatzungszone. Sie besaßen alle die deutsche Staatsbürgerschaft.
2. Die Jahre 1949 bis 1961 waren von der Wanderung von der Bundesrepublik Deutschland in die DDR, bzw. von der DDR in die Bundesrepublik gekennzeichnet. Bis 1961 belief sich die Zahl der Auswanderer aus der DDR auf ca. 3,8 Mio. Es fand die erste Hochphase der Migration zwischen Ost- und Westdeutschland statt.
3. Die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften, den Gastarbeitern, verlief von 1961 bis 1973. Durch das Wirtschaftswunder in den 50er Jahren herrschte Arbeitskräftemangel, der sich auch nicht mehr durch den Flüchtlingsstrom aus dem Osten kompensieren ließ. Deshalb schloss Deutschland Abwerbevereinbarungen mit anderen Staaten. Die Anwerbung begann schon Mitte der 50er Jahre. Ab 1973 setze dann der Familiennachzug ein. Entgegen der Position von Bundesregierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern waren die Gastarbeiter kein temporäres Phänomen, wie die Entwicklung der Ausländerstatistik beweist.
4. Es folgte von 1973 bis 1988/89 der Anwerbestopp aufgrund der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Die Nachholung von Familienangehörigen blieb weiterhin möglich, wurde aber erschwert. Trotzdem wuchs der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung auch weiterhin, während die Erwerbstätigkeit von Ausländern stagnierte.
5. Die Jahre 1988 bis 1991/92 waren durch die Einwanderung von Aussiedlern aus Osteuropa, Asylbewerbern v.a. vom Balkan, aus Osteuropa und der Türkei und neuen Arbeitsmigranten gekennzeichnet. Zusätzlich fand zu diesem Zeitpunkt die zweite Hochphase der Wanderung zwischen Ost- und Westdeutschland statt.
6. 1992/93 bis 2000 erschwerten restriktive Ausländerregelungen die Einwanderung nach Deutschland. Dies verursachte einen negativen Wanderungssaldo (Verhältnis von Fort- und Zuzügen).
7. Ab dem Jahre 2000 bahnte sich ein Kurswechsel in der Politik an, weg von restriktiver Ausländerpolitik, hin zur aktiven Wanderungspolitik. Die Green Card (gezielte Anwerbung von Softwareexperten) oder andere beschleunigte Einwanderungsverfahren waren der erste Schritt dorthin.[3]
2.2 Ursachen der Einwanderung
Die Ursachen oder Gründe für die Einwanderung nach Deutschland sind vielfältig und vielschichtig. Es wird zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration (Wanderung) unterschieden.
Unfreiwillige Migration bedeutet die Flucht der Einwanderer von ihrem Wohnort. Ursachen für die Flucht sind z.B. Kriege und Bürgerkriege, die Unterdrückung durch totalitäre Systeme und Strukturen verbunden mit Menschenrechtsverletzungen, ökonomische Probleme (z.B. Armut) oder ökologische Katastrophen. In den meisten Fällen ist nicht ein Faktor, sondern ein Bündel von Ursachen für die Flucht verantwortlich. Zu den Einwanderern, die unfreiwillig nach Deutschland kommen, gehören Asylbewerber, Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten Deutschlands, der Sowjetischen Besatzungszone, Übersiedler aus der DDR und z.T. Aussiedler aus den ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts.
Die freiwillige Einwanderung nach Deutschland hat v.a. wirtschaftliche Gründe. Deutsche Firmen werben wegen Arbeitskräftemangels Personal im Ausland an. Arbeitsmigranten mit ihren Familien und z.T. Aussiedler kamen und kommen nach Deutschland, da sie dort verbesserte Arbeitsbedingungen haben.[4]
2.3 Probleme mit der Einwanderung
Die Probleme mit den Einwanderern lassen sich v.a. auf die fehlende Integrations- und Ausländerpolitik der Bundesregierungen seit dem Beginn der Gastarbeiteranwerbung zurückführen. In diesem Punkt sind sich Befürworter und Gegner der multikulturellen Gesellschaft einig.[5] [6]
Aber die Probleme zu ignorieren, löst diese nicht, im Gegenteil, sie werden nur noch verschlimmert. Integration der Einwanderer ist nur möglich, wenn beide Seiten aktiv dazu beitragen. Auf der einen Seite muss die deutsche Bevölkerung und der Staat den Einwanderern die Integration in die deutsche Gesellschaft ermöglichen. Hier ist die Bevölkerung besonders gefordert, da ohne ihre Mithilfe die Integration scheitert. Die deutsche Gesellschaft muss ihre Integrationshilfe v.a. auf dem emotionalen Sektor leisten, z.B. bei der Integration von Einwanderern in Freizeitaktivitäten. Der Staat hingegen hat hier nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten. Er kann zwar finanzielle Hilfe leisten, für den Ausländer kostenlose Sprachkurse anbieten oder ihnen bei Behördengängen helfen, allerdings ist dies nur der erste Schritt zur Integration.
Auf der anderen Seite müssen die Einwanderer auch den Willen zeigen, sich einzugliedern. Ohne diese Bereitschaft ist die Integration ebenfalls nicht möglich.
Es lebten im Jahr 2001 7,32 Mio.[7] Ausländer in der Bundesrepublik, viele schon in der zweiten und dritten Generation, aber immer noch ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Davon bildeten die Türken mit 1,95 Mio.[8] Einwanderern die größte Gruppe. Diese brachten u.a. auch den Islam nach Deutschland. Die Ausländer leben auch in Deutschland weiterhin ihre Kultur aus; ihnen bleibt auch größtenteils keine andere Wahl, da ihnen die Möglichkeit zur Integration bzw. Assimilation durch fehlende Einwanderungspolitik nicht gegeben wird. Soziale Ungerechtigkeit und Diskriminierung führen bei den Einwanderern zu Vorurteilen der Gesellschaft gegenüber, in der sie leben.
Daraus resultieren auch die unerwarteten Identitätsprobleme der dritten Generation der Einwanderer, die die Probleme der ersten und zweiten Generation noch übertreffen. Die Jugendlichen fühlen sich zu keiner Kultur zugehörig, da sie sich auf der einen Seite nicht in die deutsche Kultur integriert sehen, aber auf der anderen Seite auch keinen richtigen Bezug zu der Kultur ihrer Eltern und Großeltern haben.[9] Sie kreieren sich ihre eigene Kultur, eine Kultur der Gewalt, hinter der sie Zuflucht suchen können. Religiöser Fanatismus und hohe Gewaltbereitschaft sind die Folgen davon.
Ein weiteres Problem sind die andauernden Meinungsverschiedenheiten in der Frage, wie die Integrations- und Einwanderungspolitik gestaltet werden soll. Dieser Dissens führte dazu, dass eine mehrheitsfähige Entscheidung zu diesem Thema nie getroffen wurde.
3. Vorstellungen vom Zusammenleben von Deutschen und Ausländern
Es gibt viele verschiedene Vorstellungen, wie das Zusammenleben von verschiedenen kulturellen Gruppen geregelt werden soll. Im Folgenden werde ich eine Auswahl von Auffassungen dokumentieren.
3.1 Die Leitkultur
Leitkultur bedeutet, dass die deutsche Kultur für alle Mitglieder der deutschen Gesellschaft und auch für die Einwanderer verbindlich sei. Sie habe Vorrang vor den ausländischen Lebensarten und fungiere als Kitt der Gesellschaft. Die deutsche Kultur stelle also die Werte einer Gesellschaft, ihre Regeln und das Weltbild der Menschen dar[10]. Die Kritiker der multikulturellen Gesellschaft meinen, dass die diese in ihrer konsequenten Form das Auseinanderbrechen der Gesellschaft mit sich bringe und somit zur Bildung von Parallelgesellschaften führe.
Eine deutsche Leitkultur sei notwendig. Die kulturelle Assimilation der Einwanderer müsse angestrebt werden, um den Frieden in der Gesellschaft zu sichern, die einheimische Kultur zu erhalten und die Ablehnung der Deutschen den Ausländern gegenüber abzubauen.
Spannungen seien zu erwarten, da Krisenzeiten und die angeborene Xenophobie (Fremdenhass oder -angst) Auslöser für Konkurrenzkämpfe z.B. um Wohnungen, Arbeitsplätze, Sozialleistungen seien. Außerdem sei die unkontrollierte Einwanderung eine Gefährdung des inneren Friedens.[11]
Eine Verschmelzung der Kulturen zerstöre die einheimische Kultur. Dies sei fatal, da sich jeder Mensch durch seine Kultur definiere. Daraus resultiere auch die ablehnende Haltung der Einheimischen gegenüber Ausländern, da diese einer Verschmelzung entgegenwirken wollen.[12]
Den Ausländern ihre kulturelle Identität zu lassen, bedeute, dass sie sich nie mit dem westlichen Wertesystem, und deswegen auch nicht mit dem Grundgesetz, den Grund- und Menschenrechten identifizieren werden. Diese Werte seien aber in einer intakten Gesellschaft für alle verbindlich, denn ohne sie komme es zu Chaos und Anarchie. Die Assimilation gebe den Ausländern eine neue Identität, eine neue Heimat, in der sie wirklich gleichgestellt seien. Im Gegensatz dazu sei das Zusammenleben verschiedener ethnischer und kultureller Gruppen immer mit Problemen und Konflikten verbunden gewesen, dies zeige z.B. der Völkermord in Ruanda oder der Bürgerkrieg in Jugoslawien.[13]
Darüber hinaus sei das Konzept der kulturellen Pluralität sehr ambivalent. Die Pluralität sei so eng mit unserer Lebensstruktur verbunden, sodass sie als Gütesiegel einer demokratischen Gesellschaft gelte, und daher fehle uns die Distanz für die kritische Betrachtung der Vorraussetzungen und Hintergründe. Bei näherer Untersuchung werde aber deutlich, dass der Grundsatz der Differenz kein antirassistisches, sondern ein rassistisches Konzept sei. Dieses Konzept habe nämlich zu Separation und Rassentrennung geführt. Es sei ein schmaler Grad zwischen dem Respekt für Differenz und der Verachtung des Fremden. Aus dem Widerspruch, die Gleichheit aller zu fordern, aber gleichzeitig ihre Verschiedenheit zu fördern, habe sich die Rassenideologie entwickelt, die auf der Vorstellung beruhe, dass sich die Menschheit in klar voneinander getrennte Gruppen aufteilen lasse.[14]
Kritiker der multikulturellen Gesellschaft fordern, dass die Assimilation der Ausländer vorgeschrieben wird. Dazu solle eine Änderung des Grundgesetzes hinsichtlich der kulturellen Freiheit in Erwägung gezogen werden. Einerseits müsse der Staat den Einwanderern Hilfe zur Assimilation leisten, andererseits müssen aber auch die Einwanderer den Willen zu Assimilation zeigen. Anderenfalls wären diese in der deutschen Gesellschaft nicht zu dulden.[15]
Dazu müssen die Kinder am Religionsunterricht in deutschen Schulen teilnehmen. Außerdem solle das Tragen von Kopftüchern, das Schächten von Tieren und andere Riten fremder Kulturen unterbunden werden. Aber anstatt Zwang auszuüben, solle man den Menschen Angebote machen, die sie gerne annehmen. Ein Einwanderungs- und Integrationsgesetz werde benötigt, welches festlege, welche Personengruppen einwandern dürfen und wie viele. Außerdem solle das Nachzugsalter für Kinder niedrig angesetzt werden, damit eine frühe Identifikation mit der deutschen Kultur erreicht werde.[16]
Deutschland müsse wieder ein neues Selbstwertgefühl aufbauen. Das Volk solle den Stolz auf seine Kultur, seine lange Geschichte, seine Bräuche und Traditionen wieder erneuern. Aus einem gesunden Selbstwertgefühl resultiere dann auch die Forderung nach einer einheitlichen Kultur. Das bedeute, dass das gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihrem Land die Forderung nach kultureller Vielfalt hervorrufe.[17]
Die Kultur sei etwas, dass sich ständig verändere. Der kulturelle Fortschritt sei durch die Weiterentwicklung der Kultur, z.B. durch das Einbeziehen neuer Aspekte fremder Kulturen gekennzeichnet.
Es müsse eine Leitkultur und keine Verschmelzung der Kulturen geben, denn dies würde nicht zur Bildung einer neuen Gemeinschaft, sondern zum vieldiskutierten Kampf der Kulturen führen. Die Gleichwertigkeit aller Kulturen, wie sie die multikulturelle Gesellschaft anstrebt, sei nicht sinnvoll, auch weil die Überlegenheit einer Kultur auch gleichzeitig Verantwortung für diese bedeute. Bei einer Gleichstellung aller Kulturen gäbe es keine, welche diese Rolle erfülle. Eine Hierarchie sei also notwendig, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Die Demokratie sei auf Hierarchien angewiesen, darüber hinaus seien diese in allen Bereichen des Lebens vorhanden, z.B. aufgrund von Altersunterschieden oder beruflichen Funktionen. Außerdem stelle sich die konsequente Multikulturalität gegen die Verbindlichkeit bestimmter Werte, die die Gesellschaft zusammenhalten. Dazu gehören die Sprache und das Grundgesetz, die das Produkt deutscher Geschichte, deutscher Kultur seien. Ohne diese Werte komme es aber zu Chaos und Anarchie, dies würde dann zum Zerfall der Gesellschaft und zur Bildung von Parallelgesellschaften führen. Deshalb sei die multikulturelle Gesellschaft abzulehnen.[18]
3.2 Die multikulturelle Gesellschaft
Multikulturelle Gesellschaft bedeutet, dass verschiedene Gruppen von Menschen, die sich durch ihre Kultur unterscheiden, friedlich miteinander leben, ohne das sich zwangsläufig eine neue Kultur entwickeln muss. Sie bildet die Alternative zu der Leitkultur bzw. einer monokulturellen Gesellschaft (soweit es diese geben kann).[19] Das bedeutet, dass alle Menschen ihre Kultur im Rahmen des Grundgesetzes ausleben können. Es soll also die politische Gleichheit und die kulturelle Verschiedenheit erreicht werden.
Dass die multikulturelle Gesellschaft bereits Realität und kaum noch abzuändern ist, davon gehen ihre Befürworter aus. Außerdem seien Zwangsintegrationen nicht verfassungskonform und Autonomie und Pluralität Grundsätze unserer demokratischen Werte[20]. Für sie sind die Probleme, die in einer multikulturellen Gesellschaft zwangsläufig entstehen, nicht naturgegeben und daher unlösbar, sondern mit der richtigen Politik durchaus lösbar[21].
Die Befürworter unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer Konzepte für die multikulturelle Gesellschaft. „Es kann doch gar nicht mehr um die Frage gehen, ob wir mit den Leuten zusammenleben, sondern nur noch wie.“[22]
Prof. Dieter Oberndörfer, Direktor des Arnold Bergstraesser Institut für kulturwissenschaftliche Forschung in Freiburg vertritt die Meinung, dass es nie eine monokulturelle Gesellschaft gegeben hat, da verschiedene Berufs- oder Konfessionsgruppen schon immer parallel zueinander in eigenen Lebenswelten gelebt haben. Dieser Zusammenhang verdeutliche die Vordergründigkeit und Oberflächigkeit der Diskussion um vermeintlich gemeinsame Werte, die als Voraussetzung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft gesehen werden. Es könne zwar gemeinsame Werte geben, allerdings nur auf freiwilliger Basis. Den Menschen unter Zwang Werte aufzuerlegen sei falsch, da dies die Freiheit des Einzelnen einschränke. Aber die Kultur sei auch immer einem Wandlungsprozess unterworfen. Der Einfluss des Islams in Deutschland wachse mit der Zunahme der muslimischen Bevölkerung. Darüber hinaus vermischen sich die Kulturen nicht nur durch die Werte verschiedener religiöser Gruppen, sondern auch durch die Werte einzelner. Das bedeute, dass von einer monokulturellen Gesellschaft schon nicht mehr gesprochen werden könne, sobald zwei Menschen zusammenleben. Deshalb könne Kultur keine „kollektive Orientierungsgröße“[23] sein.
Das Grundgesetz sichere die kulturelle Freiheit und die Dynamik der Kulturen, z.B. durch die Religions- und Meinungsfreiheit, allerdings beschränke die Verfassung diese auch, nämlich dort, wo die kulturelle Freiheit des Einen die kulturelle Freiheit des Anderen einschränke, z.B. bei fundamentalistischen Gruppen.[24]
Dr. Heiner Geißler, CDU-Politiker, meint, dass das Gelingen der multikulturellen Gesellschaft durchaus möglich sei, denn Xenophobie sei nicht angeboren, sondern hänge mit geistiger Einstellung zusammen. Es gehe darum, diese Angst in der Bevölkerung zu bekämpfen. „Ängste kommen, bleiben einmal kürzer, einmal länger, und die meisten gehen wieder“[25]. Einwanderer seien wichtig für die deutsche Wirtschaft z.B. um eine „Vergreisung“[26] der Gesellschaft zu verhindern. Dieses Bewusstsein sollte durch sachliche Information der Bürger über Einwanderer geweckt werden, denn ein Informationsdefizit habe erst zur Fremdenangst geführt. Ausufernder Nationalismus sei nicht zu befürchten, da dieser nicht zur deutschen Identität gehöre und erst eine relativ kurze Tradition habe.
Geißler schlägt folgendes Konzept für die politische Integration der Einwanderer vor: Es müsse eine Regulierung und Kontrolle der Einwanderung erreicht werden. Dazu solle ein Immigrationsgesetz in Kraft treten, dass Quoten für diese festlege. Bei der Ausarbeitung dieses Gesetzes sollen die Erfahrungen der klassischen Einwanderungsländer mit einbezogen werden.
Aber die Ausländer, die bereits in Deutschland wohnen, sollen gleichberechtigt werden und es solle ihnen die Einbürgerung erleichtert werden. Die doppelte Staatsbürgerschaft solle großzügig bewilligt werden, als Vorstufe zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft.
Außerdem solle das Staatsbürgerrecht verändert werde. Ihm solle nicht mehr das Abstammungsprinzip, sondern das Territorialprinzip zugrunde liegen. Kinder ausländischer Eltern sollen also automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, wenn sie in Deutschland geboren sind.
Aber die Einwanderer müssen ihre kulturelle Identität behalten dürfen. Unter Integration könne nur das Bekenntnis zur deutschen Verfassung, aber nicht zur deutschen Kultur verstanden werden. Die demokratischen Grundwerte sollen hier als verbindliche Bindewerte fungieren, die den Zusammenhalt der Gesellschaft sichern sollen. Da das Grundgesetz auch die Religionsfreiheit sichere, sei eine kulturelle Assimilation nicht verfassungskonform. Allerdings solle Religionsimperialismus bekämpft werden, weil dieser die kulturelle Freiheit einschränke.
