Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Hintergrund
Aggression und aggressives Verhalten
Aggressive Spielinhalte
3. Experimentelle Untersuchungen zu möglichen Auswirkungen aggressiver Computerspiele auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen
3.1 Allgemeiner Überblick zur Forschungslage
3.2 Studie A: Auswirkungen von Videospielen auf das Verhalten von Kindern
3.2.1 Fragestellung
3.2.2 Vorgehen
3.2.2.1 1. Phase: Erfassung der Personenvariablen
3.2.2.2 2. Phase: Experimentelles Vorgehen
3.2.3 Ergebnisse
3.3 Studie B: Auswirkungen kooperativ- vs. Konkurrenz-orientierter Situationen auf das aggressive Verhalten beim Video-Spielen
3.3.1 Fragestellung
3.3.2 Experiment 1
3.3.2.1 Vorgehen
3.2.2.2 Ergebnisse
3.3.3 Experiment 2
3.3.3.1 Vorgehen
3.3.3.2 Ergebnisse
3. Diskussion
4. Schlussbemerkung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen gibt es öffentliche Debatten über die Frage, welchen Einfluss die Medien auf Kinder und Jugendliche haben. Seit Beginn der 80-er Jahre thematisieren entsprechende Diskussionen in zunehmenden Maße auch die Video- und Computerspiele. Anfangs standen die Videospielautomaten in Gaststätten und Spielhallen im Mittelpunkt des Interesses, später dann Homecomputer und Spielkonsolen, die Einzug in die Kinderzimmer fanden. Inzwischen entzünden sich Kontroversen zumeist an bestimmten Spielen oder Spielgenres, zum Beispiel „Doom“ oder das durch den Amoklauf in Erfurt im April 2002 besonders in Verruf geratene Spiel „Counterstrike“. Das Problem der unmittelbaren und langfristigen Auswirkungen des Umgangs mit gewalthaltigen Video- und Computerspielen ist seit den Ereignissen von Erfurt zu einem in den Medien und in der Öffentlichkeit viel diskutierten Thema geworden. Die allgemein verbreitete Hypothese, dass die Beschäftigung mit aggressiven Spielen negative Auswirkungen auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen bewirke, verunsichert besorgte Eltern, Pädagogen, Politiker und Wissenschaftler.
Bevor im Rahmen dieser Arbeit genauer auf diese Frage eingegangen wird, soll ein Blick auf die Aggressionsforschung gerichtet werden und Ergebnisse einiger ausgewählter experimenteller Studien den aktuellen Forschungsstand verdeutlichen. Anschließend soll auf zwei Untersuchungen genauer eingegangen werden. Die erste Studie stammt von den deutschen Motivationsforschern Rita Steckel und Clemens Trudewind und geht der Frage nach, ob Kinder durch die Beschäftigung mit einem gewalthaltigen Spiel eine emotionale Abstumpfung erfahren. Die zweite dargestellte experimentelle Untersuchung, die von den amerikanischen Autoren Craig Anderson und Melissa Morrow durchgeführt wurde, befasst sich mit einem relativ neuen Aspekt der Aggression: Aggression durch Videospiele in konkurrierenden vs. kooperierenden Situationen. Im der abschließenden Diskussion soll unter anderem auf die Aussagekraft von experimentellen Studien Bezug genommen werden.
2. Theoretischer Hintergrund
Die Frage, ob aggressive Spielinhalte ein aggressives Verhalten der Spieler bewirkt, setzt zunächst eine Klärung der Begriffe „Aggression“, „aggressives Verhalten“, „Gewalt“, „Aggressivität“ sowie der „aggressiven Videospiele“ voraus. Denn die theo-retischen Grundannahmen zu dem Konstrukt Aggression stehen vor Beginn einer jeden Untersuchung und haben für die Anlage der Experimente, die Wahl der Methoden und Messinstrumente und nicht zuletzt auch für die Interpretation der Ergebnisse erhebliche Bedeutung (Kornadt, 1982, S. 64f).
2.1 Aggression und aggressives Verhalten
Eine Schwierigkeit bei der Betrachtung von möglichen Wirkungen von Videospielen auf aggressives Verhalten ist die Frage, was eigentlich unter „Aggression“ zu verstehen ist. Das Phänomen der Aggression und der Gewalt ist schon so alt wie der Mensch selbst. Sowohl in menschlichen Gesellschaften als auch im Tierreich ist Aggression fester Bestandteil des Lebens und des Überlebens.
Auch wenn in Definitionen versucht wird, das Phänomen der Aggression relativ eng zu umreißen, so muss man doch immer wieder feststellen, dass Aggressionen und aggressives Verhalten beim Menschen sehr vielschichtig und komplex sind. Aggression hat viele Gesichter und kennt verschiedene Erscheinungsformen (z.B. physische und psychische Gewalt, verbale und strukturelle Gewalt), verschiedene Ausprägungen, Funktionen, Bedingungen und Ursachen (Fitz & Fehr, 1997, S. 277). Und so gibt es auch unterschiedliche Definitionen der Aggression. Unterschiede in Definitionen bestehen darin, dass sie sich manchmal lediglich auf Merkmale des Verhaltens beziehen, während andere auch Annahmen über Auslösebedingungen, über emotionale Begleitumstände oder über die Absichten aggressiver Handlungen mit einschließen, (Kornadt, 1982, S. 64f).
Zimbardo und Gerrig (1999) definieren Aggression bzw. aggressive Handlungen als „Handlungen, die mit der Absicht ausgeführt werden, andere psychisch oder physisch zu schädigen.“ Weiter beschreiben sie Gewalt als Aggression in ihrer extremen und sozial nicht akzeptablen Form und Aggressivität als Aggressions-disposition, also als Persönlichkeitsmerkmal (Zimbardo, 1999, S. 702). Eine Minimaldefinition von Aggression als ein Verhalten, das darauf abzielt, eine andere Person zu verletzen oder zu schädigen, erfasst zwar nicht das ganz Phänomen der Aggression (z.B. Aggression gegen sich selbst), doch beinhaltet sie die wesentlichsten Merkmale der Intentionalität und der Handlungsfolgen und kann aggressives Verhalten von nicht aggressivem Verhalten abgrenzen.
Eine Differenzierung nach Motiven geht auf Feshbach zurück, der zunächst „intentionale“ und „nicht-intentionale“ Aggressionstypen unterschieden hat. (Schneider & Schmalt, 1994, S. 190). Nicht-intentionale Aggressionen sind solche, die zwar eine Schädigung eines Objekts nach sich ziehen, aber eine Schädigung nicht bewusst zum Ziel haben. Intentionale Aggressionen dagegen streben konkret die bewusste Schädigung des Handlungspartners an, können aber verschiedene Funktionen haben: feindselig und instrumentell gerichtete Aggressionen. Bei der feindseligen Aggression besteht in der Schädigungsabsicht das ursprüngliche Handlungsziel. Instrumentelle Aggressionen verfolgen nicht unbedingt aggressive Handlungsziele, sondern die Schädigung dient „nur“ „instrumentell der Erlangung eines anderen, nicht-aggressiven Handlungsziels, wobei persönliche oder soziale Ziele im Vordergrund stehen“ (z.B. ein Kind schlägt ein anderes Kind, damit es sein Eis bekommt; Schneider & Schmalt, 1994, S. 190). Diese Unterscheidung hat auf die Bedeutung von bestimmten Intentionen und Motiven aggressiver Verhaltensweisen aufmerksam gemacht (Schneider & Schmalt, 1994, S. 226).
