I. Entstehung totalitärer Herrschaftssysteme
Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen – die Massen sind nicht nur Grundlage, sondern auch Voraussetzung ihrer Existenz, in kleinen Ländern kann sich kein wirklicher Totalitarismus entwickeln, sondern lediglich eine Militär- oder Einparteiendiktatur. Diese Länder verfügen nicht über genügend Menschenmaterial, um die ungeheuren Verluste an Menschenleben zu ertragen, die ein totalitäres Herrschaftssystem erfordert. Deutschland ist in diesem Sinne ein Grenzfall – alles was vor Kriegsausbruch gemacht wurde, war lediglich Vorbereitung einer totalitären, weltumfassenden Diktatur, an ihre Verwirklichung konnte man erst nach 1939 herangehen, nachdem die notwendigen menschlichen Reserven in den besetzten Gebieten erobert wurden: Einen voll entwickelten totalen Herrschaftsapparat hätte Deutschland erst im Falle eines gewonnenen Krieges kennengelernt... Es handelt sich dabei nicht um irgendeine aus der Geschichte bekannte Formation, sondern um moderne Massen, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Arendt definiert sie folgendermaßen: Massen werden nicht von gemeinsamen Interessen zusammengehalten, und ihnen fehlt jedes spezifische Klassenbewusstsein (...). Der Ausdruck "Masse" ist überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich (...) in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen (...) beruht (...). Potentiell existieren sie in jedem Lande und zu jeder Zeit; sie bilden sogar zumeist die Mehrheit der Bevölkerung auch sehr zivilisierter Länder, nur dass sie eben in normalen Zeiten politisch neutral bleiben und sich damit begnügen, ihre Stimmen nicht abzugeben und den Parteien nicht beizutreten. Solche Massen sind politisch nicht interessiert und bleiben unter normalen Umständen politisch neutral – erst in Krisenzeiten werden sie zu jenem Faktor, der die Etablierung eines totalitären Regimes möglich macht (Arendt spricht von einer prätotalitären Atmosphäre). Entgegen den Propagandaparolen von der „Politisierung des ganzen Volkes“ liegt es den totalitären Machthabern allerdings nichts daran, diese Massen politisch zu aktivieren – sie bringen die Diktatur nur an die Macht, um dann totalitär beherrscht und somit über kurz oder lang selbst Opfer zu werden.
Eine weitere Voraussetzung für die Entstehung totalitärer Systeme im 20. Jahrhundert waren bestimmte Verfallsprozesse im sozialen und politischen Bereich, die zu einer spezifischen Heimatlosigkeit der Massen führten, sie für die totalitäre Propaganda empfänglich machten und den Prozess der Atomisierung der Gesellschaft ermöglichten, der totalitäre Herrschaft unmittelbar einleitete. Dazu zählen der Zerfall der überkommenen Klassengesellschaft und das Scheitern des Parteiensystems in der nach dem 1. Weltkrieg eingetretenen Krise. Die herkömmlichen Parteien waren als Interessenparteien entstanden, und somit Interessenvertretungen bestimmter Gruppen. Nie hatte die breite Mehrheit, die Masse, Zugang zu politischen Entscheidungen, doch solange das alte System intakt war, konnten die Interessen der einzelnen Gruppen befriedigend vertreten werden und die Individuen durch ihre Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen stabilisiert werden (als es nach dem Zusammenbruch der Klassengesellschaft keine Interessen mehr zu vertreten gab, entwickelten sich die Parteien zunehmend zu Weltanschauungsparteien). Mit dem Wegfall der Klassenstruktur verwandelten sich die potentiellen, apathischen Mehrheiten, die bisher hinter jeder Partei gestanden hatten, in eine unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und hasserfüllter Individuen..., entwurzelt und ohne Kontakt zu anderen Individuen. Diese Stufe des Zerfalls bezeichnet Arendt als Atomisierung der Gesellschaft.