Ein flüchtlingspolitisches Konzept sei außerdem notwendig, dass die Ursachen für Flüchtlingsmigration, d.h. Armuts-, Umwelt- und Bürgerkriegsfluchtgründe, bekämpfe. Dies sei aber nur als gemeinsames Konzept aller reichen Länder möglich. Dazu müsse den Ländern der Dritten Welt wirtschaftliche Hilfe durch Öffnung der Märkte und Schuldenerlass zukommen und Klimakatastrophen verhindert und Bürgerkriege beendet werden. Dann werde die Zahl der Flüchtlinge verringert werden.[27] [28]
Claus Leggewie, Professor für Politologie an der Universität Gießen, hält die multikulturelle Gesellschaft für die beste Lösung der gegenwärtigen Einwanderungsproblematik, wenn ein Konzept entwickelt werde, dass von allen konsequent verwirklicht werde. Vorraussetzung für das Gelingen sei eine kontrollierte Einwanderung. Das bedeute, dass Deutschland seine Grenzen nach Bedarf öffnen und schließen könne. Dazu müsse es aber einen gesamteuropäischen Konsens geben. Außerdem müsse die breite Bevölkerung der multikulturellen Gesellschaft zustimmen und diese tragen mit all ihren Konsequenzen.
Leggewie schlägt folgendes Konzept vor: Es müsse eine Reform des Ausländerrechts geben. Für die Einwanderer aus den 50er Jahren solle es ein Niederlassungsrecht mit Fristenregelungen, Widerrufmöglichkeiten und Wiederkehroptionen geben.
Außerdem solle die Einbürgerung erleichtert, das bereits 1913 verabschiedete Staatsbürgerschaftsrecht verändert werden. Das Abstammungsprinzip solle durch das Territorialprinzip ersetzt werden. Der neue Artikel 116 des Grundgesetzes solle dann lauten: „Deutscher Staatsangehöriger ist, wer in Deutschland geboren ist. Staatsangehöriger kann werden, wer sich fünf Jahre in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hat.“[29] Dabei sei die doppelte Staatsbürgerschaft allerdings nur als Übergangslösung und nicht als Dauerlösung zu sehen. Rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung solle sozialen Frust, der bei Einwanderern zu Inländerfeindlichkeit führen könne, vermeiden. Einwanderer sollen gleichberechtigt werden, und alle Rechten und Pflichten eines deutschen Staatsbürgers erhalten. Somit seien die Einwanderer nicht mehr auf die Duldsamkeit und Großzügigkeit der Deutschen angewiesen.
Auf der Seite der Deutschen sollen die Vorurteile und das Misstrauen abgebaut werden. Sie müssen das Bewusstsein erhalten, dass Ausländer gleichberechtigt seien. Dies solle durch sachkundige Information geschehen. „Das zielt auch auf manche, die gutgemeint um Integration „Des Anderen“ bemüht sind, sich in ihrer Xenophilie (Fremdenliebe) aber ähnlichen Mythen bedienen, darunter der Mythos vom „deutschen Sonderweg“ und der negativen Affirmation einer rassistischen Tradition der Deutschen.“[30]
Es gebe außerdem Probleme, wenn das Verhalten eines einzelnen auf die gesamte Gruppe übertragen werde (... die Türken...).
Überdies sollen keine Quoten, sondern die demographische, sozialpolitische und arbeitsmarktpolitische Entwicklung die Einwanderung regeln. Dabei habe allerdings der Familiennachzug Priorität. Es solle ein Einwanderungsministerium gebildet werden, dass sich mit solchen Frage beschäftige. Bei der Regelung künftiger Einwanderung sollen die Interessen des Einwanderungslandes im Mittelpunkt stehen, allerdings sollen die Interessen der Einwanderer mitberücksichtigt werden.
Außerdem solle der ethnischen Privilegierung für Aussiedler ein Ende gesetzt werden. Allerdings seien Versprechen für die ethnische Privilegierung gegeben worden, und solche Versprechen müssten grundsätzlich eingehalten werden. Es müsse also ein Mittelweg gefunden werden, der diese Ungleichberechtigung Schritt für Schritt beseitige.
Es sei jeden Einwanderer dringend zu empfehlen, die deutsche Sprache zu lernen. Ohne eine gemeinsame Sprache funktioniere das Zusammenleben nicht. Aber das heiße nicht, dass die Einwanderer ihre Muttersprache nicht mehr pflegen sollen. Vielsprachigkeit sei nicht unbedingt mit Problemen verbunden, wie das Beispiel Schweiz zeige. In der Europäischen Union gebe es ohnehin keine Amtssprache mehr, deshalb sei Vielsprachigkeit unbedingt erforderlich.
Überdies stehe die multikulturelle Gesellschaft in keinem Widerspruch zur politisch begründeten, demokratischen Nation.
Die multikulturelle Gesellschaft ist für Leggewie gelungen, wenn neu entstehende Konflikte in Gremien gelöst werden, die mit der pluralistischen Gesellschaft übereinstimmen, das Gewaltmonopol innehaben und die Ethnisierung vermeiden können.[31] [32]
4. Die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft
4.1 Zwei Ebenen des Begriffes
Der Begriff multikulturelle Gesellschaft hat zwei verschiedene Ebenen, die deskriptive (beschreibende) und die normative (vorschreibende) Ebene. Die multikulturelle Gesellschaft ist, deskriptiv definiert, bereits Realität, da Menschen anderer Kulturen in Deutschland ihre eigene Kultur ausleben.
Die normative Ebene geht darüber hinaus. Normativ bedeutet, die konsequente Ausführung der multikulturellen Gesellschaft. Diese ist also die verbindliche Norm. Dies würde bedeuten, dass auch die deutsche Sprache nicht für alle vorgeschrieben wäre. Es müsste dann also die Möglichkeit geben, in seiner eigenen Sprache unterrichtet zu werden, und auch mit ihr Abitur machen zu können. Dazu müsste unser Schulsystem auf eine Vielfalt von Sprachen ausgelegt werden. Weiterhin würde es dann möglich sein, Dokumente, wie z.B. von Schreiben von Ämtern oder Rechnungen, in seiner Sprache zu erhalten. Alle Organisationen und Vereine wären auf Vielsprachigkeit ausgelegt, da sonst eine Ausgrenzung stattfinden würde.
Es würde weiterhin bedeuten, dass der Staat kulturelle Minderheiten besonders schützen müsste. Konkret würde das heißen, dass eine muslimische Gruppe in Deutschland mehr Zuschüsse vom Staat bekommen würde, als eine christliche Gemeinde, obwohl diese vielleicht viel mehr Mitglieder hat. Weiterhin würde nicht mehr nur das Läuten der Glocken am Sonntag zu hören sein, sondern mehrmals am Tag der Ruf des Muezzins, bei dem es allen muslimischen Arbeitnehmern gestattet sein müsste, ihre Arbeit beiseite zu legen und ein Gebet zu sprechen.
Dies sind nur einige Beispiele, aber sie zeigen, dass die normative Ebene der multikulturellen Gesellschaft eine Utopie bleiben wird. Ein Staat kann eine solche Form der Gesellschaft nicht aufrecht erhalten, ohne Schaden zu nehmen. Ein Sonderfall stellt die Schweiz da, weil es dort drei offizielle Amtssprachen gibt und somit die normative Ebene der multikulturellen Gesellschaft eingeschränkt erreicht ist. Allerdings ist hierbei zu bemerken, dass die Schweiz, im Gegensatz zu Deutschland, als Vielvölkerstaat gewachsen ist und dort nicht erst die Einwanderer fremde Sprachen mit ins Land gebracht haben.
4.2 Spezifische Probleme der multikulturellen Gesellschaft
Die multikulturelle Gesellschaft stellt höhere Anforderungen an die Bevölkerung als eine monokulturelle Gesellschaft oder eine Gesellschaft mit einer Leitkultur; denn multikulturelle Gesellschaft bedeutet die Gleichstellung aller Kulturen.
Dazu muss ein hohes Maß an Toleranz für andere Kulturen vorhanden sein. Um Toleranz aufbauen zu können, muss die Xenophobie abgebaut werden, die u.a. aus Informationsdefiziten über die Einwanderer entstanden ist[33].
Dabei spielen v.a. die Medien eine große Rolle, da sie für die Information der Bevölkerung verantwortlich sind. Vorurteile der Deutschen werden oft durch die Medien verursacht. Dort stehen v.a. negative Begebenheiten wie Kriminalität im Mittelpunkt, während positive Ereignisse, bei denen das Zusammenleben reibungslos funktioniert, nicht thematisiert werden. Das kann zu einer Verzerrung der Wirklichkeit führen, die Vorurteile verursacht[34]. Darüber hinaus werden soziale Probleme oft ethnisiert: „Kein Mensch würde sich in Deutschland – mit Ausnahme von ein paar Verrückten – über die Frage der Zuwanderung überhaupt Gedanken machen, wenn wir nicht 4,8 Millionen Arbeitslose hätten.“[35]
Aber auch bei den Ausländern gibt es Vorurteile gegen die Deutschen[36].
Vorurteile auf beiden Seiten sind Gift für die multikulturelle Gesellschaft. Die Menschen müssen bereit sein, aufeinander zuzugehen und ihre kulturelle Verschiedenheit zu respektieren. Ein Dialog der Kulturen, ein kritisches Hinterfragen der eigenen Kultur ist hierbei sehr förderlich[37]. Sonst ist nur ein getrenntes Nebeneinander, aber kein gemeinsames Miteinander möglich. Sein Ziel ist es nicht, zu bekehren oder zu überreden, sondern er stellt einen wechselseitigen Lernprozess dar, in dem Gemeinsamkeiten zu entdecken und Trennendes besser zu verstehen sind[38].
In diesem Dialog muss sich über gemeinsame, verbindliche Werte geeinigt werden, die eine Gesellschaft zusammenhalten, sog. Bindewerte. Diese Werte müssen sich auf der höchsten Ebene, der politischen Ebene, ansiedeln, sonst muss Pluralismus erlaubt sein[39]. In konkreter Form ist dieser verbindliche Normenkatalog unser Grundgesetz. Darüber hinaus muss es eine einheitliche Sprache geben, um die Kommunikation innerhalb der Gesellschaft ermöglichen zu können. Das bedeutet aber nicht, dass die Einwanderer ihre ursprüngliche Sprache nicht mehr pflegen dürfen.
4.3 Historischer Verlauf der Diskussion
Der ursprünglich aus Kanada stammende Begriff multikulturelle Gesellschaft kam am Ende der 70er Jahren nach Deutschland, als er von Vertretern der beiden Großkirchen bei sozialpädagogischen und kirchlichen Diskussionen verwendet wurde.
Der Soziologe Esser eröffnete 1983 mit seinem Beitrag über „Multikulturelle Gesellschaft als Alternative zu Isolation und Assimilation“ die sozialwissenschaftliche Diskussion.
Erst in den 80er Jahren wurde der Begriff in Deutschland auf die öffentliche Diskussion um die Ausländerpolitik übertragen und als Alternative zu rassistischen Strömungen angesehen[40]. Der damalige CDU-Generalsekretär Dr. Heiner Geißler griff diesen Terminus auf und so begann Ende der 80er Jahre die Diskussion über die multikulturelle Gesellschaft auch in der Politik. Beantwortet wurde Geißlers Stellungnahme von den Politikwissenschaftler Dieter Oberdörfer[41], sowie vom grün-alternativen Milieu[42].
1997 schrieb der „Spiegel“, dass die multikulturelle Gesellschaft gescheitert sei. Dieser Artikel entfachte die Diskussion, die einige Jahre in den Hintergrund gerückt war, von neuem. Von da an wurde nicht nur das Konzept diskutiert, sondern auch ob die multikulturelle Gesellschaft wirklich gescheitert sei oder nicht.
Im Jahr 2000 zeigte Friedrich Merz mit seiner Leitkultur eine Alternative zur multikulturellen Gesellschaft auf. Auch diese Äußerung ließ die Diskussion von neuem aufleben. Die Linken und Linksliberalen antworteten auf die Leitkultur mit starken Protesten.
Auch in der heutigen Zeit ist die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft noch nicht beendet. Es ist noch keine Entscheidung gefallen, wie die Integrations- und Ausländerpolitik organisiert werden soll. Die rot-grüne Bundesregierung hat zwar im Jahr 2002 ein neues Zuwanderungsgesetz verabschiedet, allerdings hat diesem der Bundesrat nicht zugestimmt.
5. Fazit und Ausblick
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft noch lange kein Ende gefunden hat. Allerdings muss in der nächsten Zeit eine Lösung für das Einwanderungsproblem gefunden werden, wenn man der Bildung von Parallelgesellschaften in Deutschland entgegenwirken möchte. Die Vergangenheit hat uns gezeigt, welche Auswirkungen die Ausklammerung dieser Thematik aus der politischen Diskussion hat[43]. Es wird kaum möglich sein, die 7,3 Mio.[44] Ausländer, die derzeit in Deutschland wohnen, zwangsweise zu assimilieren. Der Staat hat nun die Aufgabe, den Ausländern die Integration Schritt für Schritt zu ermöglichen. Erst wenn dies gelungen ist, könnte man eine kulturelle Assimilation in Erwägung ziehen.
Die Lösung des Problems kann kein restriktives Einwanderungsgesetz sein, denn erstens brauchen wir die Einwanderer aus demographischen, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Gründen und zweitens kann man die Einwanderung nicht völlig unterbinden. Flüchtlinge haben nach der Genfer Konvention ein Recht auf Asyl, und Deutschland kann sich seiner politischen Verantwortung nicht entziehen.
Eine weitere Problematik stellt die Abstraktheit des Begriffes Kultur dar. Aus den unterschiedlichen Standpunkten zur multikulturellen Gesellschaft ergeben sich verschiedene Definitionen von Kultur. Auf der einen Seite wird Kultur als etwas statisches, feststehendes gesehen, auf der anderen Seite als etwas, dass sich ständig verändert. Außerdem ist nicht geklärt, welche Bereiche mit Kultur gemeint sind. Oft wird der Islam als Kultur des Muslime dargestellt. Dies ist nur bedingt richtig, da es den Islam gar nicht gibt. Es gibt in der arabischen Welt eine Vielzahl von islamischen Richtungen und Auslegungen des Korans, die sich nicht unmittelbar miteinander vereinbaren lassen. Außerdem gibt es auch unter den Moslems streng Gläubige und weniger Gläubige. Bei streng gläubigen Moslems kann man evtl. den Islam als ihre Kultur bezeichnen, aber bei den weniger Gläubigen geht die Kultur über den Islam hinaus.
Noch schwieriger wird es, in der westlichen Welt den Begriff Kultur zu definieren. In unseren säkularen Staatssystem lässt sich die Kultur noch weniger mit Christentum gleichsetzen. Die Komplexität unseres Alltags macht den Begriff Kultur so abstrakt, dass es kaum möglich ist, ihn genau zu definieren.
Darüber hinaus muss es einen Konsens geben, ob der Begriff multikulturelle Gesellschaft deskriptiv oder normativ zu definieren ist. Durch die unterschiedlichen Definitionen entstehen viele Missverständnisse, außerdem lassen sich die verschiedenen Meinungen nicht ohne weiteres gegenüberstellen, da sie keine gemeinsame Basis haben.
Erst wenn diese Missverständlichkeiten beseitigt sind, kann eine konstruktive Diskussion über die Konzepte der Einwanderung geführt werden.
Die Befürworter der multikulturellen Gesellschaft sehen keinen Gegensatz zwischen kulturellem Pluralismus und Nation[45]. Der Begriff Nation wird als „große, meist geschlossen siedelnde Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur“[46] definiert. Von dieser Definition ausgehend ist die multikulturelle Gesellschaft durchaus ein Widerspruch zur Nation. Aber nicht nur sie, sondern die Einwanderung an sich, auch wenn sie mit Assimilation einhergeht, ist ein Gegensatz zur Nation, da die Einwanderer, abgesehen von den Aussiedlern, nicht die gleiche Abstammung oder die gleiche Geschichte haben. Es ist also fraglich, ob sich nach dieser Definition aus Deutschland je wieder eine Nation machen lässt. Oder es ist eine Neudefinition des Begriffes Nation in Erwägung zu ziehen, die nicht mehr auf Abstammung, Geschichte oder Kultur, sondern auf demokratischen Werten beruht.
Ein friedliches Zusammenleben von Deutschen und Ausländern im Rahmen der multikulturellen Gesellschaft ist möglich. Es gibt auch heute noch Hinweise auf funktionierende multikulturelle Gesellschaften, v.a. in einfacher strukturierten Kulturkreisen, z.B. iranische Nomadenstämme, die aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammengesetzt sind oder die Gesellschaft im Sudan.[47]
6. Danksagung
Besonderer Dank gilt Prof. Claus Leggewie und Dr. Heiner Geißler für wertvolle Hinweise zur multikulturellen Gesellschaft, sowie Herrn Stefan Theil von der Newsweek Redaktion und der Redaktion der taz dafür, dass sie mir Artikel ihrer Zeitungen zur Verfügung gestellt haben.
Nadine Hölscher
Literaturverzeichnis
- Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, Band 15 (Moc - Nov), S. 173 ff, Neunzehnte Auflage
- DUDEN Fremdwörterbuch, 1997
- Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: „Multikulturelle Gesellschaft – Integration – Assimilation?“, In: Der Spiegel Nr. 14/1998, S. 48ff
- FES OnlineAkademie, URL: http://www.fes-online-akademie.de/index.php?&scr=themen&t_id=4 [Stand: März 2003] (siehe Anhang 1)
- Geißler, Heiner: „Auf Zuwanderung angewiesen“, In: Der Spiegel Nr. 3/1993, S. 40ff
- Geißler, Heiner: „Multikulturelle Gesellschaft – Integration- Assimilation?“, In: Der Spiegel Nr. 14/1998, S. 48ff
- Leggewie, Claus: Persönlicher Mailkontakt (siehe Anhang 7)
- Leggewie, Claus: „Die multikulturelle Gesellschaft“
- Leggewie, Claus: „Multi Kulti – Spielregeln für die Vielvölkerrepublik“, Rotbuch Verlag 1993
- Lensch, Günter: „Die multikulturelle Gesellschaft“, URL: http://www.freimaurer.org/gl_afam/forum_masonicum/multi.htm [Stand: März 2003] (siehe Anhang 2)
- Malik, Kenan: „Gefährliche Pluralität“, In: Taz, Die Tageszeitung Nr. 5267, Juli 1997
- Martin, Klaus-Peter: „Fundamentalismus türkischer Jugendlicher – Ist die multikulturelle Gesellschaft gescheitert?“, URL: http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at:4711/LEHRTEXTE/Martin.html [Stand: März 2003] (siehe Anhang 3)
- Mehrländer, Ursula / Schulze, Günther: „Einwanderungskonzepte für die Bundesrepublik Deutschland“, Bonn 1992, Friedrich-Ebert-Stiftung, URL: http://www.fes.de/fulltext/asfo/00227001.htm - LOCE9E1[Stand: März 2003] (siehe Anhang 4)
- Meier, Thomas: „Irrweg multikulturelle Gesellschaft“, Zürich 2000, URL: http://www.schweizerzeit.ch/0600/multikulti.htm [Stand: Februar 2003] (siehe Anhang 5)
- Merz, Friedrich: „Sie spielen mit dem Feuer Herr Merz“, In: Bild am Sonntag, 03.12.00
- Münz, Rainer: „Deutschland wird Einwanderungsland - Rückblick und Ausblick“, Humboldt – Universität Berlin, URL: http://www.bafl.de/template/publikationen/asylpraxis_pdf/asylpraxis_band_8_teil_07.pdf [Stand: März 2003] (siehe Anhang 6)
- Obermeier, Franz: „Was meint „Leitkultur“?“, In: Blickpunkt, Dezember 2000
- Oberndörfer, Dieter: „Leitkultur und Berliner Republik“, In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1-2/2001, S. 28 ff
- Statistisches Bundesamt
- Wetzel, Juliane: „ ,Fremde` in den Medien“, In: Informationen zur politischen Bildung Nr. 271/2001, S. 33 ff
- Zehetmair, Hans: „In der einen Welt ist jeder Nachbar“, In: Die Zeit, 10.04.02
- Zehnpfennig, Barbara: „Was eint die Nation?“, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 300, 27.12.00
Anhang
Anhang 1: 21
http://www.fes-online-akademie.de/index.php?&scr=themen&t_id=4 21
Anhang 2: 22
http://www.freimaurer.org/gl_afam/forum_masonicum/multi.htm 22
Anhang 3: 29
http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at:4711/LEHRTEXTE/Martin.html 29
Anhang 4: 38
http://www.fes.de/fulltext/asfo/00227001.htm#LOCE9E1 38
Anhang 5: 49
http://www.schweizerzeit.ch/0600/multikulti.htm 49
Anhang 6: 51
http://www.bafl.de/template/publikationen/asylpraxis_pdf/asylpraxis_band_8_teil_07.pdf 51
Anhang 7: 53
Mailkontakt mit Prof. Claus Leggewie 53
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Burkhard Mohr, In: Informationen zur politischen Bildung Nr. 271/2001
Anhang 1:
http://www.fes-online-akademie.de/index.php?&scr=themen&t_id=4
Dialog der Kulturen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
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Das „Fremde“ und das „Eigene“
Deutschland ist ein Einwanderungsland, in dem Menschen verschiedenster nationaler und kultureller Herkunft leben. Diese Vielfalt ist ein großes Potential für unsere Gesellschaft. Um diese Chance nutzen zu können, muss allerdings aus dem beziehungslosen Nebeneinanderleben ein gemeinsames Zusammenleben werden. Der Dialog der Kulturen ist hierfür eine unverzichtbare Voraussetzung. Dieser Dialog ist nicht frei von Prämissen und darf kein beliebiger sein: Er setzt die Existenz gemeinsamer universaler Werte und Rechte voraus, die nicht in Frage gestellt werden.