In der psychologischen Aggressionsforschung wurden verschiedene theoretische Ansätze entwickelt, die das Phänomen Aggression zu erklären versuchen. Im Wesentlichen haben sich drei grundlegende Positionen herausgebildet. Die trieb- oder instinkttheoretische Auffassung sieht die Neigung zur Aggression als gegeben und angeboren und daher unvermeidbar. Obwohl Grundgedanken dieser Position in neueren Theorien aufgegriffen wurden, gilt die reine triebtheoretische Perspektive als überholt. Lerntheoretische Konzepte (z.B. Bandura) gehen davon aus, dass Aggression im Laufe individueller Erfahrungen durch Lernprozesse (Bekräftigung oder Modellernen) erworben wird. Eine dritte Position, die Frustrations-Aggressions-Hypo-these, sieht Aggression als einen angeborenen Trieb, der (immer) als Reaktion auf Frustration entsteht, d.h. als Folge einer Behinderung angestrebter Ziele. Die einfluss-reichste Revision dieser Theorie durch Berkowitz enthält sowohl lerntheorietische als auch kognitive Elemente. Danach erhöht Frustration nur die Aggressionsbereitschaft, die nicht automatisch in Aggression umschlagen muss, sondern zunächst einen Ärgereffekt auslöst. Instrumentelle Konditionierung sei dann dafür verantwortlich, dass eine Ärgeraktivierung zu Aggression führt. Außerdem weist Berkowitz auf die Bedeutung der nötigen aggressiven Wahrnehmung und Interpretation der Situation durch den Handelnden hin, (Steckel, 1998, S. 14ff).
Die Einsicht, dass die Grundpositionen in ihrer ursprünglichen Form nicht aufrechterhalten werden können, hat zu Entwicklungen und Modifikationen komplexer-er Theorieansätze geführt. Diese zeichnen sich dadurch aus, „dass sie ausdrücklich ein kompliziertes Aggressionsgeschehen zugrunde legen, mehrere Wirkungsfaktoren zusätzlich berücksichtigen und versuchen, die genauere Beziehung der einzelnen Faktoren zueinander zu klären“. (Kornadt, 1982, S. 55)
Eine motivationstheoretische Herangehensweise z.B. versucht, die verschiedenen Positionen der Aggressionsforschung in einem Ansatz zu integrieren. So sieht der motivationspsychologische Ansatz nach Kornadt (1982) Aggression als eine in der Person angelegte Disposition. Im Unterschied zur triebtheoretischen Sichtweise ist das Aggressionsmotiv aber kein festgelegtes Verhaltensprogramm. Die Stärke des Aggressionsmotivs sowie deren Genese variieren individuell, und hängen wesentlich von den Erfahrungen der Person ab, die sie im Laufe ihrer Entwicklung im ständigen Austausch mit ihrer Umwelt (Familie, Freunde, Gesellschaft) gemacht hat. Bedeutend in der motivorientierten Sichtweise ist die Unterscheidung zweier Motivkomponenten der Aggression: das zuvor beschriebene dispositionell angelegte Motiv zur Aggression und das entgegengerichtete Motiv der Aggressionshemmung, das ebenfalls in der Erziehung, sowie in der Interaktion mit der Umwelt kulturell vermittelt wird. Die Fähigkeit zum empathischen Miterleben, initialisierte Normen und Werte, Einstellung-en oder Angst vor Bestrafungen können das Auftreten aggressiver Verhaltensweisen verhindern, (Steckel, 1997, S. 220).
Die verschiedenen Positionen haben in zahlreichen experimentellen Untersuch-ungen bereits einige Faktoren und Bedingungen selektiert, die einen Einfluss auf das Ausmaß menschlichen aggressiven Verhaltens haben (können), von denen einige kurz dargestellt werden sollen. So treten unter z.B. lebensbedrohenden Umständen Aggressionen auf, die für das Überleben eines Organismus von Bedeutung sind (angeborene Aggression). Physiologische Grundlagen der Aggression legen nahe, dass hormonelle Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu Geschlechtsunter-schieden in der Aggression führen. Frustrationen können aggressives Verhalten aus-lösen, beeinflussen sie aber nicht direkt, sondern lassen zunächst einen Ärgeraffekt entstehen. Hierbei spielt die eigene Wahrnehmung der erlebten Frustration eine wesentliche Rolle. Wenn bei vorhandener Frustration zusätzlich bestimmte aversive Hinweisreize (z.B. ein Baseball-Schläger) vorliegen, kann dies das Auftreten aggressiver Handlungen erleichtern. Aggressives Verhalten wird außerdem nach den Prinzipien sozialen Lernens (Lernen durch Beobachten, Lernen durch Imitation) erworben. Insbesondere die soziale Lerntheorie hat auch auf die Bedeutung erlernter und antizipierter Konsequenzen der Aggression hingewiesen. So können erlernte (bzw. nicht erlernte) Sanktionen, Normen und Werte aggressive Verhaltensweisen hemmen bzw. begünstigen. (vgl. Zimbardo, 1999, S. 334; Schneider & Schmalt, 1994, S. 225f). Außerdem haben Erfahrungen mit realen Aggressionen innerhalb der Familie und im Freundeskreis Einfluss auf die Stärke und Ausprägung des individuellen Aggressions- und des Aggressionshemmungsmotivs. Neben familiären Einflüssen können nicht zuletzt aber auch mediale Einflüsse wirksam werden (Steckel, 1997, S. 218).