Im günstigen Fall kann sie sich (wie in Deutschland) von alleine einstellen, man kann sie aber auch – das war in der Sowjetunion der Fall – künstlich herstellen. Stalin tat dies durch seine Terrormaßnahmen, die seinen Untertanen den Rückhalt entzogen, den ihnen die Zugehörigkeit zu einer der Gesellschaftsschichten gab – in der zeitlichen Reihenfolge waren das der Mittelstand (in Russland ohnehin nicht bedeutend), die Bauern, die Arbeiter und schließlich auch die Parteibürokratie, welche die Maßnahmen gegen die anderen Gruppen vorbereitet hatte. Diese Zersetzungsprozesse verschonten nicht einmal Freundschafts- und Familienbande – im Falle einer Verhaftung, ließ sich die Frau des Verhafteten von ihm scheiden, um das eigene Leben zu retten, und die ehemaligen Freunde lieferten bei fingierten Prozessen willig belastende Aussagen.
Totalitäre Propaganda richtet sich hauptsächlich an das nichttotalitäre Ausland, dem aus taktischen Gründen ein bestimmtes Bild des totalitären Staates (bzw. der totalitären Bewegung, solange sie nicht regiert) vorgetäuscht wird. Innenpolitisch ist sie vor der Machtergreifung weitaus wichtiger als danach. Sie soll helfen, möglichst viele Sympathisanten in der breiten Masse der Bevölkerung zu gewinnen und den verbliebenen Rest unmittelbar nach der Machtergreifung gleichzuschalten – d.h. in äußerlich Sympathisierende, aber nicht unbedingt zuverlässige Elemente umzuwandeln (die untersten Schichten – der Mob – und die intellektuelle Elite bedürfen allerdings keiner Propaganda, da die Bewegung ohnehin eine große Anziehungskraft auf sie ausübt). Das Ziel der totalen Herrschaft ist eine Situation, in der keine Propaganda mehr notwendig ist, weil alles und alle total beherrscht werden. Propaganda ist nur Instrument im Verkehr mit der Außenwelt und hat nur solange eine Berechtigung, als es diese Außenwelt gibt – d.h. innenpolitisch bis zur Machtergreifung und außenpolitisch bis zur Etablierung einer absoluten Weltherrschaft.
Zwei Hauptmerkmale unterscheiden die totalitäre Propaganda von anderen Propaganda-Typen: sie neigt zu einer „wissenschaftlichen“ Verbrämung ihrer Behauptungen, und sie ist auf die Zukunft ausgerichtet, oder besser gesagt, auf das, was sie aufgrund der ihr zugrundeliegenden ideologischen Basisaussage (Rassen- oder Klassenkampf) als Zukunft prophezeit. In der „herkömmlichen“ Propaganda wurden gegenwärtige „Notwendigkeiten“ mit Vergangenem gerechtfertigt. Die zugrundeliegenden ideologischen Basisaussagen werden als objektive, unumstößliche, ewige Gesetze der Natur dargestellt, die auch eine eventuelle aktuelle Niederlage nicht widerlegen kann. Dies entzieht die Argumente jeglicher Kontrolle durch die Wirklichkeit und ist in Krisenzeiten besonders wirksam, in denen die Massen an einem radikalen Schwund des gesunden Menschenverstandes und seiner Urteilskraft leiden. Ist die Bewegung einmal an die Macht gekommen, kann sie die Erfüllung ihrer Prophezeiungen bewirken und sie auf diese Weise „beweisen“ (die nationalsozialistische Behauptung von einer jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft und zur Unterwerfung der germanischen Rasse wurde durch Verfolgung und schließlich planmäßig durchgeführte Ausrottung der Juden „bewiesen“). Eine solche Propaganda kommt der Sehnsucht der Massen nach einem völlig in sich konsequenten, verständlichen und voraussagbaren Geschehen entgegen, wie es die Realität nicht bieten kann (Realitätsflucht der Massen). In der atomisierten Gesellschaft, in der alle bisherigen Werte und Maßstäbe nicht mehr gelten, sind die Massen bereit, sich der starren und verrückten Stimmigkeit einer Ideologie zu unterwerfen, auch wenn sie auf noch so fiktiven und absurden Voraussetzungen basiert. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch eine Pose der Unfehlbarkeit, die der Führer der Bewegung annimmt, um sich auf diese Weise als bloß interpretierender Agent voraussagbarer Kräfte, der o.g. „ewigen“ Gesetze auszugeben. All das entspringt einer außerordentlichen Verachtung der Tatsachen, der Überzeugung, dass alles machbar ist, dass sich jede Prophezeiung verwirklichen lässt, sobald man die totale Macht erlangt hat.