Wechselseitiger Respekt, Vertrauen und Offenheit sind die wichtigsten Bedingungen für sein Gelingen. Ziel des interkulturellen Dialogs ist es nicht, zu bekehren oder zu überreden, sondern Verständnis füreinander zu entwickeln und sich kritisch mit dem „Fremden“, aber auch dem „Eigenen“ auseinander zu setzen. Der Dialog ist ein wechselseitiger Lernprozess von gleichberechtigten Partnern, bei dem es gilt, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Trennendes besser zu verstehen.
Konkret bedeutet Dialog zu informieren und aufzuklären, zu sensibilisieren und Vorurteile zu überwinden, Ausgrenzung zu verhindern und Integration zu befördern. Mit diesem Themenmodul möchten wir hierzu einen Beitrag leisten und Interesse an dieser wichtigen Zukunftsfrage wecken. Im Zentrum stehen Texte, Dokumente und Informationen sowohl über die theoretischen Voraussetzungen wie über den konkreten Vollzug von interkulturellem Dialog in Deutschland. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Integration der in unserer Gesellschaft lebenden Ausländer.
Die Einheit der Menschheit in der Pluralität der Kulturen anzustreben – dies ist das anspruchsvolle Ziel eines aufrichtigen Dialogs der Kulturen.
Anhang 2:
http://www.freimaurer.org/gl_afam/forum_masonicum/multi.htm
DIE MULTIKULTURELLE GESELLSCHAFT
Auszug aus dem Jahrbuch 1991 der Akademie Forum Masonicum
Günter Lensch
In seinen Freimaurergesprächen zwischen Ernst und Falk nennt Lessing als die wichtigste Aufgabe der Freimaurer: an der Überwindung der Trennungen zu arbeiten, welche zwischen den Menschen bestehen. Gemeint sind Trennungen, die aufgrund von Unterschieden in Religionen, Kulturen, Sprachen, Hautfarbe, Gesellschaftsstrukturen, Verfassungen, Gewohnheiten, äußeren Umständen und anderem bestehen. In seinem Stück "Nathan der Weise" hat Lessing dann ein Beispiel dafür idealisiert und exemplarisch vorgestellt. Kultureller Pluralismus wäre also ein Merkmal einer im freimaurerischen Sinne idealen Gesellschaft. Die pluralistische und republikanisch verfasste Demokratie betrachten wir ja durchaus als das freimaurerische Staatsideal. An den kulturellen und ethnischen Pluralismus haben wir aber in diesem Zusammenhang bisher weniger gedacht. Von einer wirklich multikulturellen Gesellschaft war auch unter Freimaurern bisher wenig die Rede. Und doch ist es eben dies, was Lessing gemeint hat.
Vor einigen Jahren noch ist in der Bundesrepublik darüber heftig diskutiert worden, heute möchte man am liebsten nichts mehr davon hören. "Multikulturelle Gesellschaft" ist zum Unwort geworden. Aber das Problem ist nicht verschwunden, es ist abgetaucht - und das ist ein gefährlicher Zustand. Nach wie vor leben unter uns einige Millionen Neubürger, darunter über zwei Millionen Muslims, die nach ihrer Herkunft, Bildung und Sozialisation keine geborenen Mitglieder des christlichen Abendlandes sind und sie werden mit ihren Kindern und Kindeskindern bei uns bleiben. Nach wie vor kommen legale und illegale Zuwanderer aus vieler Herren Länder zu uns. Wir wollen uns nicht lange bei den Einwanderern aus dem europäischen Kulturbereich aufhalten, also z.B. den Griechen, Italienern, Portugiesen oder Polen - sie sind kein wirkliches Problem. Aber wie wir mit unseren Mitbürgern außereuropäischer Kulturzugehörigkeit zusammenleben wollen und können, darüber sollten wir uns Gedanken machen und diesen Gedanken müssen politische und gesellschaftliche Konzepte folgen. Vergessen wir auch nicht, daß sich etwa unsere ehemaligen oder jetzigen türkischen Gastarbeiter nicht illegal oder illegitim bei uns aufhalten. Wir haben sie selbst hierhergebeten und wir können sie nicht wieder wegschicken. Wenn wir die Probleme, die wir uns mit einer multikulturellen Gesellschaft einhandeln, hätten vermeiden wollen, dann hätten wir damals daran denken sollen, als wir diese Menschen scharenweise angeheuert haben. Heute müssen wir uns diesen Problemen stellen und nach Lösungen suchen. Eigentlich eine klassische Aufgabe für Freimaurer.
Die Aufgabe ist nicht gerade ermutigend, zugegeben, denn überall auf der Welt erleben wir Mord und Totschlag zwischen Menschen, die sich religiös, kulturell, ethnisch oder sprachlich voneinander abgrenzen. Die Vielfalt, in der man eine Bereicherung sehen könnte, erweist sich nur zu oft als Sprengsatz. Aber es gibt in der Geschichte auch andere Beispiele und vor allem: das Problem stellt sich in unserem eigenen Land. Wenn wir nicht zusehen wollen, wie sich da eine balkanische Lösung anbahnt, müssen wir uns etwas einfallen lassen. Nur voreinander Angst haben ist keine Lösungsstrategie.
Zunächst ist es zweckmäßig, sich einige Gedanken darüber zu machen, was kultureller Pluralismus ist. Er ist die normale Erscheinungsform der Sozialstruktur der Menschheit. Allerdings bedeutet das im Grundzustand lediglich das mehr oder weniger beziehungslose Koexistieren von verschiedenen ethnischen oder kulturellen Gruppen. Multikulturelle Gesellschaft ist eine höhere Organisationsform dieses Phänomens.
Eine erste Strukturierung erhalten wir dadurch, daß wir die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit in einer Gesellschaft untersuchen. Hier gibt es vier klassische Varianten, die mit den Begriffen Assimilation, Integration, Separation und Marginalisation beschrieben werden.
Assimilation bedeutet das völlige Aufgehen in der Kultur der Mehrheit - Erscheinungen, wie wir sie in Deutschland etwa bei der Assimilation der hugenottischen Glaubensflüchtlinge in Preußen, der polnischen Bergleute im Ruhrgebiet und der piemontesischen Einwanderer in Süd- und Westdeutschland in der jüngeren Vergangenheit beobachten können. Auch die deutschen Juden waren im Wilhelminischen Reich auf diesem Weg, nachdem sie eine aufgeklärte Politik aus den Ghettos herausgeholt hatte. Auf längere Frist gesehen geht die Tendenz fast immer zur Assimilation der Minderheit. Sie macht, wenn sie geglückt ist, auch die geringsten Probleme.
Integration ist dasjenige Verhältnis, welches unserem Ideal am nächsten kommt. Sie bedeutet volle gegenseitige Akzeptanz und Toleranz, verbunden mit Unterordnung unter ein gemeinsames Prinzip, bei Intaktbleiben der kulturellen Eigenständigkeit der Minderheit.
Separation ist die Ausgrenzung der Minderheit in geschlossenen Bezirken, in sogenannten Ghettos, bei fast völliger Abwesenheit eines Austauschs über die Grenzen des Ghettos hinweg.
Marginalisation schließlich, also etwa der Status der nordamerikanischen Indianer oder der australischen Aborigines in ihren Reservaten, oder auch der Zigeuner in Europa, führt zum kulturellen Untergang auf der negativen Seite des Spektrums. Es bleibt darauf hinzuweisen, daß es natürlich als extremste Art, mit der Minderheit umzugehen, noch deren physische Ausrottung gibt. Wir selbst haben es leider auf diesem Gebiet unter dem Nationalsozialismus zu einer gewissen Berühmtheit gebracht und wir erleben derartige Prozesse bis zum heutigen Tage immer wieder in den verschiedenen Teilen der Welt.
Die multikulturelle Gesellschaft wäre also eine Gesellschaft der Integration. Es hat Gesellschaften gegeben, die so funktioniert haben und es gibt heute noch Gesellschaften, die so leben. Es ist interessant, sich etwas mit ihnen zu beschäftigen.
Ein in weiten Bereichen erfolgreiches Beispiel für einen multikulturellen Vielvölkerstaat bietet uns das römische Weltreich. Der lang anhaltende Erfolg des Imperium Romanum beruhte auf dem Vorhandensein einiger wichtiger Voraussetzungen: Der Ökumenismus der römischen Staatsreligion, der es zuließ, die jeweiligen Stammesgötter mit ins römische Pantheon aufzunehmen; eine leistungsfähige Verwaltung; ein großer, gemeinsamer Wirtschaftsmarkt mit enormen Vorteilen für diejenigen, die daran teilnahmen; eine universelle Verkehrssprache und schließlich ein gut funktionierendes, einheitliches Rechtssystem. Wer sich diesen Vorbedingungen unterwarf oder anpaßte, wie es z.B. die Gallier taten, der zog Gewinn daraus und wurde schließlich selbst zum Römer. Wer sich dagegen sperrte, wie etwa die Juden, riskierte allerdings seine Existenz als Volk oder als Person. Wir sollten diese Bedingungen im Auge behalten, sie sind auch heute noch gültig Eine Fülle von Hinweisen auf funktionierende multikulturelle Gesellschaften liefern uns die Völkerkundler interessanterweise aus einfacher strukturierten Kulturkreisen. Es ist bemerkenswert, daß funktionierender kultureller und ethnischer Pluralismus kein Privileg hochentwickelter Zivilisationsstufen ist, eher im Gegenteil: er gedeiht zum gegenseitigen Vorteil auch und gerade in relativ urtümlichen Lebensgemeinschaften So finden wir Hinweise auf die iranischen Nomaden, zum Beispiel die Ghaschghaij, die kein einheitlicher Stamm sind, sondern eine Assoziation ganz verschiedener ethnischer Gruppen, oder auf die bäuerliche Gesellschaft im Sudan. Gerade im Sudan zeigen sich Beispiele für ein gesellschaftliches Miteinander, das dem Modell der "multikulturellen Gesellschaft" sehr nahe kommt. Die Dörfer werden größtenteils von Angehörigen mehrerer Ethnien bewohnt. Die einzelnen Ethnien unterscheiden sich teilweise durch ihre Sprache, ihre Herkunft oder durch ihre frühere Lebensweise. Auch die Adaptation des Islam erfolgte in unterschiedlicher Intensität, die Verwandtschaftssysteme differieren und nicht zuletzt weicht auch die Stellung der Frau in den verschiedenen Gruppen voneinander ab. Trotzdem haben sich im Miteinander von Angehörigen verschiedener Kulturen gut funktionierende Dorfgemeinschaften gebildet. Daß sich die verschiedenen Mitglieder der Gemeinschaft gegenseitig prinzipiell als gleichwertig ansehen, erkennt man vor allem an der Art der Landvergabe, der politischen Vertretung und der Heiratspraxis. So sind in diesen Dorfgemeinschaften einige grundlegende Voraussetzungen für das Gelingen eines kulturellen und ethnischen Pluralismus verwirklicht: die gegenseitige Anerkennung als Nachbar, die Bewilligung politischer Mitwirkungsrechte und wirtschaftlicher Teilhabe, und im persönlichen Bereich vor allem die Bejahung des Anderen als Heiratspartner. Man muß aber auch das Vorhandensein von zwei nicht unwesentlichen Randbedingungen nennen: in diesen Dörfern gibt es keinen Landmangel und der Islam, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität praktiziert, bildet für alle den geistigen Rahmen. Schwierigkeiten mit neu hinzukommenden Mitgliedern der Gemeinschaft gibt es dann, wenn nicht mehr genügend freies Land verfügbar ist.
Aus diesen und vielen anderen Beobachtungen lassen sich einige Regeln ableiten, die eingehalten werden müssen, damit sich die multikulturelle Beschaffenheit einer Gesellschaft positiv auswirkt, sie also zu mehr Glück, mehr Freiheit, mehr Lebensmöglichkeiten und mehr Wohlstand ihrer Glieder beiträgt:
1.Es muß eine wirtschaftliche Basis und ein gemeinsames wirtschaftliches Interesse vorhanden sein. Die Gallier fanden im römischen Reich einen riesigen, gemeinsamen Wirtschaftsmarkt, mit dem sie in Austausch traten. Etwas Ähnliches versuchen wir seit vielen Jahren in Europa herbeizuführen. Die Europäische Union soll eine multikulturelle Gesellschaft sein, freilich (zunächst) auf den Rahmen der abendländischen Kulturen beschränkt. Eine renovatio imperii romani sozusagen, das, was auch Karl der Große schon einmal versucht hatte. Konkurrenz um nicht ausreichende Wirtschaftsgüter (z.B. Ackerland wie im Sudan oder Arbeitsplätze wie derzeit in Deutschland) ist für die multikulturelle Gesellschaft nicht günstig.
2.Die einzelnen kulturellen und ethnischen Einheiten einer multikulturellen Gesellschaft müssen gleichberechtigt und ausreichend repräsentiert an politischen Entscheidungen beteiligt sein, und die multikulturelle Gemeinschaft sollte möglichst einem gemeinsamen politischen Ziel förderlich sein. Bei den Ghaschghaij-Nomaden ist das gemeinsame politische Ziel die Abwehr des Assimilierungsdrucks der Zentralregierung. In den sudanesischen Dorfgemeinschaften zeigt sich die politische Beteiligung in der Tatsache, daß die Dorfältesten, die Scheikhs, welche für die Landzuweisung zuständig sind, häufig Angehörige von kulturellen Minderheiten sind. Dieses Problem der sogenannten politischen Ethnizität ist in Deutschland noch überhaupt nicht bewußt geworden; es wird vielmehr unbewußt abgelehnt.
3.Kultur funktioniert auf verschiedenen Ebenen. Die höchsten Ebenen werden durch das Wertesystem gebildet, es entscheidet über die Einmaligkeit einer Kultur oder Zivilisation. Kultureller Pluralismus funktioniert auf den niedrigeren Ebenen gesellschaftlich vorteilhaft. Aber das erfordert eine unikulturelle Beschaffenheit auf der höchsten Ebene des Wertesystems, also einen Normenkatalog, der von allen als verbindlich und vorrangig akzeptiert wird und dessen Vorrangigkeit im Zweifelsfall von der Staatsmacht auch durchgesetzt werden kann. Im Falle der Ghaschghaijs und der sudanesischen Dorfgemeinschaften bildet der Islam diese höchste Ebene. Im römischen Weltreich war es das römische Rechtssystem.
4.In der multikulturellen Gesellschaft treten verschiedene Kulturen miteinander in Kontakt, tauschen eventuell auch Elemente aus, ohne daß aber jemand von den Beteiligten fürchten muß, in seiner eigenen kulturellen Identität in Frage gestellt zu werden. Die multikulturelle Gesellschaft bietet einen Rahmen für das Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, sie stellt aber selbst keine eigene neue Kultur dar.
Verweilen wir noch ein wenig beim Problem der politischen Ethnizität und bei den Religionen als Lieferanten von Wertesystemen. Die multikulturelle Gesellschaft, so hatten wir eben gesagt, ist selbst keine neue Kultur. Sie ist nur eine Organisationsform der Gesellschaft, die es ermöglicht, daß unterschiedliche ethnische und kulturelle Gruppen friedlich und zum gegenseitigen Nutzen unter einem gemeinsamen Dach, also meist in einem gemeinsamen Staat, miteinander leben können. Damit das funktioniert, muß nicht nur die wirtschaftliche Basis stimmen, es müssen auch bestimmte politische Bedingungen erfüllt sein.
In Israel zum Beispiel hat es sich gezeigt, daß der jetzt sich formierende kulturelle Pluralismus anstelle der ursprünglich vom Staat gewollten Einheitskultur am besten dann funktionieren wird, wenn die wichtigsten ethnischen und kulturellen Gruppen auch ihrer eigene politische Vertretung haben. Bemerkenswerterweise führt dort diese politische Ethnizität gleichzeitig zu einem Streben der ethnischen Gruppen nach kultureller und wirtschaftlicher Anpassung an die große Gesellschaft - ein ja durchaus begrüßenswerter Effekt. Wenden wir einmal diese Erfahrung auf Deutschland an, dann stellen wir fest, daß die wichtigste und stärkste ethnische und kulturelle Minderheit bei uns die Türken sind. Die Türken zu assimilieren wird nicht so leicht möglich sein wie etwa die südeuropäischen Einwanderer aus Italien oder Portugal. Um die Türken in einer multikulturellen Gesellschaft unter dem Dach der Bundesrepublik zu integrieren, müßten sie sich also politisch organisieren. Wir müßten uns darauf einstellen und im Interesse einer gelingenden Integration sogar selbst darauf hinarbeiten, daß es demnächst bei uns eine Türkenpartei oder eine moslemisch-demokratische Union gibt, deren Abgeordnete schließlich auch im Bundestag sitzen. Die CDU oder SPD als allumfassende Volkspartei der Protestanten, Katholiken, Moslems, Buddhisten und Atheisten - es ist fraglich, ob das funktionieren würde.