2.2 Aggressive Spiele
Seit Ende der 80-er Jahre erlebt der deutsche Markt einen Boom von neuen Video spielen. Die Spiele wurden im Laufe der Zeit grafisch immer ansprechender, technisch ausgefeilter und einfacher zu bedienen. Und der Markt dehnt sich weiter aus. Diese Vielfalt unterschiedlichster Spiele macht es schwierig, eindeutige Kategorisierungen dieser Spiele vorzunehmen. Fritz und Fehr unterteilen den Videospielmarkt z.B. in a) Abstrakte Denk- und Geschicklichkeitsspiele, b) Kampf- und Aktion-Spiele, c) Funny-Games, d) Simulationen und e) Spielgeschichten (Steckel, 1998, S. 57). Als bedenklich werden hier die Action-, Kriegs- und Abschussspiele eingestuft. Aber auch andere Spieltypen können aggressive Gewaltelemente enthalten. Wie schon erwähnt, sehen manche Autoren ein Gefährdungspotential vor allem in bestimmten Spielinhalten (aggressive, gewaltverherrlichende, rassistische und pornographische Inhalte), andere sehen die leistungs- und konkurrenzorientierten Spielsituationen der meisten auf dem Markt erhältlichen Spiele als problematisch an (Sacher, 1993, S. 315). Die Frage, nach welchen Kriterien ein Autor ein bestimmtes Spiel als aggressiv einstuft, um dieses dann zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen, scheint vielfach im persönlichen Ermessen der Forscher zu liegen. Hier besteht die Gefahr, dass Wirkungen angeblich aggressiver Spiele untersucht werden, die andere nicht als aggressiv einstufen (Sacher, 1993, S. 322).
3. Experimentelle Untersuchungen zu möglichen Auswirkungen aggressiver Computerspiele auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen
Seit es Computerspiele gibt und besonders seit Computerspiele eine solche Faszinationskraft auf Kinder und Jugendliche auszuüben scheinen, bemüht sich auch die Forschung, Aussagen über die Wirkungen zu treffen, die von Computerspielen ausgehen. Eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch Computerspiele wird in den Spielinhalten und in der Spielsituation gesehen. Neben gewaltenthaltenden und gewaltverherrlichenden Inhalten zählen auch Pornografie und extrem ideologisches Gedankengut zu den problematisch eingestuften Inhalten. Die Forschungstätigkeit beschränkt sich allerdings vorzugsweise auf die Wirkungen gewalthaltiger Spiele. Die Spielsituation wird insofern als problematisch eingestuft, als dass bei den meisten Computerspielen ein menschlicher Interaktionspartner fehlt und dass die meisten Spiele leistungs- und wettkampforientiert aufgebaut sind, (Sacher, 1993, S322).
3.1 Allgemeiner Überblick zur Forschungslage
In der Medienforschung ist das Thema „Wirkung“ ein altes und hinsichtlich der Anzahl der Untersuchungen ein vielbeachtetes Feld. Hier gibt es verschiedene Theorien, die den Zusammenhang von Computerspielen und Gewalt erklären wollen. Die Katharsis-hypothese vertritt die Position, dass vorgelebte Gewalt nicht schadet, sondern im Gegensatz sogar zum Abbau von Aggressionen beiträgt. Nach der Inhibitionsthese bewahren uns Gewaltdarstellungen vor realen Aggressionen insofern, als dass sie Ängste in uns hervorrufen, die wir dann zu unterdrücken versuchen. Eine völlig andere Position vertritt die Stimulationsthese. Diese sieht in gezeigten Gewaltdarstellungen konkrete Reize und Modelle, die aggressives Verhalten förderen. Gemäß der Habitualisierungshypothese, der auch die im Rahmen dieser Arbeit die aufgeführte Untersuchung von Rita Steckel und Trudewind zuzuordnen ist, nimmt die Sensibilität gegenüber dargestellter und realer Gewalt ab, so dass sie schließlich als normal betrachtet wird (Kunczik, 2000, S. 26ff).
Im Bereich der Videospiele ist die Forschungstätigkeit noch relativ jung, wobei die meisten experimentellen Untersuchungen im amerikanischen Raum anzusiedeln sind.
Insgesamt ist die Befundlage zu den möglichen Wirkungen von gewalthaltigen Videospielen noch sehr inkonsistent. In einigen Untersuchungen wird ein mehr oder weniger eindeutiger Beleg für eine aggressionssteigernde Wirkung erbracht. So ergab z.B. eine Untersuchung von Shutte und Mitarbeitern an fünf- bis siebenjährigen Kindern, dass die Kinder, die zuvor mit einem aggressiven Videospiel gespielt hatten, im Vergleich zu Kindern, die ein gewaltfreies Spiel spielten, in einer anschließenden Freispielphase häufiger aggressives Verhalten wie Treten und Schlagen zeigten. Cooper und Mackie (1986) konnten zwar keine Auswirkungen eines aggressiven Spiels auf Jungen feststellen, aber Mädchen, die das Gewaltspiel spielten, spielten länger mit dem zur Verfügung gestellten Kampfspielzeug als Mädchen, die kein Gewaltspiel spielten. Silvern und Williamson (1987) untersuchten die Effekte bei Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren. Bei Kindern, die zuvor ein aggressives Spiel spielten, konnte ein Ansteigen der Aggressionskennwerte in einer anschließenden Freisspielphase im Vergleich zu einer Baselinemessung festgestellt werden. Auch prosoziale Verhaltensweisen traten seltener auf als in der Baselinemessung (vgl. Steckel, 1998, S. 58f). Sowohl Cooper und Mackie als auch Silvern und Williamson fanden außerdem heraus, dass es keinen Unterschied mache, ob die Kinder selbst spielen oder nur zuschauen (Sacher, 1993, S. 324). Interessant ist, dass andere experimentelle, methodisch sauber angelegte Untersuchungen wiederum keine aggressionssteigernden Effekte nachweisen konnten. So fanden beispielsweise Winkle und andere Autoren in einer Untersuchung an 28 männlichen und 28 weiblichen 8-Klässlern weder einen Nachweis für eine Aggressionssteigerung noch für einen Geschlechtereffekt (Sacher, 1993, S. 323). Scott (1995) untersuchte die unterschiedlichen Effekte eines stark, eines weniger stark gewaltorientierten sowie eines gewaltfreien Spiels bei Studenten. Der erwartete lineare Trend der Aggressions-bereitschaft entsprechend den Gewaltabstufungen konnte allerdings nicht festgestellt werden. Überraschenderweise zeigte sich hier sogar ein Anstieg der Aggressions-kennwerte bei der Gruppe, die das gewaltfreie Spiel spielten, (Steckel, 1998, S. 60).
Eine eindeutige Befundlage für negative Auswirkungen aggressiver Videospiele ist derzeit also noch nicht gegeben. Eine Verharmlosung negativer Effekte scheint allerdings auch nicht angebracht. Denn die Fernsehwirkungsforschung liefert Hinweise dafür, dass Kinder negativ beeinflusst werden können. Die Mehrheit der Untersuch-ungsbefunde weisen auf einen Zusammenhang zwischen häufigem Anschauen von Gewaltdarstellungen und Aggression hin. Außerdem sind zwei wesentliche Effekte feststellbar: erstens ein Ansteigen des Aggressionsniveaus durch das Anschauen von Gewaltdarstellungen im Fernsehen und zweitens ein Anwachsen der passiven Akzep-tanz von Gewaltdarstellungen (Steckel, S. 220). Wirkmechanismen dieser Art innerhalb der deutschsprachigen Videospielforschung untersuchten Rita Steckel und Clemens Trudewind (1998). Diese erste Studie, auf die im Rahmen dieser Arbeit genauer eingegangen werden soll, betrachtet nicht nur beobachtbares Aggressions-verhalten, sondern untersucht auch die Auswirkungen auf die Hemmmechanismen menschlichen Aggressionsverhaltens.