II. Organisationsformen totalitärer Bewegungen
Die Organisationsformen totalitärer Bewegungen sind laut Arendt von beispielloser Originalität. Das sogenannte Führerprinzip sei hier von sekundärer Bedeutung, und die Person des Führers beliebig austauschbar, sofern der Gesamtapparat gut funktioniert. Das Wesentliche und Originelle ist eine hierarchische Organisation der Bewegung in verschiedenen Gruppen, die steigenden Einweihungsstufen entsprechen (Hierarchie der Radikalität). Die unterste und breiteste Schicht sind Sympathisanten, die in sog. Frontorganisationen zusammengefasst werden; ihnen folgen gewöhnliche Parteimitglieder, und über diesen stehen verschiedene, in ihrer Bedeutung wiederum abgestufte Eliteorganisationen (SA, SS bzw. Parteiagenten und NKWD-Agenten). Für jede dieser Stufen ist ein bestimmter Grad von Fanatismus charakteristisch – nach oben steigend – und eine spezifische Mischung aus Zynismus und Leichtgläubigkeit in veränderlichen Proportionen: je niedriger man in der Hierarchie steht, desto mehr glaubt man an die ideologische und propagandistische Fiktion der Bewegung (bei einfachen Sympathisierenden dürfte die entsprechende Quote bei 100% liegen), je höher, desto mehr weiß man um die eigentlichen Ziele und die Verlogenheit der Propaganda Bescheid. Nach oben ist diese Struktur offen, denn es lassen sich immer neue, weitere Eliteorganisationen hinzufügen, die alle anderen an Fanatismus übertreffen. Eine solche Verschiebung fand im Nazi-Deutschland statt, als die SS die SA entmachtete und später innerhalb der SS selbst (Allgemeine SS zugunsten der Totenkopfverbände und anderer SS-Eliteformationen). Die unendliche Erweiterungsfähigkeit dieses Systems verhindert das Erstarren des Parteiapparats und eine Stabilisierung der Bewegung (ständiges Chaos ist die Grundvoraussetzung für den Erhalt des totalitären Systems).
Diese Hierarchie-Strukturen weisen auffallende Ähnlichkeiten mit den Geheimgesellschaften auf. Ihre Abstufungen entsprechen dem Grad des „Eingeweihtseins“ in den Geheimgesellschaften, die Ereignisse der Außenwelt werden nach einem „geheimen“ Schlüssel (Ideologie) interpretiert, die Bewegung wird durch absoluten Gehorsam zu einem stets in ein Geheimnis gehüllten Führer zusammengehalten [vom Privatleben der Diktatoren erfuhr die Bevölkerung nichts – C.B.] , der von einer kleinen Gruppe völlig Eingeweihter umgeben ist – und weiteren Kreisen von teilweise Eingeweihten. Ähnlich wie die Geheimgesellschaften entwickelten totalitäre Bewegungen auch ihre eigenen Rituale (Umzüge auf dem Roten Platz in Moskau, Nürnberger Reichsparteitage) mit eigenen Reliquien (Lenins mumifizierte Leiche, die „Blutfahne“ der Nazis).