Kultureller Pluralismus kann sich in einer Gesellschaft zum Vorteil aller Beteiligten entwickeln, wenn eine von allen akzeptierte höchste Ebene des Wertesystems besteht, wenn also dort Einheitlichkeit und nicht Vielfalt herrscht. In den Beispielen aus dem Iran und dem Sudan liefert der Islam diese höchste Werte-Ebene; im römischen Weltreich war es das römische Rechtssystem. In den meisten Großkulturen sind die Religionen die Lieferanten der Wertesysteme und bieten innerhalb der Grenzen ihrer Gültigkeit gute Voraussetzungen für das Entstehen eines kulturellen Pluralismus. Alle Religionen sind aber mehr oder weniger von ihrer Einzigartigkeit und damit von der absoluten Gültigkeit ihrer Wertesysteme überzeugt. Besonders aggressiv und intolerant wird dieser Standpunkt von den monotheistischen Religionen vertreten. Wir sollten hier nicht nur mißbilligend auf den islamischen Fundamentalismus unserer Tage zeigen. Das Christentum neigt seinem Selbstverständnis nach ebenso zur Intoleranz und die Religionen insgesamt zeigen bisher keine ausgeprägte Dialogfähigkeit. Rufen wir uns als historisches Beispiel nur die durch einige Jahrhunderte hindurch blühende jüdisch-christlich-maurische Multikultur im Spanien der Kalifen von Cordoba in Erinnerung, die dann nach der Reconquista durch die spanische Inquisition brutal zerstört wurde.
Man wird also mit dem Gedeihen einer multikulturellen Gesellschaft Probleme bekommen, wenn sie kulturelle und ethnische Gruppen vereinigen soll, die unterschiedlichen, sich für absolut haltenden Religionen angehören. Eben dies ist aber in Deutschland und Europa der Fall. Am Beispiel des römischen Reiches hatten wir gesehen, daß in in einem solchen Fall des religiösen Pluralismus ein säkulares Rechtssystem die höchste Ebene des Wertesystems einnehmen kann und wohl auch muß. Über ein geeignetes Rechtssystem verfügen wir. Es konkretisiert sich in den Staatsverfassungen der abendländischen Nationen, in unserem eigenen Fall im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Allen diesen Verfassungen liegen die Vorstellungen vom Wert und der Würde des Menschen des europäischen Humanismus und der Aufklärung zugrunde und alle Verfassungen versuchen, diese Vorstellungen in gesellschaftliche Realität und Praxis umzusetzen. Freilich bleibt die Frage offen, ob und wieweit die betroffenen Religionen bereit sind, sich in einer gemeinsamen Gesellschaft diesem säkularen Rechtssystem unterzuordnen und gegenseitige Toleranz und Kooperation zu üben. Im Idealfall hätten in einer solchen Gesellschaft auch ein islamischer wie ein christlicher Fundamentalist ihren Platz, wenn sie sich gegenseitig akzeptieren und wenn beide ihren Kindern nicht untersagen, den Fundamentalismus zu überwinden. Im Zweifelsfall muß aber gelten: Grundgesetz bricht islamisches Gesetz. Wer dies nicht akzeptiern will, kann dann eben nicht Mitglied unserer Gesellschaft, kann nicht deutscher Staatsbürger oder europäischer Unionsbürger werden.
Wir haben einige Beispiele genannt, bei denen sich aus der multikulturellen Beschaffenheit einer Gesellschaft ein für alle oder doch die meisten der Beteiligten positives und förderliches Miteinanderleben entwickelt hat. Es gibt aber auch negative Beispiele genug. In besonders dramatischer Weise wird uns gerade in unseren Tagen das völlige Mißlingen einer multikulturellen Gesellschaft am Beispiel der Sowjetunion und Jugoslawiens demonstriert. Die Ursache für das Scheitern ist leicht auszumachen: sie liegt in der Wahnvorstellung, daß man die Menschen und Völker ihrer ursprünglichen Identität entkleiden und ihnen eine neue, sozialistische oder andersartige Einheits-Identität verschaffen könne. Die multikulturelle Sowjetunion z.B. sollte von den kulturell einheitlichen Sowjetmenschen bevölkert werden und man lebte in der Überzeugung, daß die Umwandlung der multinationalen Bevölkerung zu einer sowjetischen Einheitsnation bereits gelungen und abgeschlossen sei. Analoges gilt wohl für das ehemalige Jugoslawien des Marschall Tito. Heute sehen wir, daß gerade in dieser Ideologie und in dieser Täuschung der Keim des Untergangs eingeschlossen war. Die einzige Chance zu einer wirklichen Stabilität und damit zum Überleben des sowjetischen oder jugoslawischen Vielvölkerstaates hätte wohl in der Anerkennung und Akzeptierung seines kulturellen und nationalen Pluralismus gelegen und daraus folgend in dem Versuch, geeignete politische Strukturen für das Zusammenleben in einem multikulturellen Staat zu finden. Es könnte sein, daß wir uns in Deutschland einer ähnlichen Täuschung hingeben. Indem wir uns strikt weigern, uns als Einwanderungsland zu betrachten und indem wir immerfort behaupten, eine multikulturelle Gesellschaft komme für uns nicht in Frage, unterdrücken wir die in unserem Lande ansässigen Minderheiten, verweigern ihnen die Möglichkeit zur Integration und verlegen uns den Weg zu politischen Strukturen, welche das Problem der Zuwanderer lösen könnten. Das ist nicht ganz ungefährlich, wie die Krisen in unseren östlichen Nachbarländern zeigen.
Aus dem, was hier gesagt worden ist, folgt noch kein Patentrezept, das wäre auch zuviel verlangt bei der Komplexität des Gegenstands. Aber das Gesagte zeigt, daß es durchaus Ansatzpunkte und auch genügend Material für eine sinnvolle Diskussion über politische und gesellschaftliche Strategien zur Strukturierung und schließlich zur Bewältigung unserer Probleme gibt. Da solche Diskussionen in der Öffentlichkeit nicht in Gang kommen, könnten wir es zu unserer Aufgabe machen, sie anzustoßen. Das wäre sehr verdienstvoll. Laßt uns also versuchen, in dieser Richtung weiterzuarbeiten.
Anhang 3:
http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at:4711/LEHRTEXTE/Martin.html
Fundamentalismus türkischer Jugendlicher
Ist die multikulturelle Gesellschaft gescheitert?
Klaus-Peter Martin
Mit der Schlagzeile "Gefährlich fremd" erschien Mitte April der Spiegel . Dazu hatten die Hamburger Blattmacher ein Titelbild montiert, auf dem eine junge Aktivistin trotzig die türkische Flagge hochhält, wobei ihr Blick verklärt in die Vergangenheit gerichtet ist. Hinter ihr lauern eine Handvoll bewaffneter ausländischer Jungen - wahrscheinlich auf den nächsten Deutschen, der um die Ecke kommt. Schließlich sind auf der Collage noch moslemische Mädchen mit Kopftüchern auf der Schulbank zu sehen. Ausländische Jugendliche: eine einzige Gefahr - gewalttätig, fanatisch, fundamentalistisch; eine Verständigung, ein friedliches Zusammenleben mit ihnen ist offensichtlich unmöglich! Einen anderen Schluß kann man nach dem Betrachten des Titelbildes nicht ziehen. Und im Untertitel bestätigen die Autoren diesen Eindruck: Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert!
Es steht im Moment nicht gut zwischen Deutschen und Türken. Seit dem Brandanschlag in Krefeld ist der Ton in den Medien schärfer geworden. Focus nennt die im Westen erscheinenden türkischen Zeitungen "Giftige Gazetten" und macht ihnen den Vorwurf, sie untergrüben die Integration ihrer Landsleute in Deutschland. Die türkischen Blattmacher, die ohnehin nie zimperlich waren, revanchieren sich mit massiven Vorwürfen und Beleidigungen in ihren Schlagzeilen.
Zur Verschlechterung des Klimas haben zudem ganz wesentlich ƒußerungen wie die von Bundeskanzler Kohl geführt, die Türkei sei aufgrund ihrer kulturellen Fremdartigkeit kein Teil Europas.
Anfang April stellte Innenminister Kanther den jüngsten Verfassungsschutzbericht der Öffentlichkeit vor. Erstmals wird darin im Kapitel "Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern" auch ausführlich auf die islamische Organisation Milli Görus eingegangen und ihr ein erhebliches Gefahrenpotential unterstellt. Auch dies hat nicht gerade zur Beruhigung der Gemüter beigetragen.
In dieser Situation trifft es sich gut, daß gerade eine empirische Untersuchung zu Einstellungen und Werten Jugendlicher mit türkischem Paß in Deutschland erschienen ist. Sie bietet die Chance, zur Versachlichung der Diskussion beizutragen und Denkanstöße zu liefern; beruhigen können die Erkenntnisse aus der Umfrage nicht.
Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller und Helmut Schröder von der Bielefelder Universität legen unter dem Titel Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland die erste empirische Untersuchung zu dieser Teilgruppe in westlichen Ländern mit moslemischen Minderheiten überhaupt vor. In Deutschland wurden bisher weder in den Jugendberichten der Bundesregierung noch in den periodisch durchgeführten "Shell-Studien" oder in anderen in der Vergangenheit publizierten Jugendsurveys die hier lebenden Jugendlichen mit ausländischem Paß besonders berücksichtigt. Dabei weisen Jugendarbeiter schon seit langem darauf hin, daß gerade türkische Jugendliche - obwohl sie größtenteils hier geboren und aufgewachsen sind - sich in ihren Verhaltensweisen und Einstellungen deutlich von gleichaltrigen Deutschen unterscheiden. Mit den vielfältigen - ohnehin fragwürdigen - Versuchen, die aktuelle Jugendgeneration in Deutschland mit neuen Attributen zu versehen und zu beschreiben, wird die Lebenswirklichkeit dieser Jugendlichen nicht erfaßt.
Autoritaristische Einstellungen und hohe Gewaltbereitschaft unter türkischen Jugendlichen Bereits in ihrer Gewalt -Studie1 haben Heitmeyer und seine Mitarbeiter bei der Befragung einer Teilgruppe von 313 ausländischen Jugendlichen festgestellt, daß, entgegen den Erwartungen, die befragten Jugendlichen weniger emotionale Unterstützung durch ihre Familien erhalten als deutsche Jugendliche. Gleichzeitig wurde ein höheres Maß an Angst unter ausländischen Jugendlichen festgestellt als unter deutschen. Hinzu kam, daß das Selbstwertgefühl bei ausländischen Jugendlichen schwächer ausgeprägt war als bei deutschen Gleichaltrigen. Heitmeyer wies darauf hin, daß sich hier ein gefährliches Potential andeute, da bei den nichtdeutschen Jugendlichen höhere Werte bei den autoritaristischen Einstellungen festzustellen waren und gleichzeitig eine hohe Akzeptanz gegenüber Gewalt zu erkennen war.2
In einer 1995 durchgeführten groß angelegten Befragung haben Heitmeyer und seine Mitarbeiter den Grad der Integration türkischer Jugendlicher - als der größten Gruppe inländischer Jugendlicher mit ausländischem Paß - untersucht. Befragt wurden 1221 Jugendliche aus 63 Schulklassen allgemein- und berufsbildender Schulen Nordrhein-Westfalens. Aufgrund der Verteilung von Alter, Geschlecht, Schulform und Erhebungsregion gehen die Bielefelder Wissenschaftler davon aus, daß die Ergebnisse ein hohes Maß an Verallgemeinerbarkeit aufweisen. Ich will im folgenden einige der Aussagen der Studie referieren, die die größte Brisanz beinhalten.
Zwei von drei befragten Jugendlichen sind der Meinung, daß der Islam die einzig rechtsgläubige Religion ist. Alle anderen hier auf der Erde Lebenden sind danach Ungläubige. Nach dem Ende des Kommunismus gehe es nun mit dem Kapitalismus bergab; die Zukunft gehöre allein dem Islam. Davon ist bereits die Hälfte der türkischen Jugendlichen bei uns überzeugt.3
Attraktive Angebote islamistischer und fundamentalistischer Gruppen Milli Görus zählt nach dem Verfassungsschutzbericht inzwischen 26.000 Mitglieder. Die Organisation besteht seit 1985 in Deutschland. Sie verfügt über 200 Moscheen, die sie in Hallen, Fabriketagen, Ladenzeilen und Wohnblocks eingerichtet hat. Dort wird aber nicht nur gebetet und den Reden des Hodschas gelauscht, Milli Görus versteht es, durch Angebote wie Hausaufgabenhilfe, Computer- und Karatekurse, Zeltlager, Sportstudios und Fußballvereine die Jugendlichen anzulocken. Auch praktische Hilfe bei der Jobsuche und Betreuung nach Gefängnisaufenthalten gehören zum Begleitprogramm der Moscheen. Sie haben es verstanden, ein attraktives Programm für ihre Zielgruppe zu schaffen. Dies fällt ihnen auch deshalb um so leichter, als türkische Jugendliche von den traditionellen Jugendeinrichtungen häufig ausgegrenzt und ausgesperrt werden. Zudem erreicht Milli Görus damit nicht nur männliche Jugendliche, sondern auch Türkinnen, die in deutschen Freizeiteinrichtungen noch immer deutlich unterrepräsentiert sind.4 Von den in Deutschland lebenden türkischen Jugendlichen fühlen über ein Drittel ihre Interessen von Milli Görus gut oder zumindest teilweise vertreten. Und die rechtsradikalen "Grauen Wölfe", die 1978 in Frankfurt gegründet wurden und deren Vorsitzender Alpaslan Türkes vor kurzem in der Türkei gestorben ist, können mit ebensoviel Zuspruch rechnen. Die Anhänger dieser beiden Gruppierungen setzen sich überwiegend aus Hauptschülern mit schlechten Schulabschlüssen und dürftigen Berufsaussichten zusammen.
Gewaltbereitschaft... Zur Gewaltbereitschaft haben Heitmeyer und seine Mitarbeiter mit denselben Instrumentarien gearbeitet wie in der Gewalt -Studie. So lassen sich die Ergebnisse gut vergleichen. Auf die Frage "Ist es in den letzten 12 Monaten vorgekommen, daß sie Sachen von anderen absichtlich zerstört oder beschädigt haben?" antworteten 23,9 Prozent der türkischen und 9,8 Prozent aller westdeutschen Jugendlichen mit "ja". "Jemanden absichtlich geschlagen oder verprügelt" haben nach eigenen Angaben 26 Prozent der türkischen und 12,2 Prozent aller westdeutschen Jugendlichen. ƒhnliche Ergebnisse weisen die Fragen nach der Bedrohung anderer (18,1 Prozent bzw. 7,5 Prozent), Wegnahme einer Sache mit Gewalt (17,6 Prozent bzw. 7,7 Prozent) und Einbruch (13,8 Prozent bzw. 3,4 Prozent) auf. Die eigene Betroffenheit von Gewalttaten anderer ist bei türkischen Jugendlichen ebenfalls doppelt bis dreimal so hoch wie bei gleichaltrigen Deutschen.
... aus nationalistischen und fundamentalistisch religiösen Gründen Besonders die Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Islam und Gewaltbereitschaft und Nation und Gewaltbereitschaft haben bei ihrer Veröffentlichung zu heftigen Reaktionen geführt. "Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, mich mit körperlicher Gewalt gegen Ungläubige durchzusetzen." Dieser Aussage stimmen 8,3 Prozent der Befragten voll zu, und weitere 17,4 Prozent stimmen zu. Etwa ebenso viele sagen: "Wenn es der islamischen Gemeinschaft dient, bin ich bereit, andere zu erniedrigen." 10,9 Prozent oder 17,6 Prozent stimmen zu, wenn nach der Rechtfertigung von Gewalt bei der Durchsetzung des islamischen Glaubens gefragt wird. Und fast jeder vierte Befragte ist der Auffassung "Wenn jemand gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten." Ein Drittel der Jugendlichen meint, wenn es um die nationalen Interessen der Türkei gehe, müsse man zur Gewalt greifen; und mehr als 40 Prozent sind bereit, zur Gewalt zu greifen, wenn es um die nationale Ehre geht, oder würden sogar ihr Leben opfern, um den Einfluß der Türkei zu stärken.5
Gerade diese letzten Aussagen dürften nicht überbewertet werden, warnten inzwischen einige; dies sei nur vor dem Hintergrund des Bosnienkrieges zu verstehen und keinesfalls auf innerdeutsche Auseinandersetzungen zu übertragen.6 Wie dem auch sei, unbestritten gibt es unter türkischen Jugendlichen in Deutschland ein erhebliches Gewaltpotential, das in engem Zusammenhang mit dem Glauben und dem nationalen Ehrgefühl steht.
Die Reaktion der Mehrheitsgesellschaft: Verharmlosung oder Dramatisierung Lange Zeit hatte man geglaubt, daß die zweite und dritte Generation von Türken in Deutschland die Integrationsprobleme ihrer Väter und Großväter nicht mehr hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Jetzt rächt es sich, daß man quasi nur auf Zeit setzte und konsequente Integrationsbemühungen unterließ. Offensichtlich ist es so, daß es die dritte Generation noch schwerer hat als die erste und zweite. Das Nähren der Heimkehrillusion stellte für die erste Generation der Ausländer einen der Mechanismen dar, die es möglich machten, die "marginale Situation und die damit verbundene Anomie" zu ertragen (Hoffmann-Nowotny). Für die zweite und dritte Generation gilt diese "Exit"-Variante nicht mehr. Gibt es für sie nur noch die "Kultur der Gewalt"?7
Als die oben wiedergegebenen Zahlen Anfang 1996 in Bielefeld der Öffentlichkeit vorgetragen wurden, soll eine Tagungsteilnehmerin empört gerufen haben: "Diese Zahlen dürfen nicht an die Öffentlichkeit!"8
Wilhelm Heitmeyer beklagt zu Recht einerseits eine "linksliberale Verharmlosung" und andererseits eine "rechtskonservative Dramatisierung": "Den ersteren können die Ausmaße nicht passen, den letzteren nicht dessen Ursachen, nämlich die Sozialisationsbedingungen jener ,einheimischen Jugendlichen mit türkischem Paß` in der Bundesrepublik."9
Aber wenn es denn so einfach wäre, die Ursachen zu benennen! Sicherlich zählen die mangelnde Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft dazu und die sozialen Verwerfungen der jüngsten Zeit. Heitmeyer drückt es folgendermaßen aus: Mit der Zuspitzung sozialer und ökonomischer Krisen gehe auch in Deutschland eine Ethnisierung sozialer Konflikte einher. Es sei eine Illusion zu glauben, daß Arbeitsplatzabbau, Abbau sozialstaatlicher Leistungen und der Abbau der Zahl der Ausbildungsplätze ausgerechnet am Zustand unserer ethnisch-kulturell vielfältigen Gesellschaft spurlos vorübergehen würde. Auf seiten der Türken ließen sich Vorurteile und Ressentiments vieler Deutscher gegenüber der islamischen Religion zur Binnenintegration funktionalisieren. Vieles deute darauf hin, "daß einige Vertreter türkischer Interessenverbände zur Mobilisierung ihrer Mitglieder von einem ,Feindbild Islam` geradezu abhängig sind, um sich deren bedingungsloser Loyalität zu versichern"10.
In Verlockender Fundamentalismus werden eine Reihe weiterer Erklärungsansätze geliefert. Dies passiert in unsystematischer Weise und bleibt unbefriedigend. Allerdings ist es nicht unbedingt den Autoren anzulasten. Ihr Ringen um einen ersten Theorieansatz und das Sammeln von Versatzstücken einer Deutung weisen auf die große Lücke in der bisherigen Forschung hin. Im übrigen liefert die Veröffentlichung eine Reihe wichtiger Materialien zur Lebenssituation türkischer Jugendlicher bei uns.