3.2 Studie A: Rita Steckel & Clemens Trudewind: Aggression in Videospielen: Gibt es Auswirkungen auf das Verhalten von Kindern?
3.2.1 Fragestellung
Rita Steckel und Clemens Trudewind versuchen in Anlehnung an die Kornadt’sche Motivtheorie (vgl. Kornadt, 1982) die Auswirkungen gewalthaltiger Videospiele zu erklären. Wie oben schon angeführt, ist die Basis der motivationstheoretischen Betrachtungsweise die Unterscheidung zweier antagonistischen Motivkomponenten der Aggression, das Aggressionsmotiv und das Aggressions-Hemmungs-Motiv, aus deren Wechselwirkung zusammen mit anderen vermittelnden Faktoren aggressives Verhalten resultiert oder auch nicht.
Abbildung 1 zeigt eine modellhafte Darstellung der von den Autoren angenommenen Wirkmechanismen von aggressiven Videospielen. Demnach bewirkt die Beschäftigung mit aggressiven Videospielen zum einen eine Anregung des Aggressionsmotivs, was sich in einer erhöhten Aggressionsbereitschaft äußert. Zum anderen kann sich das Spielen sowohl kurz- als auch langfristig negativ auf die natürlichen Hemmmechanismen der Aggression (Normen, Werte, Einstellungen, Empathiefähigkeit) auswirken (Steckel, 1998, S. 63).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Modellhafte Darstellung der Wirkmechanismen von aggressionsorientierten Videospielen (nach Steckel, 1998, S. 64)
Ziel der im folgenden beschriebenen Untersuchung war, in Anlehnung dieser vermuteten Wirkmechanismen, die Überprüfung zweier Hypothesen:
a) Der Umgang mit einem gewaltbeinhaltenden Videospiel bewirkt als unmittelbaren Effekt eine Aktivierung des Aggressionsmotivs.
b) Darüber hinaus führt der Umgang mit einem solchen Spiel zu einer Herabsetzung der emotionalen Sensibilität.
Um diese Frage experimentell zu untersuchen, spielte eine Gruppe von Kindern ein gewalthaltiges Spiel und eine zweite Gruppe ein gewaltfreies Videospiel. Diese zwei Gruppen wurden dann dahingehend verglichen, ob die Aggressionsdisposition der Kinder, ihre Spielerfahrungen, das Alter und Geschlecht der Kinder die Aktivierung des Aggressionsmotivs und/oder eine emotionale Abstumpfung beeinflussen (Steckel, 1998, S. 63f).
3.2.2 Vorgehen
Die Untersuchung wurde in Kindertagesstätten und Jugendfreizeithäusern durchgeführt. Beteiligt waren insgesamt 167 Kinder, davon 83 Grundschüler im Alter von 7 bis 10 Jahren und 84 Schüler im Alter von 11 bis 14 Jahren. Das experimentelle Vorgehen teilte sich in zwei Phasen auf. In der ersten Phase wurden zahlreiche personenabhängige Variablen erfasst: die dispositionelle Aggressionsneigung, die Ausprägung des empathischen Mitfühlens, die Neugierde, die Ängstlichkeit und allgemeine Spiel- und Freizeitvorlieben. Die 2. Phase entsprach der eigentlichen experimentellen Untersuchung, in der die Hypothesen der Aggressions-Motiv-Aktivierung und der emotionalen Abstumpfung durch das Spielen aggressiver Spiele geprüft werden sollten.
3.2.2.1 1. Phase: Erfassung der Personenvariablen
Die Erfassung der Personenvariablen wurde einige Tage vor der eigentlichen Untersuchung durchgeführt. Für die Erfassung der dispositionellen Empathie und Ängstlichkeit, des Wissbegier- und Neugierde-Motivs und der Sensationstendenz sowie für die Erfassung der allgemeinen Spiel- und Freizeitvorlieben der Kinder wurden standardisierte, in der Forschung bereits vielfach erprobte Fragebögen verwendet.
Die Stärke des Aggressionsmotivs wurde mit einem speziell für Kinder entwickelten Verfahren, dem Aggressions-Motiv-Gitter (AMG), gemessen. Das AMG misst auf unterschiedlichen Skalen die beiden Komponenten des Aggressionsmotivs: die Aggressionsneigung und die Aggressions-Hemmungs-Tendenz. Hierzu wurde den Kindern Bilder vorgelegt, die Konfliktsituationen zwischen Kindern darstellten. Die Kinder sollten dann in Gedanken eine Geschichte zu den Bildern erfinden und aus vorgegebenen Antworten diejenige auswählen, die am besten zu ihrer Geschichte passte.
Außerdem sollte eine Erzieherinnenbefragung Aufschluss darüber geben, wie sich die Kinder im Zusammensein mit anderen Kindern verhalten. Ein standardisierter Fragebogen sollte auf 4 Skalen das kindliche Verhalten messen. Es interessierte 1. die Tendenz, Kämpfe mit anderen zu initiieren, 2. ob das betreffende Kind oft Ziel von aggressiven Handlungen anderer ist, 3. das verbale aggressive Verhalten der Kinder und 4. die Beliebtheit des Kindes.
2.3.2.2 2. Phase: Experimentelles Vorgehen
Die Untersuchung fand als Einzeluntersuchung statt. Jedes Kind wurde zufällig einer der beiden Versuchbedingungen (aggressives Spiel oder gewaltfreies Spiel) zugeteilt. Aus ethischen Gründen wählten die Autoren für das Gewaltspiel ein Spiel mit eher harmlosen aggressiven Inhalt: Street-Fighter 2. Dieses Spiel ist ein Box- und Prügelspiel, bei dem zwar körperliche Gewalt vorherrscht, aber es kommt hier nicht zu Mord und Totschlag. Als aggressionsfreies Spiel wählten die Autoren Joshi’s Cookie, welches ein Sortier- und Geschicklichkeitsspiel ist.
Für ca. 20 Minuten durften die Kinder dann eines dieser Spiel spielen. Anschließend wurde den Kindern 24 emotionsanregende Dias (Menschen und Tiere in bedrückenden Situationen) und 24 neutrale Dias (Landschaftsaufnahmen oder Blumen) vorgeführt. Um die Kinder emotional nicht zu sehr zu belasten, konnten die Kinder auch jederzeit selbständig den Beamer ausschalten.