Die unteren Stufen der Hierarchie sind für die jeweils höheren ein Schutzwall gegen die nichttotalitäre Wirklichkeit, eine genau überwachte Brücke zur Normalität, die sie jeweils vortäuschen. Ohne diesen Schutz würden die Mitglieder den Unterschied zwischen der ideologischen Fiktion und der Realität der normalen Welt als allzu scharf empfinden. Die unteren Schichten täuschen als weniger überzeugte, weniger radikale die Normalität vor und bestärken die Mitglieder der höheren Schichten in dem Glauben, dass eigentlich alle (die nicht von vornherein ausgeschlossen sind wie Juden oder Kapitalisten) auf ihrer Seite stehen, bloß nicht alle gleich konsequent: Durch die Frontorganisation der Sympathisierenden hindurch erscheint die Welt als voll von geheimen Verbündeten, die nur noch nicht die notwendige Geistes- und Charakterstärke aufbringen können, um die Konsequenzen aus ihren Überzeugungen zu ziehen. (...) Es ist der Ersatz der Wirklichkeit, der am wirksamsten vor der Wirklichkeit schützt. Die unterste Schicht der Bloß-Sympathisanten täuscht außerdem der nichttotalitären Welt vor, dass die Bewegung gemäßigter ist als in Wirklichkeit, dass sie nicht nur aus Fanatikern besteht und ihre Ziele zumindest halbwegs realistisch und diskutabel sind. Nach der Machtergreifung wird diese Zwiebelstruktur beibehalten und die gesamte Bevölkerung des Landes als Sympathisierende gleichgeschaltet.
III. Haupteigenschaften totalitärer Herrschaftssysteme
Totalitäre Herrschaft basiert auf einem System von Lügen (Kunst der prinzipiellen Verlogenheit), was mit der bereits erwähnten Realitätsflucht der Massen zusammenhängt. Dabei kann man zwischen der unveränderlichen zentralen ideologischen Lüge (oder besser gesagt Lügengeflecht) und den täglich wechselnden taktischen Lügen unterscheiden. Das ideologische Lügengeflecht ist dabei radikal in seiner Wirklichkeitsverachtung – totalitäre Bewegungen begnügen sich nämlich nicht mit einzelnen Lügen innerhalb eines realistischen Gesamtzusammenhangs, wie ihn die Wirklichkeit vorgibt. Sie gehen buchstäblich aufs Ganze, indem sie eine neue, fiktive Realität schaffen. Betrachtet man die Einzellügen innerhalb dieses Systems, fällt ihr fiktiver Charakter nicht auf, weil das System in sich schlüssig und logisch aufgebaut ist – es entspricht bloß nicht den Tatsachen. Statt mehrfacher Vertuschungen, Verdrehungen usw. haben wir es hier mit einem neuen Gesamtentwurf der Realität zu tun. Mit den bereits beschriebenen propagandistischen Mitteln wird dieses Lügengeflecht als wahr und glaubwürdig dargestellt. Zum Schutz vor dessen Aufdeckung werden „eiserne Vorhänge“ errichtet – d.h. das Land wird von der nichttotalitären Außenwelt möglichst dicht abgeschirmt (im Falle Deutschlands wurde das durch den 2. Weltkrieg Krieg gewährleistet). Auf diese Weise kann man die ideologische Fiktion auf einem begrenztem Raum tatsächlich – zumindest zeitweise – verwirklichen und ihr so den Anschein von Richtigkeit geben.
Eine wirklich totale Herrschaft, die eine dauerhafte Veränderung der Tatsachen zu ermöglichen verspricht, ist jedoch nur durch eine vollkommene Beherrschung der ganzen Welt zu erreichen. Deshalb streben totalitäre Bewegungen nach einer absoluten Weltherrschaft und betrachten das Heimatland, in dem sie an die Macht gekommen sind, lediglich als internationales Hauptquartier der Bewegung und ein Labor, in dem sie an geeigneten Mechanismen zur totalen Beherrschung von Menschen für die Zeit nach der Erlangung der Weltherrschaft experimentieren können (diese Rolle üben die Konzentrationslager aus, die im russischen System – unberechtigterweise – als Arbeitslager bezeichnet werden). Nationalsozialistische Parolen von den Deutschen als Herrenvolk waren lediglich taktische Propagandalügen zur Mobilisierung der Bevölkerung. Die wirkliche Herrenrasse sollte erst in Zukunft in den Eliteorganisationen der Bewegung und wohl auch unter Zulassung anderer germanischer Völker herangezüchtet werden. Die breite Masse wäre dann dem Prozess der Ausmerze (d.h. Liquidierung aller unerwünschten, „minderwertigen“ Elemente) unterzogen und ein kleiner Rest wahrscheinlich als Untermenschen versklavt worden. Mit diesem Anspruch auf eine totale Weltherrschaft hing auch die Errichtung von Satellitenstaaten zusammen, wie sie von Deutschland im 2. Weltkrieg und von der Sowjetunion unmittelbar nach Kriegsende betrieben wurde.