Sozialisationsbedingungen und Selbstisolierung Daß die nach wie vor vorhandenen - und offensichtlich zunehmenden - Probleme des Zusammenlebens mit den hier lebenden Fremden moslemischer Herkunft nicht problemlos als Reaktion auf ausländerfeindliche Geschehnisse und integrationsablehnende Haltungen der Mehrheitsgesellschaft interpretiert werden können, darauf deutet einiges hin.11
Ein Problem, mit dem die Praxis der Jugendarbeit permanent konfrontiert ist, die gewollte - oder ungewollte - Selbstisolierung moslemischer Jugendlicher, wird durch die Untersuchung der Bielefelder Forschungsgruppe eindringlich bestätigt. Auf die Frage, ob sie lieber unter sich bleiben wollen, antworten die Jugendlichen selbstverständlich mit "nein". Das massive Auftreten der Jungen in den Jugendeinrichtungen, die Verständigung in ihrer Landessprache, die Vorliebe für Musik aus ihrem Heimatland und so manche zumindest ungeschickte Verhaltensweise führen meist sehr schnell dazu, daß in einer Jugendeinrichtung als erste die deutschen Mädchen wegbleiben, dann andere Gruppen; und ganz schnell ist die Besucherstruktur sehr einseitig geworden. Oder aber, die zweite Möglichkeit: Die türkischen, marokkanischen Jungen erhalten von den Jugendarbeitern von vornherein solche Auflagen, daß sie sich ausgegrenzt fühlen oder tatsächlich ausgegrenzt werden.
Türkische Jugendliche weisen unter den nichtdeutschen Jugendlichen eindeutig die ungünstigsten Sozialmerkmale auf, was die Schichtzugehörigkeit der Eltern, den Schulbesuch oder die Wohnverhältnisse angeht.12 Sie unterliegen einer besonderen Benachteiligung und leben ganz besonders von der deutschen Bevölkerung zurückgezogen. Im Vergleich zu den anderen Nationalitäten gibt es bei den türkischen Schülerinnen und Schülern noch einen erheblichen Nachholbedarf, was die Schulabschlüsse angeht. Von den 45<%10>0<%0>000 Jugendlichen mit türkischem Paß sind lediglich 3<%10>0<%0>000 (6,6 Prozent) Abiturienten und 8<%10>4<%0>000 (18,4 Prozent) Realschüler, aber fast drei Viertel Hauptschüler. Dagegen erreichen etwa Jugendliche aus dem ehemaligen Jugoslawien zu 32,9 Prozent die Mittlere Reife und zu 16,6 Prozent das Abitur.13
Rund 80 Prozent der deutschen Jugendlichen nehmen eine Ausbildung im dualen System auf. Von den Jugendlichen mit ausländischem Familienhintergrund sind es nur 40 Prozent.14 Besonders niedrig liegt die Ausbildungsbeteiligung bei türkischen Jugendlichen.15 Sie brechen zudem ihre Lehre überproportional häufig vorzeitig ab und so bleiben immer noch - trotz stetig steigender Ausbildungsbeteiligung - etwa 40 Prozent eines Jahrgangs auf Dauer ohne jegliche Ausbildung im Anschluß an die Schulpflicht; von den deutschen Jugendlichen sind es 14 Prozent je Jahrgang. Gleichzeitig sind die türkischen Jugendlichen einem erheblichen Erwartungsdruck von seiten der Eltern ausgesetzt und setzen sich auch selbst unter Erfolgsdruck. Dreiviertel von ihnen wollen die berufliche und soziale Position der Eltern übertreffen. In der Realität existiert eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Wünschen und Erwartungen und den tatsächlichen Chancen.
Jugendliche mit ausländischem Paß verbringen mehrheitlich ihre Freizeit mit Freunden und Bekannten der eigenen Ethnie. Dies gilt für 60 Prozent der italienischen und für 81 Prozent der türkischen Jugendlichen. Zwei Drittel der deutschen Jugendlichen sind in einem Sportverein oder gehören einem anderen Verein oder einer Jugendorganisation an. Von den nichtdeutschen Jugendlichen ist es noch nicht einmal jeder zweite. Die türkischen Jugendlichen befinden sich dabei ganz am unteren Ende.16 Und von den Vereinsmitgliedern mit ausländischem Paß bleiben immer mehr auch in diesen Vereinen unter sich. Die Anzahl der eigenethnischen Vereine unter den in Deutschland lebenden Ausländern hat sehr stark zugenommen.17
Der Anteil der türkischen Jugendlichen, die nie Kontakt mit Deutschen in der Freizeit haben, steigt an; gleichzeitig nimmt aber der Anteil derjenigen, die gelegentlich Kontakt mit Deutschen in der Freizeit haben, ab. Das heißt, es findet hier offensichtlich eine Polarisierung statt.18 Zwei Drittel der türkischen Jugendlichen äußern den Wunsch nach mehr Kontakten zu deutschen Jugendlichen. Etwa 28 Prozent lehnen einen intensiveren Kontakt ab. Allerdings sagen auch gleichzeitig über 70 Prozent, daß sie sich in Deutschland unter Türken wohler fühlen als unter Deutschen.19
Diese Haltung ist nicht nur bei den Jugendlichen festzustellen. Auch in der Elterngeneration nehmen die gegenseitigen Kontakte zwischen Deutschen und Türken ab. Während 1990 31 Prozent angaben, keine deutschen Kontaktpersonen in ihrem sozialen Umfeld zu haben, war der Anteil vier Jahre später auf 56 Prozent angewachsen.
Rückzug und Distanz zum kalten und feindlichen Umfeld Was den selbstgewählten Rückzug angeht, spielt die Religion eine wichtige Rolle. Nach einer Befragung unter Moscheebesuchern in Duisburg Anfang der 90er Jahre durch den Publizisten Metin Gür hatten 97 Prozent keinen Kontakt zu Deutschen, noch nicht einmal zu ihren direkten Nachbarn. Ausnahmslos alle Befragten gaben an, daß sie dagegen seien, daß ihre Töchter einen Deutschen heiraten.20 Der Berliner Journalist Eberhard Seidel-Pielen erklärt den Anfang dieser selbstgewählten Isolierung folgendermaßen: "Vieles, mit dem vor allem die aus dem bäuerlichen Milieu stammenden Zuwanderer zwangsläufig konfrontiert wurden, war schlicht ,Ayip` (Schande), die man als ,bittere Pille der Fremde` notgedrungen schlucken mußte." Über lange Strecken hatten sie demnach nur ein pragmatisches Verhältnis zu ihrem Einwanderungsland: Deutschland war gut zum Geld-Machen, "darüber hinaus aber ein eher gefährliches, kaltes und auch feindliches Terrain, in das man sich nicht allzu weit hinauswagen wollte". In diesen Familien wurde streng darüber gewacht, daß über die notwendige Begegnung am Arbeitsplatz oder in der Schule hinaus kein intensiver Kontakt und Austausch zwischen Türken und Deutschen entsteht, damit die eigene, als erhaltenswert eingestufte kulturelle Identität und die eigenen Werte nicht in Frage gestellt werden.21
Hohe Übereinstimmung zwischen Eltern und Kindern Interessant ist, daß ein Teil der türkischen Jugendlichen heute ganz ähnliche Meinungen vertritt. Der 22jährige Cemal etwa fragt provokativ, an wen er sich denn bitteschön anpassen solle, "an deutsche Trinker und Schweinefleischfresser, die im Sommer nackt an türkischen Stränden liegen?"22 Mehr als die Hälfte der Eltern der befragten Jugendlichen legt großen oder sehr großen Wert darauf, daß ihre Kinder anders leben als die meisten ihnen bekannten Deutschen.23
Die 17jährige Ayse meint: "Also, ich denke, daß islamische Familien viel besser sind als christliche, weil, bei islamischer Religion sagen deine Eltern, du sollst das auch nicht machen, und das kannst du machen, und bei Deutschen, da höre ich immer, die Eltern erlauben alles. ... Ich finde es schon richtig, daß sie (die eigenen Eltern) etwas streng sind."24 Damit steht sie nicht allein: Fast die Hälfte der türkischen Jugendlichen meint, ihre deutschen Altersgenossen hätten zu viele Freiheiten.25 Die "alten Werte" stehen bei den türkischen Jugendlichen hoch im Kurs (Leistungsbereitschaft, Ordentlichkeit, Fleiß, Achtung vor den Eltern, Gehorsam - in dieser Reihenfolge). Sie haben damit eine erkennbar andere Orientierung als deutsche Jugendliche und liegen mit ihren Vorstellungen und Werten näher an denen ihrer Eltern als die deutschen Jugendlichen.
Über 50 Prozent wollen ihre Kinder später in eine Koranschule schicken. Und deutlich mehr als zwei Drittel aller Jugendlichen - und zwar mehrheitlich Jungen - geben an, daß religiöse Ziele in der Kindererziehung für sie wichtig oder sehr wichtig seien.26 Geschlechtertrennung im Sport wird von jedem vierten Jugendlichen befürwortet.27
Identitätssuche unter dem Einfluß türkischer Medien Für Eberhard Seidel-Pielen ist die neuerdings starke Hinwendung zur Religion ein Ausdruck der kulturellen Identitätssuche. "Je mehr türkische und arabische Jugendliche von der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt werden, desto wichtiger wird einem Teil von ihnen die Religion."28 Reicht das als Erklärung aus?
Welche Rolle spielen die politischen Veränderungen in der Türkei, und welchen Einfluß haben die Medien? Fernsehen ist bei der türkischen Bevölkerung bei weitem die beliebteste Freizeitbeschäftigung, auch Kinder und Jugendliche verbringen durchschnittlich erheblich mehr Zeit vor dem Fernsehgerät als ihre deutschen Altersgenossen. Deutschsprachige Sender schneiden in der Zuschauergunst dabei sehr schlecht ab. Das Essener Zentrum für Türkeistudien berichtet, daß 57 Prozent der türkischen Migranten nie ein deutschsprachiges Fernsehprogramm einschalten. ARD, ZDF, RTL und SAT 1 erreichen gerade einmal Einschaltquoten zwischen 3,5 und 1,5 Prozent der Haushalte - Tendenz rückläufig.29 Seit 1990 existieren eigene türkische Fernsehsender, die über das Kabelsystem eingespeist oder über Satellit empfangen werden können. Sie sind bei den Jugendlichen nicht nur deshalb so beliebt, weil sie nach ihrer Auskunft auch türkische Pop- und Rapmusik spielen, die moderne Türkei zeigen und dadurch einen "neuen Stolz" auf die Abstammung vermitteln. Die meisten der inzwischen hier zu empfangenden türkischen Sender stehen der islamischen Wohlfahrtspartei (Refah-Patisi) nahe und sind stark religiös geprägt.
Lasen noch 1981 knapp 40 Prozent der türkischen Haushalte eine Zeitung aus der Heimat, liegt der Anteil heute bei über 90 Prozent. "Dies, obwohl eine Generation heranwächst, die besser Deutsch als Türkisch spricht."30 Das Weltbild dieser Presse ist schlicht: Freund-Feind, gut-böse, schwarz-weiß.
(Des-)Integration, Parallelgesellschaft und politische Freiheit Noch einmal zurück zu Heitmeyers Erklärungsansatz. Wie schon bei der Ursachenforschung rechtsradikaler und ausländerfeindlicher Gewalt stellt der Bielefelder Soziologe das "Desintegrations-Theorem" in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.31 Es beschreibt Auflösungsprozesse von Beziehungen und Lebenszusammenhängen, Auflösungsprozesse der faktischen Teilnahme an gesellschaftlichen Institutionen und Auflösungsprozesse der Verständigung über gemeinsame Wert- und Normenvorstellungen. Heitmeyer beschreibt die Entwicklung der Moderne als Negativ-Spirale: "Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit; je mehr Gleichheit, desto mehr Konkurrenz; je mehr Konkurrenz, desto weniger Solidarität; je weniger Solidarität, desto mehr Vereinzelung; je mehr Vereinzelung, desto weniger soziale Einbindung; je weniger soziale Einbindung, desto mehr rücksichtslose Durchsetzung."32 An anderer Stelle prophezeit Heitmeyer, daß Desintegration zum Schlüsselbegriff zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen avancieren werde.33 Zu Recht ist dagegen eingewandt worden, daß das Maß an Desintegration im einzelnen nicht zu fassen sei und Jugendliche doch sehr unterschiedlich auf gesellschaftliche Krisen und persönliche Problemlagen reagierten. Ob Heitmeyers Desintegrationstheorem nun durch den Rückgriff auf Durkheims Begriff der "Anomie" in der modernen Gesellschaft untermauert werden kann, bleibt abzuwarten.34 Ulrich Beck wirft übrigens in Die Kinder der Freiheit" jüngst genau die gleichen Fragen wie Heitmeyer auf: "Was hält die Moderne eigentlich zusammen? Welche Bindungen stiftet das Auflösungszeitalter?" Und er macht auch gleich seine Skepsis deutlich gegen die Notwendigkeit und Möglichkeit von "Integration" in der modernen Gesellschaft. Allein die Suche nach dem "wie" der Integration zeige eine Parteilichkeit für ein veraltetes, auf (abrufbaren) Konsens gegründetes Gesellschaftsmodell.35 Die Symptome der sogenannten "Egogesellschaft" könnten Becks Ansicht nach nicht durch weniger, sondern müßten durch mehr, durch politische Freiheit bekämpft werden.36 Seine Hoffnung ist es, daß an die Stelle einer Welt traditioneller Sicherheiten "die demokratische Kultur eines rechtlich sanktionierten Individualismus für alle" steht.37 Statt der bisherigen Integrationsmittel Religion, Kriege, Wohlstand und Wahlen, entwickeln sich für Ulrich Beck nun "politische Freiheit", "Citizenship" und "Selbstorganisation der Individuen" zu Schlüsselbegriffen. Soviel zu der Kontroverse, aus welcher Sichtweise die gesellschaftlichen Ambivalenzen zu bewerten sind. Dies ist aber hier nicht das Thema.
Auch für Wilhelm Heitmeyer ist die Multikulti-Gesellschaft nicht gescheitert, die Frage aber, wie die Entwicklung zu "Parallelgesellschaften" aufgehalten werden kann, bleibt für ihn offen.38
Gemeinsame Verantwortung für eine offene und demokratische Gesellschaft Bahman Nirumand hat auf die unsägliche Spiegel -Story über die "gefährlichen Fremden" und das "Scheitern der Multikulturellen Gesellschaft" geantwortet, in Deutschland gebe es inzwischen eine 40 Jahre alte gemeinsame Geschichte des Zusammenlebens. 40 Jahre Zusammenleben, das heißt auch, 40 Jahre gegenseitige Beeinflussung. Eine deutsche Gesellschaft gibt es nicht mehr! "Die Verantwortung für die Probleme der Jugend, deutsche und nichtdeutsche, tragen wir gemeinsam." Die gemeinsam aufgebaute offene demokratische Gesellschaft, so Nirumand weiter, sei nicht mehr auf Toleranz der Mehrheit gegenüber der Minderheit angewiesen. Gefordert sei die Bereitschaft, permanent mit Konflikten umzugehen und sie gemeinsam zu lösen. Die bisherige Politik, die darauf ausgerichtet war, Menschen unterschiedlicher Herkunft in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, sei allmählich vorbei. Gefragt sei jetzt - ganz im Sinne Ulrich Becks übrigens - eine Weiterentwicklung der modernen demokratischen Gesellschaft. "Auf diesem Weg gibt es keine Trennung von Deutschen und Ausländern. Diesen Weg müssen wir weiter gemeinsam gehen."39
Anhang 4:
http://www.fes.de/fulltext/asfo/00227001.htm#LOCE9E1
1. Überblick über die Zuwanderungen nach Deutschland seit 1945
1.1. Vertriebene und Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten, der SBZ und der DDR (1945-1960)
Seit Mitte der 30er Jahre bis Ende des Zweiten Weltkrieges sind in Deutschland die industriellen Kapazitäten infolge der Rüstungskonjunktur und der Kriegswirtschaft in sehr starkem Maße ausgeweitet worden. Die damit zusammenhängende Erhöhung der industriellen Produktion war nur mit Hilfe der ausländischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen möglich gewesen. Ihre Zahl belief sich im Sommer 1944 auf etwa 7,7 Mio. Dagegen blieb die Zahl der erwerbstätigen deutschen Frauen während des Krieges relativ unverändert. Die ausländischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen kehrten nach Kriegsende in ihre Heimatländer zurück. Die heimkehrenden deutschen Soldaten konnten die dadurch entstehenden Lücken in den Betrieben nur unvollständig ausfüllen. In der ersten Nachkriegszeit lagen deshalb große Teile der Produktionsanlagen still
Als 1948 die Währungsreform durchgeführt wurde und der wirtschaftliche Aufschwung in den drei Westzonen Deutschlands begann, zeigte sich, daß diese Industriekapazität von großem Nutzen war. Zwei Faktoren kamen ergänzend hinzu: Einmal floß Kapital infolge der amerikanischen Auslandshilfe im Zuge des Marshallplanes nach Deutschland, und zweitens war eine ausreichende Zahl von Arbeitskräften vorhanden. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß bis 1950 8,3 Mio. Vertriebene und Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) in die (alte) Bundesrepublik Deutschland gekommen waren. Auch zwischen 1950 und 1960 entfielen mehr als 90 % des Bevölkerungszuwachses der Bundesrepublik Deutschland auf Flüchtlinge und Vertriebene. Die Gruppe der Vertriebenen und Flüchtlinge machte 1960 fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung der damaligen Bundesrepublik Deutschland aus. Von 1949 bis 1961 kamen mindestens 2,7 Mio. Menschen aus der damaligen DDR als "Republikflüchtlinge" nach Westdeutschland (Bade, 1992b: 402).
Aus diesen Daten wird deutlich, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen die entstandenen Arbeitskräftelücken ausgefüllt haben. Ohne sie wäre also schon in den 50er Jahren ein erhebliches Defizit an Arbeitskräften entstanden. Herbert (1986: 182) führt aus: "Ohne das 'Wirtschaftswunder' wäre die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen, ohne deren zusätzliches Arbeitskräftepotential wäre das 'Wirtschaftswunder' nicht möglich gewesen."
Allen Wanderungsbewegungen ist es jedoch eigen, daß der Prozeß der Integration der Migranten nicht linear und reibungslos verläuft. Diese Feststellung trifft auch auf die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus der damaligen SBZ bzw. DDR zu. Gerade angesichts der aktuellen Diskussion um die Aufnahme von Asylbewerbern erscheint es wichtig zu erinnern, daß in der Nachkriegszeit gegenüber der Zuwanderung dieser vielen Millionen Menschen erhebliche Befürchtungen bestanden haben. Engpässe wurden in der Wohnraumversorgung und bei den Arbeitsplätzen vermutet; Ängste bestanden hinsichtlich des Zusammenlebens von Einheimischen und Hinzugewanderten. Befürchtet wurde weiterhin eine Rechtsradikalisierung der Vertriebenen. Es kann heute festgestellt werden, daß politische Gefährdungen und soziale Spannungen nicht in dem Maße auftraten, wie sie unterstellt worden waren. Andererseits kam es in Hinsicht auf die Wohnungsproblematik und die Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu erheblichen Reibungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen und Vertriebenen (Herbert, 1986: 183 f.).