Mit diesem Vorgehen wollten die Autoren prüfen, ob das Spielen mit „Street Fighter 2“ im Gegensatz zu dem harmlosen Spiel „Joshi’s Cookie“ eine emotionale Abstumpf-ung bewirkt hatte. Verschiedene Messindikatoren für die emotionale Reagibilität sollten hierzu Aufschluss geben. Um das Ausdrucksverhalten wie Mimik, Gestik und Verbalisationen festzuhalten, wurden die Kinder während der Dia-Vorführung gefilmt. Parallel wurden physiologische Werte, wie Herzfrequenz oder Hautleitfähigkeit gemes-sen. Außerdem wurde noch die Anzahl der angeschauten Bilder sowie die Länge der Betrachtungszeit der einzelnen Bildern erhoben, da die Autoren auch hier Hinweise für eine emotionale Abstumpfung vermuteten.
Unmittelbar nach einer erneuten Spielphase von ungefähr 10 Minuten sollten die Kinder anhand einer Emotions-Adjektiv-Skala ihre eigene emotionale Empfindlichkeit einschätzen.
Zweites wichtiges Anliegen der Untersuchung war es auch, zu prüfen, ob das Spielen das Aggressionsmotiv anregt. Den Kindern wurden dazu hintereinander 6 Bilder gezeigt, die wieder Konfliktsituationen zwischen Kindern darstellten und zu denen sie dieses Mal aber eine ganze Geschichte erzählen sollten. Dieses Verfahren ist ein in der Motivationsforschung vielfach erprobtes Vorgehen, durch das die zugrunde liegenden Motive auf indirektem Wege erfasst werden können. Zentrale Annahme dieser Methode ist, dass die durch das Videospiel möglicherweise angeregte aggressive Tendenz sich auf die erzählten Geschichten der Kinder auswirkt. Eine spätere inhaltsanalytische Auswertung erfasst dann die Häufigkeit bestimmter motivspezifischer Inhalte (z.B. aggressive oder schlichtende Formulier-ungen). Es kann aufgrund dieser Frequenzanalysen auf den Aktivierungsgrad des entsprechenden Motivs geschlossen werden.
Um die Vorerfahrungen der Kinder zu berücksichtigen, die sie in die experimen-tellen Situation mitbringen, wurde abschließend mit den Kindern ein standardisiertes Interview geführt. Dabei wurde erfasst, ob das Kind ein Spielgerät besitzt, welche Spiele es bevorzugt, wie häufig und wie lange das Kind spielt und ob die Kinder auch in anderen Kontexten spielten (z.B. bei Freunden oder in Kaufhäusern).
3.2.3 Ergebnisse
Im folgenden soll auf eine genaue Darstellung der Befunde verzichtet werden, vielmehr sollen vornehmlich die Hauptergebnisse der Zusammenhangsmuster zusammengetragen werden.
Auch wenn korrelative Zusammenhänge keine kausalen Aussagen erlauben, so lassen sich doch signifikante Zusammenhangsmuster von Videospielgewohnheiten und Personenvariablen ablesen (vgl. Abbildung 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es zeigte sich, dass wenig empathische Kinder sowohl über höhere Erfahrungen mit Gewaltspielen verfügte (-.25, p < .01) , als auch die aggressive Spielinhalte schätz-ten (-.41, p < .01). Entsprechend zeigt sich eine positive Beziehung der Aggressions-kennwerte mit der Spielhäufigkeit (.30, p < 0.1).
Dies gibt also erste Hinweise darauf, dass ein Zusammenhang zwischen den Erfahrungen mit aggressiven Spielen und dem Ausmaß des empathischen Mitfühlens besteht. Ein Vergleich mit den vorab erhobenen Aggressionskennwerten und mit dem nach dem Spiel erfassten Motivierungsgrad zeigt, dass bei den beiden Gruppen (Gewaltspiel und gewaltfreies Spiel) keine generelle Aktivierung eingetragen ist. Allerd-ings weisen als aggressiv eingestufte Kinder, verglichen mit niedrig aggressiven Kinder, nach dem Spiel hohe Aggressionskennwerte auf, aber unabhängig von der Art des zuvor gespielten Spiels. Die stärkste Motivaktivierung ist bei hochaggressiven Kindern, die zuvor mit dem gewalthaltigen Spiel spielten, zu beobachten (vgl. Abb. 3).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 4: Mittelwerte der Kennwerte für die körperl. Aggres-sion (TAT) in Abhängikeit von der Aggressionsdisposition (AMG), der Gewaltspielerfahrung und den beiden Ver-suchsbedingunen (nach Steckel, 1998, S. 161).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 3: Mittelwerte in den Aggressionskenn-werten im TAT in Abhängigkeit von der Ag-gressionsdispositioin (NAGG: niedrig-aggres-siv; HAGG: hoch-aggressiv) (nach Steckel, 1998, S. 160)
Es zeigt sich, dass Kinder, die über große Spielerfahrungen verfügen, insbesondere über Erfahrungen mit aggressiven Spielinhalten, in den Fantasiegeschichten des thematischen Auffassungstests einen hohen Anteil körper-licher Aggression thematisieren. Die Vorerfahrungen scheinen also von großer Bedeutung zu sein. Deshalb wurde ein Vergleich mit zwei Extremgruppen gestartet: gering aggressive Kinder mit wenig oder nur geringer Erfahrung mit aggressiven Spielen und Kinder, die als hoch aggressiv einzustufen sind und gleichzeitig auch große Erfahrungen mit Gewaltspielen haben. Es zeigt sich (vgl. Abb. 4) für spielerfahrene, hoch aggressive Streetfighter 2- und Joshi’s-Spieler, dass diese Kinder im Gegensatz zu der anderen Gruppe einen sehr hohen Anteil körperlicher Aggression thematisierten. Bei den niedrig aggressiven Kindern liegt, wie auch zu vermuten war, nach dem Kampfspiel höhere Erregung vor als nach dem harmlosen Spiel. Interessant ist, dass gerade die hochaggressiven Kinder nach dem Sortierspiel mehr Erregung zeigen als nach dem Kampfspiel. Die Autoren erklären dies damit, dass diese Kinder entweder Schwierigkeiten mit dem Geschicklichkeitsspiel gehabt haben könnten oder das Spiel war ihnen einfach zu langweilig, was sie möglicherweise verärgert haben könnte.
Eine Bestätigung finden die Autoren in der Vermutung, dass aggressive Video-spiele emotionale Reaktionen abschwächen können. Ein allgemeiner Vergleich zwischen den beiden Versuchsbedingungen zeigte, dass die Streetfighter-Gruppe im Mittel weniger Anzeichen einer emotionalen Beteiligung aufweiste als die Joshi-Guppe (vgl. Abb. 5).