Es gibt sicher eine Reihe struktureller Ähnlichkeiten der Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen der Nachkriegszeit und von ausländischen Arbeitskräften und ihren Familienangehörigen. Es gibt aber auch wesentliche Unterschiede: Bei den Flüchtlingen und Vertriebenen handelte es sich um Personen deutscher Nationalität und Sprache. Daher traten keine ausländerrechtlichen Probleme oder Sprachschwierigkeiten auf. Überfremdungsängste oder rassistische Abwehrreaktionen der Bevölkerung blieben fast vollständig aus. Ein Großteil der Vertriebenen selbst sah die Rückkehr in die ehemalige Heimat als auf längere Sicht nicht realistisch an. Dies erklärt ihre Integrationswilligkeit. Auch bei den deutschen Behörden und den Alliierten gab es das Bestreben, die Ostvertriebenen auf Dauer in Westdeutschland anzusiedeln und ihre soziale, politische und wirtschaftliche Gleichberechtigung und Integration zu fördern.
Außerdem waren die Vertriebenen und Flüchtlinge eine sozial heterogene Gruppe. Ein Teil von ihnen fand Anschluß an die Mittel- und Oberschicht der westdeutschen Gesellschaft und konnte eine durchsetzungsstarke Interessensgruppe bilden.
Besonders erwähnenswert ist, daß die Vertriebenen und Flüchtlinge selbstverständlich das Wahlrecht hatten und daher für die deutschen Parteien politisch ein ernst zu nehmender Faktor waren. Sie wurden sowohl in der Programmatik als auch in der politischen Praxis berücksichtigt (Herbert, 1986: 183). Es sei daran erinnert, daß unzufriedene Vertriebene und Flüchtlinge eine eigene Partei gründeten (BHE), als 1950 die Restriktionen der Alliierten wegfielen. Im Jahre 1953 hatte der BHE 27 Mitglieder im Deutschen Bundestag und konnte zwei Minister in die Bundesregierung entsenden. In den frühen 60er Jahren verlor sie ihr politisches Gewicht, weil sie die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft unterstützte (Thränhardt, 1991: 11).
Als die damalige Bundesrepublik Deutschland Mitte der 50er Jahre und verstärkt nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 mit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte aus dem Mittelmeerraum begann, lagen die Auseinandersetzungen und Probleme mit der Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge schon länger zurück. Herbert weist darauf hin, daß durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in den bundesdeutschen Arbeitsmarkt der Zwangsarbeitereinsatz zwischen 1939 und 1945 in der Öffentlichkeit als ein kriegsbedingter Sonderfall dargestellt werden konnte:
"So konnte 15 Jahre nach Kriegsende die massenhafte Beschäftigung von Ausländern unter der Fiktion der Voraussetzungslosigkeit wieder aufgenommen werden, ohne daß die Einstellungen und Haltungen gegenüber den 'Fremdarbeitern' während des Krieges in den 50er Jahren eine öffentliche, kritische Bearbeitung erfahren hätten" (Herbert, 1986: 186).
1.2. Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer seit 1955 und Nachzug ihrer Familienangehörigen
Die Entwicklung des Arbeitsmarktes der Bundesrepublik Deutschland von 1952 bis 1955 war durch den Rückgang der Arbeitslosenquote von 9,5 % auf 5,6 % bei gleichzeitiger Zunahme der offenen Stellen von ca. 110.000 auf 200.000 gekennzeichnet. Der wachsende Arbeitskräftebedarf veranlaßte die deutschen Betriebe, sich nach arbeitslosen oder unterbeschäftigten Arbeitnehmern außerhalb der Grenzen umzusehen. Andererseits wirkte der rasche Aufschwung der Produktion anziehend auf nicht-deutsche Staatsangehörige aus Ländern, deren wirtschaftliche Entwicklung langsamer voranschritt. Die Einzelwanderungen von Arbeitnehmern aus diesen Ländern in die Bundesrepublik Deutschland nahmen zu. Ende Juli 1955 waren bereits ca. 80.000 Ausländer in der (alten) Bundesrepublik Deutschland beschäftigt. Davon stammten etwa 10 % aus Italien. Daher wurde von italienischer Seite im Rahmen deutsch-italienischer Wirtschaftsverhandlungen der Abschluß eines Abkommens über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach Deutschland angeregt. Diese Anwerbevereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der italienischen Republik wurde am 20. Dezember 1955 geschlossen (Mehrländer, 1974: 11).
In den Jahren 1955 bis 1960 sank die Arbeitslosenquote der Bundesrepublik Deutschland weiter, während die Zahl der offenen Stellen stieg. Von 1955 auf 1960 verdreifachte sich die Ausländerbeschäftigung. Im Jahre 1960 lag die Zahl der offenen Stellen erstmals höher als die Zahl der Arbeitslosen. Ende Juli 1960 waren in der Bundesrepublik Deutschland ca. 280.000 ausländische Arbeitnehmer tätig, von diesen ausländischen Arbeitnehmern waren 44 % Italiener. Außerdem arbeiteten ca. 13.000 Griechen, 9.000 Spanier, 9.000 Jugoslawen und ca. 2.500 Türken in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Entwicklung bildete den Hintergrund für den Abschluß von Anwerbevereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Spanien (1960), Griechenland (1960), der Türkei (1961) und Portugal (1964). Über die Beschäftigung tunesischer Arbeitnehmer im Bundesgebiet gibt es seit 1965 eine vertragliche Regelung. Im März 1966 ist der seit Mai 1963 mit Marokko bestehende Vertrag über die Beschäftigung von Marokkanern in der BRD geändert und ergänzt worden.
Schließlich wurde im Oktober 1968 die deutsch-jugoslawische Vereinbarung über die Anwerbung von Arbeitnehmern geschlossen.
Dem Abschluß der Anwerbevereinbarungen gingen in der Bundesrepublik Deutschland Beratungen zwischen Bundesregierung, Vertretern der Bundesanstalt für Arbeit, den Arbeitgebern sowie den Gewerkschaften voraus. Die Arbeitgeber rechneten mit einer baldigen Erschöpfung der inländischen Arbeitskräftereserven und waren bestrebt, eine grundsätzliche Entscheidung für die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer herbeizuführen. Die Gewerkschaften sahen dagegen in der Ausländerbeschäftigung die Gefahr, daß die ausländischen Arbeitnehmer als Lohndrücker verwandt werden könnten. Sie setzten daher die tarifliche und sozialrechtliche Gleichbehandlung der angeworbenen ausländischen Arbeitnehmer mit vergleichbaren deutschen Arbeitnehmern durch. Die Bundesregierungen sahen es als ihre Aufgabe an, die Wirtschaft mit Arbeitskräften zu versorgen. Der Umfang der Ausländerbeschäftigung ergab sich demgemäß aus der Entwicklung des Arbeitsmarktes. Kritisch angemerkt werden muß, daß soziale Gesichtspunkte wie z. B. Wohungsversorgung der ausländischen Arbeitnehmer, Familienzusammenführung und Schulbildung der Kinder erst relativ spät berücksichtigt worden sind (Mehrländer, 1978: 115 f).
Ergänzend soll hinzugefügt werden, daß das Abkommen mit Italien unter dem Aspekt der Artikel 48 und 49 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Verordnung Nr. 38/64 EWG, den Richtlinien 64/240 EWG und 64/221 EWG gesehen werden muß. Dort sind die Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Staaten der Europäischen Gemeinschaft enthalten. Diese EWG-Regelungen fanden in der Neufassung der Anwerbevereinbarung vom 23. Februar 1965 Berücksichtigung.
Aufgrund dieser Anwerbevereinbarungen, von denen nur diejenigen mit Marokko und Tunesien relativ unbedeutend geblieben sind, stieg die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der 60er Jahre sprunghaft an. Im Jahre 1968 wurde bereits die Ein-Millionen-Grenze überschritten, die Ausländerquote betrug 5,2 %. Bis 1971 hatte sich die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer im Vergleich zu 1968 mehr als verdoppelt und lag bei 2,2 Mio. Die Ausländerquote betrug 10,3 %. Ende September 1973 waren dann ca. 2,6 Mio. ausländische Arbeitnehmer beschäftigt. Es ist zu betonen, daß diese Zunahme der ausländischen Arbeitnehmer von einer sehr starken Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung begleitet war. Die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung lag z. B. 1968 bei 1,9 Mio., während die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer nur ca. 1 Mio. betrug. Dieses beweist eindeutig, daß bereits damals der Familiennachzug eingesetzt hatte. Bis 1973 stieg die ausländische Wohnbevölkerung kontinuierlich an und lag bei ca. 4 Mio. (König, Schultze, Wessel, 1986: 3).
Die kontinuierliche Zunahme der Ausländerbeschäftigung wurde nur infolge der Rezession 1966/67 unterbrochen. Die Arbeitgeber reagierten aufgrund der verschlechterten wirtschaftlichen Situation mit dem Abbau der Überstundentätigkeit und Entlassungen von Deutschen und Ausländern. Viele ausländische Arbeitnehmer kehrten damals in ihre Heimatländer zurück; die Neuanwerbung von Ausländern unterblieb fast völlig. In den folgenden Jahren zeichnete sich jedoch wiederum ein wirtschaftlicher Aufschwung ab, so daß die Unternehmen ihre Nachfrage nach ausländischen Arbeitnehmern erhöhten. (Mehrländer, 1978: 119).
Ende November 1973 erließ die Bundesregierung durch einseitige Erklärung und ohne vorherige Konsultation der Entsendeländer den Anwerbestopp. Begründet wurde er mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage u. a. infolge des "Ölschocks". Der Anwerbestopp wird bis heute aufrechterhalten, was bedeutet, daß keine Ausländer mehr aus Nicht-EG-Staaten zum Zwecke der Arbeitsaufnahme in die Bundesrepublik Deutschland einreisen dürfen. Nur die Nachholung von Familienangehörigen (Ehepartner und minderjährige Kinder) ist den ausländischen Arbeitnehmern auch nach 1973 möglich. Allerdings sind in der Vergangenheit vielfältige Einschränkungen in bezug auf das Alter der Kinder (16 Jahre) sowie für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis (Stichtagsregelung, Wartezeitregelung) für nachgeholte Ehegatten erlassen worden.
Die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer nahm von 1973 bis 1978 ab. 1978 betrug sie 1,8 Mio., die Ausländerquote lag bei 9,1 %. 1979 stieg die Ausländerbeschäftigung wiederum an und erreichte 1980 die Zwei-Millionen–Grenze, wie bereits 1975. In den folgenden Jahren schwankte die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer zwischen 1,9 Mio. und 1,8 Mio. Die Ausländerbeschäftigung verringerte sich erst ab 1984 deutlich und stabilisierte sich in den Jahren bis 1989 bei jeweils etwa 1,6 Mio. Ein Anstieg der ausländischen Arbeitnehmer setzte jedoch wiederum seit 1990 (1,8 Mio.) ein. Im März 1991 belief sich die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer auf 1,8 Mio. Die Ausländerquote betrug damit 8,0 %; 208.000 Ausländer waren arbeitslos, die Arbeitslosenquote lag bei 10,7 %.
Die Aufgliederung der ausländischen Arbeitnehmer nach Nationalitäten liegt für September 1990 vor. Es soll betont werden, daß von den ehemaligen Anwerbeländern inzwischen auch Griechenland, Spanien und Portugal Mitgliedstaaten der EG sind, wodurch ihre Staatsangehörigen die Freizügigkeitsregelungen in Anspruch nehmen können. Aus den sogenannten Drittstaaten kommen ca. 600.000 türkische sowie ca. 300.000 jugoslawische Arbeitnehmer. Dagegen arbeiteten 1990 nur noch ca. 180.000 Italiener, 106.000 Griechen, 61.000 Spanier und 43.000 Portugiesen in der Bundesrepublik Deutschland.
Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, daß diese Schwankungen der Zahl der ausländischen Arbeitnehmer im Gegensatz zu der Entwicklung der Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung stehen. 1973 lebten ca. 4 Mio. Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland. Bis 1979 wurde dieses Niveau in etwa gehalten. 1980, 1981 und 1982 stieg die ausländische Wohnbevölkerung, um von 1983 an wiederum abzunehmen. Diese Schwankungen sind jedoch relativ gering (1985: 4,4 Mio.). Die Zahlen von 1987 bis 1989 sind an die Ergebnisse der Volkszählung angepaßt, so daß hier ein direkter Vergleich mit den vorherigen Jahresdaten nicht geboten erscheint. 1989 belief sich die ausländische Wohnbevölkerung nach diesen korrigierten Ergebnissen auf 4,8 Mio. Ende September 1990 machte die ausländische Wohnbevölkerung bereits 5,2 Mio. aus.
Aus den ehemaligen Anwerbeländern stammten 1990 3,5 Mio. Ausländer. Der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung war 8,2 %. Die größte Gruppe sind mit ca. 1,7 Mio. die Türken, die zweitgrößte mit ca. 650.000 die Jugoslawen. 1,1 Mio. Türken sind schon länger als 10 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland ansässig, das sind 68 %. Ebenso sind ca. 500.000 Jugoslawen länger als 10 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, dieser Prozentsatz liegt bei 75 %. (BMA, 1992) In den genannten Zahlen sind 1,0 Mio. Ausländische Kinder im Alter bis unter 15 Jahren enthalten. Die Altersgruppe der 15 bis 18jährigen macht nochmals 273.000 Personen aus.
Wichtig ist, darauf hinzuweisen, daß 44 % der ausländischen Wohnbevölkerung Frauen sind. Das zeigt, daß sich in den letzten 30 Jahren große Veränderungen ergeben haben: Waren es am Anfang der Ausländerbeschäftigung die ledigen bzw. ledig gehenden Männer, die zum Zwecke der Arbeitsaufnahme eingereist sind, so kamen bereits in den 60er und 70er Jahren ausländische Arbeitnehmerinnen in die Bundesrepublik (Schultze, 1987). Weiterhin nahm infolge des Familiennachzuges der Prozentsatz an Frauen an der ausländischen Wohnbevölkerung sehr stark zu. Inzwischen kann festgestellt werden, daß sich aus diesen veränderten Strukturdaten eindeutig eine Einwanderungssituation belegen läßt. Eine neueste Prognos-Studie über die ausländischen Arbeitnehmerinnen in Nordrhein-Westfalen hat zudem nachgewiesen, daß sich die Erwerbsquote der türkischen Frauen inzwischen derjenigen der deutschen Frauen angenähert hat und bei 30 % liegt (General Anzeiger, 23.3.1992). Ergänzend soll hinzugefügt werden, daß die Ausländergeburten von 1975 bis 1990 insgesamt 1,18 Mio. ausmachten. 1989 lag die Zahl der ausländischen Kinder, die in der Bundesrepublik Deutschland geboren worden sind, bei ca. 80.000, der Anteil der Ausländerkinder an der Gesamtzahl der Geburten betrug 11,7 % . Die Mehrzahl dieser ausländischen Kinder (52,6 %) hatte türkische Eltern (BMA, 1992). Dem deutschen Recht entsprechend sind die Kinder ausländischer Eltern, auch wenn sie in der Bundesrepublik geboren werden, Ausländer . Auf diese Problematik wird unten genauer eingegangen.
Aus der Entwicklung der Zahl und Struktur der ausländischen Wohnbevölkerung geht hervor, daß die ursprüngliche Annahme aller Beteiligten -Bundesregierung, Arbeitgeber, Gewerkschaften -, daß es sich bei der Ausländerbeschäftigung nur um ein "temporäres Phänomen" handele, widerlegt worden ist. Diese Zahlen belegen eindeutig die Einwanderungssituation in der Bundesrepublik Deutschland. Zu dieser Realität stehen jedoch die Erklärungen der Bundesregierung, "daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland sei", in krassem Widerspruch. Die damit verbundene Problematik wird an anderer Stelle dieses Berichts dargestellt werden.
1.3. Anstieg der Zahl der Asylbewerber - Zunahme der Fluchtursachen (1953-1991)
Die Zahl der Asylbewerber lag 1953 bis einschließlich 1968 bei insgesamt 70.425 Personen. In den folgenden Jahren bis einschließlich 1978 machte ihre Zahl ca. 116.000 aus. 1979 stieg jedoch die Zahl der Bewerber auf ca. 51.000, um 1980 bei 107.818 Personen zu liegen. 1981 war dann wieder eine Abnahme auf ca. 49.000 Personen zu bemerken. 1985 und 1986 nahmen die Zahlen der Asylbewerber wiederum zu. 1986 waren es ca. 100.000 Personen, die um Asyl in der Bundesrepublik Deutschland nachsuchten. Erst 1988 wurde die Zahl von 100.000 erneut überschritten. 1990 hatten 193.063 Personen um Asyl nachgesucht, 1991 waren es 256.112 Personen.
Der Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik Deutschland, Koisser, weist darauf hin, daß die Zuwanderungen von Asylbewerbern in die Bundesrepublik Deutschland nicht losgelöst von der gesamten Weltflüchtlingsproblematik betrachtet werden dürfen. Im April 1991 waren weltweit unter dem Mandat des UNHCR 17,5 Mio. Flüchtlinge. Davon befanden sich insgesamt 5,7 Mio. in Afrika, 625.000 in Asien und Ozeanien, 1,3 Mio. in Europa, 1,5 Mio. in Nordamerika, 1,2 Mio. in Lateinamerika und im karibischen Raum, und 7,2 Mio. in Südwestasien, Mittleren Osten und Nordafrika.
Hinter diesen nüchternen Zahlen verbergen sich eine ganze Reihe von Fluchtursachen. Im wesentlichen können vier zentrale Ursachenkomplexe von Flucht und Vertreibung unterschieden werden: Kriege und Bürgerkriege, repressive gesellschaftliche Strukturen und Systeme totalitärer und autoritärer Natur, wirtschaftliche Probleme, Belastung und Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen, ökologische Katastrophen (Opitz, 1991: 9). Es muß hinzugefügt werden, daß es in den wenigsten Fällen eine einzige Ursache für Flucht gibt, sondern daß i. d. R. ein Bündel von Ursachen verantwortlich ist. "Der aktuelle Anlaß, die sogenannte auslösende Ursache, ist meist nur die zeitlich oberste Schicht in einem Gemenge fluchtrelevanter Faktoren" (Opitz, 1991: 7 f.).
Seit dem 2. Weltkrieg haben mehr als 170 Kriege und Bürgerkriege stattgefunden, die größte Zahl davon in den Regionen der Dritten Welt. Damit ergibt sich die zentrale Bedeutung dieses Ursachenkomplexes. Bei diesen Konflikten können zwei Typen unterschieden werden: Zwischenstaatliche Kriege um kontroverse Grenzziehungen und innerstaatliche Konflikte. Beispiele für den ersten Typus bilden die Kriege zwischen Äthiopien und Somalia um den Ogaden oder zwischen Vietnam und Kambodscha in den 70er Jahren. Häufiger als zwischenstaatliche Kriege waren allerdings innerstaatliche Konflikte, in denen einzelne ethnische Gruppen gegen Unterdrückung und Ausbeutung aufbegehrten und um einen eigenen Staat kämpfen. Beispiele sind im Nahen Osten die Kurden und Palästinenser, in Afrika die Sahauris und die Einwohner von Eritrea und Tigre, in Asien die Kaschmiris und Sikhs, die Tamilen und die Tibeter.
Neue Probleme entwickelten sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in der Sowjetunion. Schon Anfang 1990 gab es dort infolge blutiger Nationalitätenkonflikte ungefähr eine halbe Million interner Flüchtlinge, insbesondere Russen, die die Randrepubliken verlassen mußten. Sowohl im baltischen Raum sowie in der Ukraine und im kaukasischen Bereich droht der Ausbruch gewalttätiger Konflikte. Opitz weist darauf hin, daß ein weiterer gefährlicher Konfliktherd dieses Typus auf dem Balkan durch das Auseinanderbrechen Jugoslawiens entstanden ist. Hier findet ein blutiger Konflikt zwischen einigen dieser Republiken, vor allem aber zwischen den ethnischen Gruppen innerhalb der einzelnen Republiken statt. Aber auch andere Staaten Südosteuropas, die sich auf den Territorien des nach dem ersten Weltkrieg aufgelösten osmanischen Reichs und der Habsburger Donaumonarchie bildeten, weisen ungelöste Nationalitätenkonflikte auf.
Als weitere Fluchtursachen müssen die Menschenrechtsverletzungen gelten. Verursacher sind zumeist totalitäre und autoritäre Regime, die das Streben nach partizipatorischen und pluralistischen Strukturen, nach Gerechtigkeit und Menschenrechten ablehnen. Die Repression geht dabei ebenso häufig von zivilen Regimen, wie von Militärjunten aus (Opitz, 1990: 10 f.). In Europa kann allerdings konstatiert werden, daß die Diktaturen auf der Iberischen Halbinsel und in Griechenland schon in den 70er Jahren gestürzt worden sind. Ende der 80er Jahre erfolgte auch der Zusammenbruch fast aller sozialistischer Regime in Mittel- und Osteuropa. Es sollte nicht vergessen werden, daß die Dominanz totalitärer Systeme insbesondere in großen Ostasiens politisch noch ungebrochen ist. Auch die Demokratiebewegung in China ist niedergeschlagen worden und die Verletzung der Menschenrechte hält an. Eine neue Variante totalitärer Herrschaft zeigt sich inzwischen in einer Reihe islamischer Staaten, in denen ein religiöser Fundamentalismus vorherrscht. Opfer sind hier jene Teile der einheimischen Eliten, die gegenüber demokratischen Ideen und Lebensstilen offen sind und die damit als potentielle Gegner einer Re-Islamisierung angesehen werden. Diese Aufzählung kann nicht erschöpfend sein, es gibt leider noch eine Reihe anderer Varianten (Opitz, 1991: 12).
Der Begriff "Armutsflüchtlinge" ist inzwischen in Mißkredit geraten. Er bezeichnet jedoch jene Millionen von Menschen, die auf der Flucht vor bitterster Armut und Arbeitslosigkeit ihre angestammten Regionen verlassen. Zunächst versuchen sie in den Städten des eigenen Landes, dann in Nachbarländern und anderen Regionen des "Südens" und schließlich in den Ländern des reichen "Nordens" Arbeit und Auskommen zu finden. Lange Zeit kam das Gros dieser "Armutsflüchtlinge" aus den Regionen der Dritten Welt. Seit Mitte der 80er Jahre könnte jetzt eine neue Massenwanderung von Ost nach West stattfinden. Hier werden Zahlen zwischen 2 und 25 Mio. genannt (Opitz, 1991: 13). Eine wissenschaftlich abgesicherte Prognose über die zu erwartenden Wanderungen ist nicht möglich, weil die Ursachen dieser Fluchtbewegungen höchst unterschiedlich sind. Wesentlich wird sein, ob es gelingt, vor allem in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) eine demokratische Ordnung aufzubauen, die wirtschaftliche Situation zu verbessern und die genannten Nationalitätenkonflikte zu lösen (Opitz, 1991: 13).
Eine neue Kategorie von Flüchtlingen rückte zu Beginn der 80er Jahre zunehmend in das öffentliche Bewußtsein. Hier handelte es sich um sogenannte Umweltflüchtlinge, die aufgrund einer schwerwiegenden Verschlechterung der Lebens- und Umweltbedingungen gezwungen sind, ihre Wohngebiete vorübergehend oder dauerhaft zu verlassen. Ebenso wie bei den Armutsflüchtlingen werden auch bei ihnen die Motive der Flucht immer wieder in Frage gestellt und der Status eines "Flüchtlings" wird ihnen in der Regel verweigert. Neben Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Überschwemmungen ist daran zu erinnern, daß auch die vom Menschen bewußt vorgenommenen Eingriffe in die Natur (Bau von Staudämmen, Abholzung großer Waldgebiete) zu den Fluchtursachen gehören. Ein zweiter Ursachentyp sind die Umweltzerstörungen aufgrund von Unfällen (Reaktorkatastrophen) oder bewußter "ökologischer Kriegsführung" (Entzündung Hunderter Ölquellen während des Golfkrieges von seiten des Irak). Die Schädigung der globalen Umwelt durch die modernen Wirtschaftsformen (z.B. längerfristige Erwärmung der Erde durch die Erhöhung des Kohlendioxid-Gehaltes der Atmosphäre - Treibhauseffekt) stellt in Zukunft eine weitere Ursache von Flucht- und Migrationsbewegungen dar. Denn die Veränderung des Erdklimas kann zu einer Ausdehnung von Trockenzonen und andererseits zur Überflutung von dichtbesiedelten, tiefliegenden Küstengebieten führen (Opitz, 1991: 14).
Diese verschiedensten Fluchtursachen sowie die als Beispiele angeführten Konflikte drücken sich in den Herkunftsländern der Asylbewerber aus. 1981 kamen von den ca. 49.000 Asylbewerbern im Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland 52 % aus Ländern der Dritten Welt, 20,0 % stammten aus Polen und 12,8 % aus der Türkei. 1991 betrug die Zahl der Asylbewerber ca. 256.000. Wichtig ist aber zu betonen, daß nun 53 % der Asylbewerber aus Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, der (alten) Sowjetunion und Polen kamen (BMI, 1992).
Bereits an dieser Stelle soll erwähnt werden, daß die ca. 75.000 Jugoslawen, die 1991 wegen des Bürgerkrieges in Jugoslawien in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind und um Asyl nachgesucht haben, im Grunde nicht in das Asylverfahren gehören. Auf diese Problematik wird an anderer Stelle des Berichtes noch einmal eingegangen.
1.4. Zuzug von Übersiedlern aus der DDR seit 1961 und von Aussiedlern aus Ost- und Südosteuropa
Vom Bau der Mauer im August 1961 bis Ende 1988 fanden insgesamt rund 616.000 Menschen ihren Weg von Deutschland-Ost nach Deutschland-West. Ende der 80er Jahre dominierte die legale Ausreise von "Übersiedlern". Insbesondere 1989 nutzten tausende meist junger Menschen aus der DDR ihre Urlaubsaufenthalte im "sozialistischen Ausland", um unter Vermittlung der bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit ließ das SED-Regime die geschlossenen Züge mit den "Botschaftsflüchtlingen" durch die DDR nach West-Deutschland rollen. Bade (1992b: 403) weist darauf hin, daß im "Jahr der europäischen Revolutionen" 1989 und im "Jahr der deutschen Einheit" 1990 die neue Ost-West-Wanderung insgesamt dramatisch angestiegen ist: Im Jahre 1989 kamen ca. 340.000 Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR, bis Juni 1990 noch einmal ca. 240.000. Als der Weg zur deutschen Einheit absehbar war, nahmen die Übersiedlerzahlen ab. Im Mai 1990 waren es nur noch ca. 20.000 und im Juni 1990 nur noch ca. 11.000 Übersiedler. Seit der Vereinigung Deutschlands handelt es sich um sogenannte interne Wanderungen, dementsprechend ist im Juni 1990 die Aufnahmestatistik für Übersiedler beendet worden. Seitdem gibt es nur noch Schätzungen. Für das Jahr 1991 schätzte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit ca. 180.000 Abwanderungen von Ost- nach West–Deutschland. Außerdem rechnet man, daß ca. 275.000 Pendler täglich oder wöchentlich im Westen Deutschlands arbeiten (Bade 1992b: 402 f.).
An dieser Stelle soll deutlich darauf hingewiesen werden, daß die Aussiedler keine Ausländer, sondern nach den Bestimmungen des Grundgesetzes (Artikel 116 Abs. 1) Deutsche sind. Dabei wird auf das Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 abgestellt. Der Artikel 116 GG trifft also auf diejenigen zu, die selbst oder deren Eltern oder Großeltern im früheren Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien und Danzig gelebt haben. Bis auf Nord-Ostpreußen, das unter sowjetischer Verwaltung stand, kamen diese Gebiete zu Polen. Ihre Bewohner waren aber deutsche Staatsangehörige; nach deutschem Recht hatten sie diese Staatsangehörigkeit durch die Annexion der ostdeutschen Gebiete nicht verloren. Wie vorne geschildert worden ist, ist der größte Teil der deutschen Bevölkerung in den letzten Kriegsmonaten vor der Roten Armee geflohen oder wurde zwischen 1945 und 1950 vertrieben. Andererseits durften viele die unter polnischer Herrschaft stehenden Gebiete nicht verlassen (Aktion Gemeinsinn, 1991/92: 31 f.).
Nach dem Ende der Massenbewegungen nach dem Kriege lebten 1950 jenseits der deutschen Ostgrenzen noch rund 4 Mio Deutsche. Sie wohnten teilweise in ihren herkömmlichen Siedlungsgebieten, teilweise - wie fast alle Deutschen in der Sowjetunion seit 1941 - durch Zwangsumsiedlungen weit verstreut in fremder Umgebung. Erst Ende der 80er Jahre wurde es für einen großen Teil von ihnen durch die revolutionären Veränderungen im damaligen Ostblock möglich auszureisen. Jetzt wurden die meist seit Jahren, oft seit Jahrzehnten wiederholten Ausreiseanträge genehmigt. Schon 1987 stiegen die Aussiedlerzahlen deutlich an (ca. 80.000). 1988 kamen bereits 200.000 Aussiedler, 1989 rund 380.000 und 1990 schließlich fast 400.000 Aussiedler. Die meisten Aussiedler kamen aus Polen, aus der Sowjetunion und aus Rumänien. Erst mit großem Abstand folgten als Herkunftsländer der Aussiedler die Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien.
Nach den deutschen Gesetzen sind jedoch auch Deutsche "diejenigen, die ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen deutsche Volkszugehörige sind". Die deutsche Volkszugehörigkeit besitzt demnach, wer "... sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird."
Derartige deutsche Volkszugehörigen gibt es in den bereits nach dem Ersten Weltkrieg an Polen abgetretenen Teilen des früheren Deutschen Reiches - Posen, Westpreußen und Oberschlesien -, außerdem in Südosteuropa, speziell in Rumänien, und in der GUS. Sie sind Nachkommen vor Jahrhunderten ausgewanderter Deutscher, wobei ihnen seinerzeit kulturelle Autonomie, oft auch Selbstverwaltung ausdrücklich zugesagt worden ist. Im Zweiten Weltkrieg jedoch wurden die Deutschen in der Sowjetunion von Stalin aus ihren Siedlungsgebieten an der Wolga, in der Ukraine und in Weißrußland nach Sibirien und in asiatische Sowjetrepubliken wie Kasachstan deportiert, in Arbeitslagern konzentriert und in den folgenden Jahrzehnten als "Faschisten" diskriminiert (Aktion Gemeinsinn, 1991/92: 34).
Die Gründe für die Zuwanderung der Aussiedler aus dem Osten in die Bundesrepublik Deutschland waren vielschichtig. Wirtschaftliche Motive spielten sicherlich eine wichtige, aber meist überschätzte Rolle. Hauptgründe für die Ausreisebemühungen waren die unterschiedlich stark ausgeprägte Unterdrückung und die Einengung oder Nichtakzeptanz ethnischer, religiöser und sprachlich–kultureller Minderheiten in den Staaten des Warschauer Pakts (Ausnahme war Ungarn). Die langanhaltende Unterdrückung der Sprachkultur wirkt sich jetzt insbesondere bei jüngeren Aussiedlern dahingehend aus, daß sie das Hochdeutsche als Fremdsprache erlernen müssen (Bade, 1992b: 407).
Seit der Liberalisierung und Demokratisierung im Osten, dem deutsch-polnischen Vertrag von 1991 und den deutsch-russischen Absprachen der letzten Zeit, besteht eine begründete Hoffnung, daß die entsprechenden Regierungen mit den deutschen Minderheiten humaner umgehen. Und tatsächlich sind im letzten Halbjahr 1991 die Zahlen der Aussiedler im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 50% auf ca. 220.000 zurückgegangen (Aktion Gemeinsinn, 1991/92: 34). Wieviele Aussiedler in Zukunft kommen werden, wird von einer Reihe von Faktoren abhängig sein, wie z.B.: Wachsende Nationalitätenspannungen, die Sorge vor politischen Rückschlägen und, bezogen auf die GUS, auch die Einsicht, daß eine Rückkehr in die alten Siedlungsgebiete (z.B. an die Wolga) nicht möglich sein wird. Es ist zu vermuten, daß die Wanderungsbewegungen nach Westen zunehmen werden, wenn die Hoffnung auf eine grundlegende Besserung der Umstände verloren geht (Bade, 1992b: 408).
Gemessen an den Zeitungsberichten und der öffentlichen Diskussion scheint es, daß es bis 1987 keine großen Probleme gab, die aus dem Osten eintreffenden Aussiedler zu integrieren. Bis dahin wurde der Begriff "Aussiedler" in den Schlagzeilen nicht verwendet. Erst als 1987 die Zahl der Aussiedler drastisch anstieg, scheint sich mit den dann beginnenden Problemen in Bezug auf Arbeitsplatz und Wohnung auch die Einstellung der Bevölkerung geändert zu haben. Spontane Hilfsbereitschaft scheint in Unverständnis und Ablehnung der Aussiedler umgeschlagen zu sein. Anderseits sind auch viele Gemeinden überfordert, Wohnraum, Arbeitsplätze und Sozialeinrichtungen für eine Vielzahl von Aussiedlern bereitzustellen. "Geht man also davon aus, daß fast alle drei Mio im Osten verbliebenen Deutschen in den nächsten Jahren in die Bundesrepublik aussiedeln wollen, so müssen in irgendeiner Form Reglementierungen gefunden werden, Quoten festgesetzt werden, die eine vernünftige Einwanderungs- und Integrationspolitik gewährleisten. Nur so kann verhindert werden, daß in der Bundesrepublik die sozialen Spannungen weiterhin eskalieren, nur so können die sich oft fremd fühlenden Aussiedler langfristig integriert werden" (Ferstl, Hetzel, 1990: 204).
Anhang 5:
http://www.schweizerzeit.ch/0600/multikulti.htm
Nr. 6, 3. März 2000
Ein gefährliches, zum Scheitern verurteiltes Experiment
Irrweg «multikulturelle Gesellschaft»
Von Thomas Meier, Zürich
Die zunehmend multikulturelle Ausrichtung der Gesellschaft bedeutet keine Bereicherung und vermag das friedliche Zusammenleben von einheimischer Bevölkerung und zugezogenen Menschen nicht zu fördern, sondern zerstört die hiesige Kultur und fördert die Ausländer- feindlichkeit.
Mit dem Urteil «lebenslängliches Zuchthaus» fand am 25. Februar in Morges der aufsehenerregende Prozess gegen den Somalier Ali sein Ende, der die einjährige Tochter seiner Freundin sexuell aufs übelste missbraucht und getötet hatte. Die Zeitungsberichte lasen sich wie folgt:
«Die knapp jährige Sada, "82 Zentimeter reine Unschuld", wie Staatsanwalt Jean-Marc Schwenter sagte, wurde auf brutalste Weise sexuell missbraucht und dann, weil sie schrie, mit Tritten so lange traktiert, bis ihre Leber platzte. Für Schwenter ist der Angeklagte Ali, der seine Tat immer geleugnet und nie die geringste Reue gezeigt hat, ein "sadistischer Kinderschänder", der mit kalter Perversität vorgegangen ist» (Tages-Anzeiger vom 26. Februar 2000).
Einander fremd
Dieses furchtbare Verbrechen ist in seiner Brutalität und Herzlosigkeit so unvorstellbar, die Beweg- gründe, die den Täter getrieben haben müssen, sind nach unserem Denken so unfassbar, die rohe Tat ist auch gefühlsmässig so absolut nicht nachvollziehbar, dass sich die Frage aufdrängt, ob der Straftat eine andere, unserem Weltbild fremde soziokulturelle Realität zu Grunde liege und ob aus diesem Grund das Verbrechen überhaupt nach Schweizer Massstäben beurteilt werden könne.
Zu Recht liess das Gericht einen solchen Erklärungsversuch nicht gelten. Der Respekt des Lebens eines Kindes gehöre zu den universellen, unantastbaren Werten. Dennoch liegt der Gedanke nahe, dass hier zwei einander völlig fremde Kulturen aufeinandergeprallt sind. Seit Jahren arbeiten politische und religiöse Interessengruppen in der Schweiz systematisch auf die Schaffung einer Gesellschaft hin, in welcher möglichst viele Kulturen mit der unseren vereint werden sollen. Von der so entstehenden «multikulturellen Gesellschaft» wird eine «Bereicherung» und «Horizonterweiterung» erwartet. Mit der «multikulturellen Gesellschaft» ist eine Form der Integration gemeint, bei der die eingewanderten Menschen einerseits in ihrer kulturellen Besonderheit akzeptiert, anderseits in sozialer Hinsicht aber wie Staatsbürger behandelt werden sollen.
Wer einer solchen Multikulturalität unserer Gesellschaft das Wort redet, verkennt die Tatsache, dass die heute real existierende kulturelle Vielfalt mit zahlreichen Nachteilen verbunden ist:
Zerstörung der Kultur
Der Mensch definiert sich unter anderem durch seine Kultur. Die Identität und Orientierung, welche aus der Zugehörigkeit zu einer Kultur und aus der Teilnahme an den Kulturgütern resultiert, ist für den Menschen von existentieller Bedeutung. Ohne eine Identifizierung mit einem Traditionsspender besitzt der Mensch kein richtiges Identitätsbewusstsein. Das verzweifelte Suchen nach einer Identität und die Identitätsprobleme vieler Jugendlicher sind Symptome einer Störung in der Überlieferung kultureller Traditionen. Kein Mensch vermag seelisch gesund zu bleiben, ohne sich mit anderen Menschen zu identifizieren. Wer das Erbe der Kultur verloren hat, verliert seinen Halt. Die eigentliche Welle immi- grierender fremdkultureller Menschen, die seit einigen Jahren über uns hereinbricht, und die damit verbundene Vermengung einander fremder Kulturen führen dazu, dass die Bezugspunkte zu Geschichte, Tradition, Kultur, Religion und den Ahnen abhanden kommen. Die Masseneinwanderung verhindert eine Integration, bei der für die Zuwanderer eine neue Identität in einer neuen Heimat entsteht.