Auch bei einem zweiten Vergleich mit den Sub-Gruppen „hochaggressiv – gewaltspiel-erfahren“ und „niedrig aggressiv - nicht gewaltspielerfahren“ konnte ein Abstumpfungs-effekt festgestellt werden (vgl. Abb. 6). Bei den hochaggressiven Kindern mit großer Aggressionsspielerfahrung bewirkt das Street-Fighter Spiel den größten Abstumpf-ungseffekt überhaupt. Diese Kinder zeigen im Mittel nur die Hälfte der emotionalen Reaktionen, die sonst gezeigt werden. Eine Teilgruppe von Kindern, die ein hohes Aggressionsniveau aufweisen und große Erfahrungen mit aggressiven Videospielen haben, reagiert auf die nachfolgenden bedrückenden Bilder trotzdem mit emotionaler Beteiligung. Dieser Effekt kann aber nur beobachtet werden, wenn diese Kinder zuvor mit dem Joshi-Spiel spielten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.6: Mittelwerte der Häufigkeiten der emotionalen Reaktionen in Abhängigkeit von der Aggressionsdisposi-tion, der Gewaltspielerfahrung und der Spielart (nach Steckel, 1998, S. 173)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.5: Mittelwerte der emotionalen Beteiligung im mimisch-gestischen Bereich (nach Steckel, 1998, S. 172)
Bei der Analyse der Bilder-Betrachtungszeit zeigte sich, dass Kinder, die mit dem gewaltbeinhaltenden Spiel gespielt hatten, die negativen Bilder länger als die neutral-en Bildern anschauen. Die Joshi-Kinder dagegen betrachteten dagegen länger die neutralen Dias und vermeiden die negativen Bilder eher.
Zusammenfassend ist als Hauptergebnis der vorliegenden Untersuchung eine Herabsetzung der emotionalen Reagibilität bei den teilnehmenden Kindern festzustel-len. Es zeigte sich außerdem, dass die Aggressionsdisposition und die Spielerfahrung-en der Kinder stark in Zusammenhang mit dieser emotionalen Abstumpfung stehen. Dieses deutet, nach Ansicht der Autoren, auch auf Langzeiteffekte hin.
3.3 Studie B: Craig A. Anderson & Melissa Morrow: Auswirkungen kooperativ- vs. konkurrenz-orientierter Situationen auf das aggressive Verhalten von Jugendlichen
3.3.1 Fragestellung
Die Untersuchung von Anderson und Morrow geht der Frage nach, welche Auswirkungen gewalthaltige Spiele in konkurrenz-orientierten Situationen im Unter-schied zu kooperativ orientierten Situationen haben. In einem ersten Experiment über-prüften die Autoren zunächst Deutsch’ Theorie der Konkurenzeffekte. Morton Deutsch (1993) sieht die Konkurrenzhaftigkeit vieler Situationen als Vorbedingung für aggres-sive Tendenzen beim Menschen. Zentrale Annahme ist, dass Menschen Konkurrenz-situationen aggressiver bewerten und dass daraus aggressive Denk- und Verhaltens-muster resultieren. Konkurrenz ist in unserer Gesellschaft alltäglich: im Beruf, im Sport, in der Schule im Freundeskreis, unter Geschwistern usw. treffen wir auf Situationen, in denen das menschliche Streben, hervorstechen und besser als andere sein zu wollen, sichtbar wird. Das Ziel, aus einer konkurrierenden Situation als Gewinner hervorzugehen, macht aggressive Konfliktlösungen (leider) oft attraktiver als friedliche. Menschen lernen in ihrer Entwicklung viel über Beschaffenheit, Merkmale und „Verhaltenskodexe“ konkurrierender und kooperativer Situationen und entwickeln infolgedessen bestimmte kognitive Bewertungsschemata, die Wahrnehmung und Verhalten in eine bestimmte Richtung lenken, und die in bestimmten Situationen dann wirksam werden. Konkurrierend wird von den Autoren also mehr oder weniger gleich gesetzt mit aggressiv.
Ausgehend von diesen Vorüberlegungen, versuchen Anderson und Morrow also im ersten Experiment Bewertungsmuster zu identifizieren, die Personen in konkurrenz-orientierten im Vergleich zu kooperativen Situationen bezüglich der Aggression haben.
In einem zweiten Experiment soll die Vermutung überprüft werden, dass Versuchspersonen sich in einem Videospiel aggressiver verhalten würden, wenn sie gegen jemand anderen spielten (Konkurrenzsituation) als wenn sie miteinander spielen würden. Dieser Zugang wurde gewählt, da die Wirkungen aggressiver Videospiele selbst noch ungeklärt sind, aggressive Verhaltensweisen also möglich sein können oder auch nicht. Zum anderen, wie bereits erwähnt, soll die Studie einen empirischen Zugang zu einem bisher vornehmlich theoretisch behandelten Aspekt der Aggression liefern.
3.3.2 1. Experiment
3.3.2.1 Vorgehen
An diesem ersten Experiment zur Überprüfung des zuvor beschriebenen theoretischen Ansatzes nahmen zehn weibliche und sieben männliche Psychologie-Studenten teil. Um die Versuchspersonen für das Thema zu sensibilisieren, wurden die Studenten zunächst angewiesen, sich einige Situationen vorzustellen, in denen Konkurrenz gegeben ist. Anschließend sollten sie sich Gemeinsamkeiten und Merkmale konkurrenter Situationen überlegen und mehr als drei, aber nicht mehr als zehn Assoziationen auf ein leeres Blatt Papier schreiben. Das gleiche Procedere wurde bezüglich der Bewertung kooperativer Situationen durchgeführt. Außerdem wurde ein standardisiertes Fragebogenverfahren benutzt, das die Ausprägung von sechs Merkmalsdimensionen (1: gewalttätig, 2: aggressiv, 3: verletzend, 4: schädigend, 5: aufregend, 6: angenehm) in kooperativ- bzw. konkurrenz-orientierten Situationen auf einer Skala von 1 bis 5 (1 = überhaupt nicht bis 5 = sehr) messen sollte. Schließlich hatten die Versuchspersonen die Aufgabe, zehn aggressive Wörter (z.B. Kampf, Waffe, Wunde...) und zehn zweideutige Wörter, die entweder positiv oder negativ gewertet werden könnten (z.B. Tier, Drogen, Film, Polizei...), entweder mit „konkurrieren“ oder „kooperieren“ in Verbindung zu bringen.
3.3.2.2 Ergebnisse
Die Merkmale, die die Studenten mit konkurrierenden und kooperierenden Situationen assoziierten, wurden in 3 Kategorien (aggressive, nicht-aggressive und für Aggression unbedeutende Merkmale) unterteilt. Zu den aggressiven Merkmalen wurden Assoziationen gezählt, die eindeutigen aggressiven Charakter hatten, sei es auf der Verhaltensebene (z.B. kämpfen), sei es auf der emotionalen Ebene (z.B. Feindseligkeit) oder auch Verhaltensweisen, die typischerweise zu Wut und Aggressionen führen (z.B. jemanden in den Rücken fallen, jemanden beleidigen). Begriffe, die eindeutig keine aggressive Bedeutung hatten (wie z.B. Zustimmung), die aggressionsmindernde Verhaltensweisen (z.B. Kompromiss) oder nicht-aggressive Gefühle beschrieben (z.B. jemandem verbunden sein), wurden der Gruppe „nicht aggressive Merkmale“ zugeordnet. Alle anderen Begriffe wurden in die dritte neutrale Kategorie eingeteilt.