Ausserdem führt die Überfremdung zu einem Identitätsverlust der Gastgeber. Im Ergebnis bedeutet Multikultur den Untergang der Kultur. Die Geschichte zeigt, dass das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalität, Rasse, Hautfarbe und Religion in allen Zeiten und in allen Ländern mit Problemen behaftet und konfliktträchtig war. Kaum ein Tag vergeht ohne Medienberichte über blutige Zusammenstösse von Volksgruppen in einem Land irgendwo auf der Welt. Multikulturelle Gesell- schaften sind in häufigen Fällen Konfliktgesellschaften. Auch in unserem Land nehmen die Spannungen zwischen eingewanderten Personengruppen, etwa zwischen Kurden und Türken oder zwischen Kosovo- Albanern und Serben, ständig zu. Die unkontrollierte Einwanderung führt zum Import fremder Ethno- Konflikte und zu Stellvertreter-Auseinandersetzungen im Gastgeberland. Es ist nicht erstaunlich, dass die schwelenden Konflikte zwischen Ausländergruppen zu immer mehr Verunsicherung bei der einhei- mischen Bevölkerung und zu ablehnenden Gefühlen gegenüber Ausländern führen.
Zunehmend strapaziert wird die Geduld der schweizerischen Bevölkerung auch durch die kulturelle Intoleranz von Einwanderergruppen, mit denen ein Zusammenleben auf einer multikulturellen Basis schlicht undenkbar ist. Die Verfassung unseres Landes ist vom Wesen her liberal, pluralistisch und zurechtgeschnitten auf eine säkulare Gesellschaft. Die Aufklärung, welche im abendländischen Kulturraum der Säkularisierung vorausging, hat es jedoch im Islam, um ein Beispiel anzuführen, nicht gegeben. Der Fanatismus und die Verfolgungswut, mit der die fundamentalistischen Moslems seit vielen Jahren zur Ermordung des Schriftstellers Salman Rushdie aufrufen, sind in unserem Kulturkreis undenkbar. Ein korantreuer Moslem akzeptiert weder die Gleichberechtigung der Frau noch die Trennung von Staat und Religion. Selbst die liberalen Schulen des Korans fordern, dass die endgültige Abwendung vom Islam mit dem Tode bestraft wird. Der Islam erweist sich mehr und mehr als eigent- liches Integrationshemmnis. Für liberale und demokratische Werte wie Religionsfreiheit, Trennung von Staat und Kirche und die Gleichberechtigung der Geschlechter wurde in Europa jahrhundertelang gekämpft. Es ist eine besondere Ironie der Geschichte, dass gerade die linken und liberalen Kräfte, die diesen Kampf ausgefochten haben, heute die eifrigsten Befürworter einer grosszügigen Einwanderungs- politik sind, einer Einwanderungspolitik, welche die abendländischen Grundwerte gefährdet.
Realitätsfremdes Modell
Im Lichte der Nachteile des real existierenden Vielkulturenstaats erweist sich das Modell der «multi- kulturellen Gesellschaft» als ein Ideal, das mit der Wirklichkeit nicht vereinbart werden kann. Das Konzept der «multikulturellen Gesellschaft» ist eine Verlegenheitslösung, gleichsam eine resignative Reaktion auf die Tatsache, dass sich eine überwiegende Mehrheit der in jüngster Zeit zugezogenen fremdkulturellen Ausländer partout nicht anpassen will und statt dessen auf die Respektierung ihrer nationalen und kulturellen Identität pocht. Mit dem Gedankenmodell «multikulturelle Gesellschaft» wird die Gesichtsveränderung von Stadtquartieren zur unabwendbaren Zeitströmung erklärt.
Wenn unser Land mit seinem Ausländeranteil von mittlerweile 19,2 Prozent von ernsthaften Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und zugewanderten Bevölkerungsgruppen bislang glücklicher- weise verschont geblieben ist, so kann dennoch nicht in Abrede gestellt werden, dass es bei grossen Teilen der schweizerischen Bevölkerung starke Vorbehalte gegen die anhaltende Masseneinwanderung gibt und dass die negativen Gefühle gegenüber den fremden Menschen wachsen. Der Frieden zwischen einheimischer Bevölkerung und den bei uns lebenden Ausländern wird zunehmend labil. Bei einem Andauern der unkontrollierten Immigration und einer weiteren Zunahme der Überfremdung dürfte dieser Frieden gefährdet sein.
Wir Schweizer haben allen Grund, stolz auf unser Land, unser Volk und unsere Demokratie zu sein. Wir müssen den ständigen Miesmachern unseres Landes selbstbewusst entgegentreten. Die Classe politique aus Linken und anderen Vaterlandsverächtern leidet zunehmend an einem gestörten nationalen Selbstbewusstsein und orientiert sich deshalb an fremden Kulturen. Sie setzt eines der gefährlichsten Mittel zum Abbau und zur Zerstörung schweizerischer Identität ein: die Forderung nach Multikultur unter der scheinheiligen Begründung der Pflicht zu Weltoffenheit und Humanität. Wer den historisch gewachsenen Mehrkulturenstaat Schweiz, seine Bewohner, Traditionen und Identität achtet, erteilt der Idee der «multikulturellen Gesellschaft» eine Abfuhr.
Anhang 6:
http://www.bafl.de/template/publikationen/asylpraxis_pdf/asylpraxis_band_8_teil_07.pdf
Deutschland wird Einwanderungsland – Rückblick
und Ausblick
Rainer Münz, Humboldt-Universität, Berlin
1. Perioden der Zuwanderung nach Deutschland
seit dem Zweiten Weltkrieg
Bis ins frühe 20. Jahrhundert war Deutschland ein Auswanderungsland. Allein zwischen 1800 und 1930 verließen rund 7 Millionen Deutsche aus ökonomischen, religiösen oder politischen Gründen ihre Heimat. Die meisten gingen nach Übersee. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist dies anders.
Zwar führten die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, die einsetzende Diskriminierung jüdischer Bürger und die Verfolgung politisch Andersdenkender zu einer Welle der Emigration. Doch während des Krieges zwang das NS-Regime rund 650.000 Volksdeutsche aus verschiedenen Teilen Europas zur Übersiedlung nach Deutschland.
Um ein Vielfaches größer war damals freilich die Zahl der rekrutierten Zwangsarbeiter, von denen allerdings nach 1945 nur wenige in Deutschland blieben. Langfristig von größerem Einfluss auf Zahl und Zusammensetzung der Bevölkerung war dagegen die Vertreibung von 12 Millionen Menschen aus ehemaligen deutschen Ostprovinzen und aus einigen anderen Regionen Ostmitteleuropas in den Jahren 1945-1949.
Tabelle 1: Phasen deutscher Migrationsgeschichte seit 1945
1945 bis 1949
Zuwanderung von mehrheitlich deutschstämmigen Flüchtlingen und Vertriebenen; Rückwanderung oder Weiterwanderung von nicht-deutschen Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen aus der Zeit des Dritten Reiches
1949 bis 1961
Erste Hochphase der Wanderungen zwischen Ost- und Westdeutschland
1961 bis 1973
Massive Anwerbung von Gastarbeitern durch die Bundesrepublik
1973 bis1988/89
Anwerbestopp, Konsolidierung der ausländischen Wohnbevölkerung in Westdeutschland durch Familiennachzüge; Anwerbung von Vertragsarbeitern durch die DDR
1988 bis 1991/92
Zuwanderung von Aussiedlern, Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen, neuen Arbeitsmigranten; zweite Hochphase der Wanderungen zwischen Ost- und Westdeutschland
1992/93 bis 2000
Einführung neuer Regelungen; Begrenzung der Zuwanderung von Aussiedlern und Asylbewerbern seit 2000 Beginnender Übergang von einer restriktiven zu einer aktiven Migrationspolitik
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Deutschland in Europa schließlich zum Land mit der bei weitem größten Zahl von Immigranten.
Denn trotz der Spaltung Europas blieb Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Drehscheibe der Ost-West-Wanderung, wurde aber auch Ziel von Zuwanderungen aus dem Süden Europas, vom Balkan sowie aus der Türkei. Auf das Selbstverständnis der Deutschen hatte dies wenig Einfluss, auf die Einwohnerzahl des Landes und die Zusammensetzung seiner Bevölkerung hingegen sehr wohl.
Sieben Phasen der Migration lassen sich für die Zeit seit 1945 unterscheiden
(Tabelle 1).
1. Den größten Zuwanderungsstrom erlebte das Gebiet des heutigen Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit (erste Phase). Zwischen 1945 und 1949 mussten die alliierten Besatzungszonen fast 12 Mio. Vertriebene aufnehmen. Gleichzeitig wanderten vor Gründung der beiden deutschen Staaten rund 10 Millionen Fremd- und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und ehemalige KZ-Häftlinge in ihre Herkunftsländer zurück oder in Drittstaaten weiter. Auch Deutsche bemühten sich damals in größerer Zahl um eine Möglichkeit der Auswanderung nach Übersee. 1950 waren unter den damals 49 Millionen Einwohnern der neugegründeten Bundesrepublik rund 8 Millionen Vertriebene: ein Sechstel der damaligen Wohnbevölkerung. In der DDR gehörte 1950 sogar fast ein Fünftel der Bürger zu den Ostflüchtlingen und Vertriebenen, die man im Osten Deutschlands nach offizieller Sprachregelung etwas verschämt “Umsiedler” nannte: insgesamt 3,6 von damals 18,8 Mio. Einwohnern.
2. Im darauffolgenden Jahrzehnt (zweite Phase) fielen quantitativ nur die Wanderungen zwischen beiden deutschen Staaten ins Gewicht. 3,8 Millionen DDR-Bürger kehrten bis 1961 ihrem Staat den Rücken. Aber immerhin 400.000 Bundesbürger übersiedelten während der 50er oder zu Beginn der 60er Jahre nach Ostdeutschland.
3. Die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte wurde in der Bundesrepublik im Prinzip schon Mitte der 50er Jahre beschlossen. Doch erst nach dem Bau der Berliner Mauer, als der Strom der Übersiedler aus der DDR abriss, setzte die Anwerbung von Ausländern in vollem Umfang ein (dritte Phase). 1964 wurde bereits der 1-millionste Gastarbeiter gezählt und damals auch entsprechend gefeiert. Neun Jahre später waren es bereits 2,6 Millionen.
4. Auf den Anwerbestopp von 1973 folgte schließlich nicht die erhoffte Rückkehrwelle, sondern ein massiver Nachzug von Familienangehörigen (vierte Phase). Aus vorübergehend anwesenden Arbeitskräften wurden De-facto-Einwanderer. Obwohl die von SPD und FDP wie auch die von CDU/CSU und FDP getragenen Bundesregierungen eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um den weiteren Zuzug zu begrenzen und die Rückkehr von Ausländern in ihre Herkunftsländer zu fördern, wuchs die Zahl der Ausländer in Deutschland kontinuierlich. Im Gegensatz dazu nahm die Zahl der in Deutschland erwerbstätigen Ausländer hingegen zwischen 1973 und Mitte der 1980er Jahre nicht zu.
Anhang 7:
Mailkontakt mit Prof. Claus Leggewie
In einer eMail vom 19.03.03 12:15:29 (MEZ) Mitteleuropäische Zeit schreibt nadine.hoelscher@gmx.net:
Liebe Nadine Hoelscher, danke für Ihre Mail und Ihr Interesse. Ich liege derzeit mit Grippe im Bett, möchte auf Ihre Frage
Ich möchte u.a. den historischen Verlauf dieser Diskussion in Deutschland darstellen. Leider fehlen mir Materialien aus der Anfangszeit der Diskussion. Bis 1992 ließen sich im Internet bzw. den von mir untersuchten Zeitungen und Zeitschriften keine geeigneten Aufsätze finden.
wenigstens folgendes antworten:
der erste, der meiner Erinnerung nach den Terminus in einem Buchtitel erwähnt hat, war der protestantische Theologe Jürgen Miksch, damals bei der EKD; aufgegriffen wurde das von Heiner Geißler, damals Generalsekretär der CDU, und dem CDU-nahen Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer, sowie im grün-alternativen Milieu. Ich habe 1990 den Terminus Multikulti geprägt, der nicht verniedlichend gemeint war, sondern ein wenig ironisch klingen sollte. Einen ersten Üblick gab Axel Schulte 1990 in der Zeitschrift aus Politik und Zeitgeschichte, kritisch-polemisch zurückgewiesen wurde der Begriff von den konservativen Rechten, aber auch von sozialdemokratieschen Autoren, die in dem Hinweris auf kulturellen und religiösen Pluralismus eine "Ethnisierung" sahen und eine Art Freibrief für ethnische Diskriminierung.
Besten Gruss
Prof. Claus Leggewie
[...]
[1] Quelle: http://www.heimat-in-deutschland.de/ projekte/home.gif [Stand: April 2003]
[2] Statistisches Bundesamt Bis 1984 Stichtag 30.09; ab 1985 31.12 eines jeden Jahres Bis 1990 nur Westdeutschland; ab 1991 gesamtdeutsches Ergebnis
[3] Vgl. Rainer Münz : „Deutschland wird Einwanderungsland - Rückblick und Ausblick“, Humboldt – Universität Berlin, URL: http://www.bafl.de/template/publikationen/asylpraxis_pdf/asylpraxis_band_8_teil_07.pdf [Stand: März 2003]
[4] Vgl. Ursula Mehrländer / Günther Schulze: „Einwanderungskonzepte für die Bundesrepublik Deutschland“, Bonn 1992, Friedrich-Ebert-Stiftung, URL: http://www.fes.de/fulltext/asfo/00227001.htm#LOCE9E1 [Stand: März 2003]
[5] Vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: „Multikulturelle Gesellschaft – Integration – Assimilation?“, In: Der Spiegel Nr. 14/1998, S. 48ff, Z. 138
[6] Vgl. Claus Leggewie: „Die multikulturelle Gesellschaft“, S. 159
[7] Statistisches Bundesamt
[8] Statistisches Bundesamt
[9] Vgl. Klaus-Peter Martin: „Fundamentalismus türkischer Jugendlicher – Ist die multikulturelle Gesellschaft gescheitert?“, URL: http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at:4711/LEHRTEXTE/Martin.html [Stand: März 2003]
[10] Vgl. Franz Obermeier: „Was meint „Leitkultur“?“, In: Blickpunkt, Dezember 2000
[11] Vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: „Multikulturelle Gesellschaft – Integration – Assimilation?“, In: Der Spiegel Nr. 14/1998, S. 48ff
[12] Vgl. Thomas Meier: „Irrweg multikulturelle Gesellschaft“, Zürich 2000, URL: http://www.schweizerzeit.ch/0600/multikulti.htm [Stand: Februar 2003]
[13] Vgl. Thomas Meier: „Irrweg multikulturelle Gesellschaft“, Zürich 2000, URL: http://www.schweizerzeit.ch/0600/multikulti.htm [Stand: Februar 2003]
[14] Vgl. Kenan Malik: „Gefährliche Pluralität“, In: taz, Die Tageszeitung Nr. 5267, Juli 1997
[15] Vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: „Multikulturelle Gesellschaft – Integration – Assimilation?“, In: Der Spiegel Nr. 14/1998, S. 48ff
[16] Vgl. Friedrich Merz: „Sie spielen mit dem Feuer Herr Merz“, In: Bild am Sonntag, 03.12.00
[17] Vgl. Franz Obermeier: „Was meint „Leitkultur“?“, In: Blickpunkt, Dezember 2000
[18] Vgl. Barbara Zehnpfennig: „Was eint die Nation?“, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 300, 27.12.00
[19] Vgl. Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, Band 15 (Moc - Nov), S. 173 ff, Neunzehnte Auflage, Stichwort: multikulturelle Gesellschaft
[20] Vgl. Claus Leggewie: „Die multikulturelle Gesellschaft, S. 152
[21] Vgl. Heiner Geißler: „Auf Zuwanderung angewiesen“, In: Der Spiegel Nr. 3/1993, S. 40ff
[22] Heiner Geißler: „Multikulturelle Gesellschaft – Integration- Assimilation?“, In: Der Spiegel Nr. 14/1998, S. 48ff, Z. 153ff
[23] Dieter Oberndörfer: „Leitkultur und Berliner Republik“, In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1-2/2001, S. 28, Z. 29f
[24] Vgl. Dieter Oberndörfer: „Leitkultur und Berliner Republik“, In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1-2/2001, S. 28-30
[25] Heiner Geißler: „Auf Zuwanderung angewiesen“, In: Der Spiegel Nr. 3/1993, S. 40ff
[26] Heiner Geißler: „Multikulturelle Gesellschaft – Integration – Assimilation?“, In: Der Spiegel Nr. 14/1998, S. 48 ff
[27] Vgl. Heiner Geißler: „Multikulturelle Gesellschaft – Integration – Assimilation?“, In: Der Spiegel Nr. 14/1998, S. 48 ff
[28] Vgl. Heiner Geißler: „Auf Zuwanderung angewiesen“, In: Der Spiegel Nr. 3/1993, S. 40ff
[29] Claus Leggewie: „Multi Kulti – Spielregeln für die Vielvölkerrepublik“, Rotbuch Verlag 1993, S. 9
[30] Claus Leggewie: „Die multikulturelle Gesellschaft“, S. 160
[31] Vgl. Claus Leggewie: „Multi Kulti – Spielregeln für die Vielvölkerrepublik“, Rotbuch Verlag 1993
[32] Vgl. Claus Leggewie: „Die multikulturelle Gesellschaft“
[33] Vgl. Heiner Geißler: „Auf Zuwanderung angewiesen“, In: Der Spiegel Nr. 3/1993, S.40 ff
[34] Vgl. Juliane Wetzel: „ ,Fremde` in den Medien“, In: Informationen zur politischen Bildung Nr. 271/2001, S. 33
[35] Heiner Geißler „Multikulturelle Gesellschaft – Integration – Assimilation?“ in: Der Spiegel Nr. 14/1998, S. 48 ff., Z. 118-122
[36] siehe Kap 2.3: „Probleme mit der Einwanderung“
[37] Vgl. Hans Zehetmair: „In der einen Welt ist jeder Nachbar“, In: Die Zeit, 10.04.02
[38] Vgl. FES OnlineAkademie, URL: http://www.fes-online-akademie.de/index.php?&scr=themen&t_id=4 [Stand: März 2003]
[39] Vgl. Günter Lensch: „Die multikulturelle Gesellschaft“, URL: http://www.freimaurer.org/gl_afam/forum_masonicum/multi.htm [Stand: März 2003]
[40] Vgl. Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, Band 15 (Moc - Nov), S. 173/174, Neunzehnte Auflage, Stichwort: multikulturelle Gesellschaft
[41] Siehe Kap. 2.1.3: „Die multikulturelle Gesellschaft“
[42] Vgl. Mailkontakt mit Prof. Claus Leggewie
[43] Siehe Kapitel 2.3 „Probleme mit der Einwanderung“
[44] Statistisches Bundesamt
[45] z.B. Claus Leggewie: „Die multikulturelle Gesellschaft“, S. 166
[46] DUDEN Fremdwörterbuch, 1997, Stichwort: Nation
[47] Vgl. Günter Lensch: „Die multikulturelle Gesellschaft“, URL: http://www.freimaurer.org/gl_afam/forum_masonicum/multi.htm [Stand: März 2003]
- Arbeit zitieren
- Nadine Hölscher (Autor:in), 2003, Die Diskussion über das Konzept der multikulturellen Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107972
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