Abbildung 7 zeigt, dass die Versuchspersonen die Konkurrenzsituation viel aggressiver bewerten als die kooperative Situation, während sie Kooperation eindeutig mit nicht-aggressiven Begriffen assoziieren. Wie die Autoren vermuteten, gibt es also einen starken Zusammenhang (F(1,16) = 32.26; p <.0001) zwischen der Situation und den assoziierten Begriffsmerkmalen aggressiv oder nicht-aggressiv. Abbildung 8 verdeutlicht, wie die Versuchspersonen die konkurrierende und die kooperative Situation hinsichtlich der erfragten sechs Dimensionen einschätzen. Es wird ersichtlich, dass von den Studenten auch hier das Verhalten in Konkurrenzsituationen „gewalttätiger“ (F(1,16) = 20.11, p < .001), „aggressiver“ (F(1,16) = 64.54, p < .0001), „verletzender“ (F(1,16) = 6.94, p < .02), „destruktiver“ (F(1,16) = 9.26, p < .008), „erregender“ (F(1,16) = 6.35, p<.03), dafür aber weniger „angenehm“ (F(1,16) = 4.80, p < .05) einschätzen. Auch die Aufgabe der Wortpaarbildung ergab, dass die Versuchspersonen der Konkurrenz-Situation deutlich mehr die aggressiven und die zweideutigen Begriffe zuordneten als der kooperierenden Situation.
Abb. 8: Einschätzungen der unterschiedlichen Situationen hinsichtlich der 6 Dimensionen (nach Anderson & Morrow, 1995, S. 1024).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.7: Relative Häufigkeit in % der aggressiven und nicht-aggressiven Merkmale (nach Anderson & Morrow, 1995, S. 1024).
3.3.3 2. Experiment
Die Fragestellung des zweiten Experiments war nun, ob Teilnehmer unter konkurrierenden Bedingungen unnötig mehr „Wesen“ in dem Videospiel „Super Mario Brother“ töten würde als in einer kooperierenden Situation.
2.3.3.1 Vorgehen
30 Männliche und 30 weibliche Studenten spielten das Nintendo-Videospiel „Super Mario Brother“ entweder unter der Instruktion, das Spiel aus einer kooperativen oder konkurrenzorientierten Perspektive zu spielen. Ein Drittel der Personen spielte in Paaren Mann – Mann, ein Drittel in Paaren Frau – Frau, und ein weiteres Drittel spielte gemischt geschlechtlich mit- oder gegeneinander. Das Spiel wurde mit einer Videokamera aufgezeichnet. Zusätzlich wurden Fragebogen-Messungen hinzuge-zogen, um festzustellen, ob die experimentelle Situation feindliche oder angenehme Gefühle bei dem Spielpartner hervorrief und ob sie die Wahrnehmung des Computerspiels beeinflusste (abhängige Variablen). Eine Trennwand verhinderte, dass sich die Spieler während des Spielens und während des Ausfüllens des Fragebogens sahen. Außerdem sollten die Spieler nicht miteinander kommunizieren bis das Experiment beendet war. Den Studenten beider Bedingungen wurde gesagt, sie sollten versuchen, im Spiel so weit wie möglich zu kommen. Das bedeutet, ihr Ziel war es zu vermeiden, ihr eigenes Leben zu verlieren. In der kooperativen Situation wurde den Teilnehmern gesagt, dass ihre gemeinsame Leistung gewertet werden würde und sie sich als Team betrachten sollten. In der konkurrierenden Version wurde den Teilnehmern gesagt, ihre Spielleistung würde mit der des Spielpartners verglichen, dass sie also Gegner in diesem Spiel seien. Neben der Messung der Aggression, interessierten die Autoren auch die Auswirkungen der verschiedenen Situationen (Konkurrenz vs. Kooperation) auf die persönliche Gemütsverfassung, auf die Wahrnehmung des Spielpartner und des Spiels. Dazu sollten die Studenten im Anschluss der 30-minütigen Spielphase entsprechende standardisierte Fragebögen ausfüllen. Da die späteren Analysen keine nennenswerten Ergebnisse bezüglich dieser Fragebogenmessungen zeigen, soll an dieser Stelle auf die nähere Ausführung der befragten Items verzichtet werden.
Um zu gewährleisten, dass Aggression nicht durch anfängliche Schwierigkeiten mit dem Spiel hervorgerufen würde, wurde jeweils nur der letzte Abschnitt der Videospiel-aufzeichnung zur Aggressionsmessung verwendet. Die Aggressionsmessungen basierten darauf, wie die Person die Hauptspielfigur des Spiels durch das Spiel führt, insbesondere in Bezug auf das Töten der anderen Wesen. Auf diese sicher zweifelhaft Messung aggressiven Verhaltens, soll im Diskussionsteil noch einmal gesondert Bezug genommen werden.
Es gibt zwei Möglichkeiten, Gegner auszuschalten: Erstens kann man den Gegner töten, indem man ihm auf dem Kopf springt und zweitens kann man unter bestimmten Umständen Feuerbälle auf seine Gegner werfen. Ebenso gibt es auch zwei Möglichkeiten, einen Gegner zu umgehen, indem man entweder die Gegner über-springt oder in selteneren Fällen, indem man auf einen Block springt oder einen anderen Weg wählt. Ein automatisches Codierverfahren wertete unabhängig von dem Experimentalbedingungen alle Videobänder aus, indem es einfach zählte, wie viele Kreaturen a) mit einem Kopfsprung, b) mit einem Feuerball getötet wurden, c) über wie viele Kreaturen gesprungen wurde oder d) wie oft die Gegner auf anderen Wegen vermieden wurden.
3.3.3.2 Ergebnisse
Wie die Autoren vermuteten, töteten Personen der konkurrenzartigen Situation signifikant mehr Wesen als jene der kooperativen Situation (F (1,56) = 35.68, p < .0001). Im Durchschnitt hatten konkurrierende Spieler eine Tötungsrate von 66 %, während kooperative Spieler in einem Ausmaß von 41 % töteten. Interessanter Weise gab es keinen Hinweis auf geschlechtsspezifische Unterschiede. Weibliche und männliche Teilnehmer hatten im Wesentlichen die gleichen Tötungsraten (vgl. Abb.9).
Andere Vermutungen der Autoren, wie z.B. die, dass die Konkurrenzsituation des Spiels die wahrgenommene Frustration steigern, die Freude am Spiel senken, die Feindseligkeit erhöhen könnte, konnte in dieser Untersuchung nicht belegt werden. Als zusammenfassendes Ergebnis lässt sich zu dieser Studie feststellen, dass aggressive Tendenzen zwar festzustellen sind, aber nicht gegenüber den Spielpartner, sondern nur gegenüber der konkurrierenden Situation des Spiels.
Abb. 9: Tötungsrate (in %) (nach Anderson & Morrow, 1995, S. 1028).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
4 Diskussion
Ziel vieler psychologischer Untersuchungen ist das Auffinden systematischer Zusammenhänge zwischen mehreren Variablen. Aber nicht jede beobachtete Kombination zweier Ereignisse darf als systematische Beziehung oder sogar als Ursache-Wirkung-Zusammenhang interpretiert werden. Insgesamt ist die erste dargelegte Studie ein Beitrag in der Videospielforschung, der versucht, viele mögliche Einflussfaktoren aggressiven Verhaltens in die Untersuchung mit einzubeziehen. Dieses ist allerdings nicht einfach, da man im Labor die vielen unterschiedlichen Variablen kontrollieren muss. Das setzt die Versuchspersonen, in diesem Falle die Kinder, in eine doch sehr anspruchsvolle experimentelle Situation. Diese ist weder hinsichtlich des äußeren Ambientes (verunsicherndes Arrangement im Labor, sozialer Kontext beim Alleinspielen) noch hinsichtlich der genutzten Inhalte (z.B. der isolierte Gewaltakt, Kinder würden das ihnen zugeteilte Spiel u.U. von alleine nie spielen) mit der natürlichen Nutzungssituation der Kinder zu vergleichen. Die Autoren interpretie-ren ihre Ergebnisse insgesamt zwar mit Vorsicht, sind aber dennoch insofern von den Ergebnissen überzeugt, als dass das Spielen mit aggressiven Inhalten die generelle Empfindlichkeit gegenüber emotionalen Zuständen anderer herabsetzt. Es ist aber schon zu überlegen, ob die Betrachtung und die Betrachtungszeit einzelner Bilder ein Indikator für emotionale Abstumpfung allein sein kann. Man könnte vielleicht schluss-folgern, dass aggressive Kinder Vorlieben für aggressive Spiele haben, während wenig aggressive Kinder friedlichere Spiele bevorzugen. Auch die Gewalt in Phanta-siegeschichten darf nicht mit realer Gewalt verwechselt werden. Erst wenn Phanta-sien, jemanden anderen oder sich selbst zu verletzen, in die Realität übertragen werden, (wie es wahrscheinlich bei Robert Steinhäuser der Fall gewesen ist), kann man von Aggressivität sprechen.
Besonders das Ergebnis der zweiten Studie von Anderson und Morrow, wonach beim konkurrierenden Spiel 66 % der Monster, hingegen beim kooperierenden Spiel lediglich 41 % (immerhin 41%!) getötet wurden, lässt keine gültigen Schluss-folgerungen über das Ausmaß gesteigerter Aggressionen durch das Videospielen zu. Man kann die Ergebnisse allenfalls als einfache Fortführung des ersten, durchaus gut angelegten, Experiments betrachten, dass Menschen konkurrierende Situationen „aggressiver“ angehen. Das hat mit dem Computerspielen an sich aber nichts zu tun. Die vermeintlich aggressiven Handlungen eines sowieso harmlosen Spiels (Hinder-nisse abschießen oder Monster durch Kopfsprung töten) gehören zu den Spielregeln. Ein erheblicher Mangel vieler Untersuchungen ist m.E. die Verwechslung von gespielten und realen aggressiven Handlungen. Kinder und Jugendliche wissen genau, dass sich die Spielregeln eines Spiels von denen der Realität gewaltig unterscheiden. Bevor man sich mit den Auswirkungen eines Computerspiels beschäf-tigt, sollte man sich vorher mit dem Wesen des Spiels auseinandersetzen (vgl. hierzu z.B. die Spieltheorie von Winnicott, 1971). Denn auch das Computerspiel ist grundsätzlich erst einmal nur ein Spiel (vgl. Gieselmann, 2000, S. 11ff).
5 Schlussbemerkung
Zum Schluss möchte ich noch anmerken, dass ich vor kurzem eine Tagung zu Computerspielen besuchte (4. Gautinger Internettreffen, 20.3.03), an der v. a. Praktiker aus der medienpädagogischen Jugendarbeit, aber auch wissenschaftliche Vertreter an zwei Tagen das Thema „Computerspiele – Zwischen Fiktion und Wirklichkeit“ diskutierten. Als Pioniere in der deutschen Forschungstätigkeit referierten auch Rita Steckel und Clemens Trudewind über eine, der hier dargestellten sehr ähnlichen, aber aktuelleren Studie zu den Auswirkungen gewalthaltiger Spiele auf das aggressive Verhalten von Kindern. Mir ist in diesem Rahmen die Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis sehr deutlich geworden. Denn die Ergebnisse dieser Studie überzeugten die anwesenden Personen aus der Praxis in keinster Weise. Wissenschaftliche Verfahren und Ergebnisse, mögen sie noch so methodisch sauber und einwandfrei sein, decken sich nicht mit den praktischen Erfahrungen aus der Jugendarbeit und erfassen mit ihrem Anspruch auf Objektivität nicht die Realität. Es sei schade, dass wissenschaftlichen Untersuchungen in der öffentlichen Diskussion zu diesem Thema mehr Beachtung geschenkt würden als die zahlreichen praktischen Erfahrungen mit Computerspielen und mit Jugendlichen, die diese zweifelhaften Spiele spielen. Es werde nach Antworten auf die falschen Fragen gesucht. Und dass auf der Basis solcher Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Maßnahmen getroffen werden (z.B. Indizierung bestimmter Spiele), die erstens ein falsches Licht auf die ganze Sache werfen und zweitens die praktische Arbeit der Pädagogen in Frage stellen. Die Forschung sollte im eigenen Interesse die Wirklichkeit untersuchen, was eine stärke Zusammenarbeit von Forschern und Praktikern (und auch Jugendlichen) zwingend notwendig machen würde. Im Gegenzug muss ich aber auch anmerken, dass pädagogisch Tätige vielfach die Forschung nur kritisieren, ohne selbst konstruktiv mitzuarbeiten, indem sie z.B. ihre Erfahrungen wissenschaftlich Tätigen zur Verfügung stellen und an der Planung vorn Forschungsvorhaben mitwirken. Meines Erachtens gilt es, diese Kluft zwischen Forschern und Praktikern zu beheben, um zu Aussagen zu kommen, die tatsächlich die Frage der Auswirkungen von Computerspielen beantworten können.
6 Literaturverzeichnis
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Gieselmann, H. (2002). Der virtuelle Krieg. Zwischen Schein und Wirklichkeit im Computerspiel. Hannover: Offizin-Verlag.
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- Quote paper
- Marike Schlattmann (Author), 2003, Experimentelle Befunde zu möglichen Auswirkungen aggressiver Videospiele auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107937
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