Ein weiteres Wesensmerkmal totalitärer Bewegungen und Regierungen ist ihre Bewegungssüchtigkeit – sie ist eine notwendige Voraussetzung ihrer Existenz. Da sie durch die chaotischen Verhältnisse, die mit der Atomisierung der Gesellschaft eingetreten waren, an die Macht gelangten, können sie sich nur halten, solange diese Verhältnisse bestehen, sprich solange sie selbst in Bewegung bleiben. Aus diesem Grund verhinderte Hitler alle Maßnahmen der unteren Parteistellen, die auf eine Normalisierung der Verhältnisse nach der Machtergreifung in Deutschland (z.B. Einschränkung der anfänglichen Terrorwelle oder Strafverfolgung zu weit gehender Ausschreitungen der SA) hinausliefen. Der totalitäre Machthaber muss mit allen Mitteln die Bedingungen des Zerfalls, unter denen die Bewegung zur Macht gekommen ist, aufrechterhalten und verhindern, dass das, was er dauernd versprochen hat, wirklich eintritt, nämlich eine Neuordnung aller Lebensverhältnisse und eine neue Normalität und Stabilität... Um dies zu gewährleisten, bedient er sich der Technik der permanenten Revolution, die immer neue Ziele setzt, was in den uns bekannten totalitären Systemen mit der Aufstellung immer neuer Feindbilder identisch war. In Russland wurde die permanente Revolution durch die in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Säuberungswellen realisiert, in Deutschland durch die Erweiterung der rassischen Auslese: nach den Juden sollten die Slawen ausgerottet werden, nach den psychisch Kranken alle organisch Kranken – nur der Untergang des Nazi-Regimes verhinderte die Ausführung dieser Pläne.
IV. Mechanismen totalitärer Herrschaft
Im Totalitarismus ist die Autorität des Staates nur scheinbar, lediglich Fassade – die wirkliche Macht liegt beim Parteiapparat. Dies lässt sich sehr gut am Beispiel des Dritten Reichs illustrieren. Unmittelbar nach der Machtergreifung begannen die Nazis alle Ämter von irgendeiner Bedeutung so zu verdoppeln, dass die gleiche Funktion einmal von einem Staatsbeamten und zweitens von einem Parteimitglied erfüllt wurde. Jeder staatlichen Behörde entsprach eine Parteidienststelle mit gleicher Zuständigkeit. Diese Verdoppelung von Funktionen wurde auch dann nicht aufgehoben, wenn ein Parteigenosse Staatsminister wurde. Und da es die Parteistellen waren, die in Wirklichkeit das Sagen hatten, war das für die betroffenen Genossen fast immer nur ein scheinbarer Aufstieg, der mit einem enormen Machtverlust verbunden war. Das Verdoppelungsprinzip galt sogar bei der territorialen Zuständigkeit der Behörden – die deutschen Bundesländer (und in Preußen Provinzen) wurden zwar ihrer Zuständigkeiten weitgehend beraubt, aber nicht abgeschafft – zusätzlich zu diesen ursprünglichen Einheiten wurde eine Einteilung in Gaue (Verwaltungseinheiten der NSDAP) eingeführt, wobei die Grenzen nicht mit denen der Länder und Provinzen übereinstimmten. Nach einiger Zeit tritt an die Stelle der einfachen Duplizierung, eine Multiplikation der Zuständigkeiten, die Arendt ebenfalls am Beispiel der territorialen Zuständigkeiten erklärt – zusätzlich zu den Gauen wurden weitere territoriale Einheiten geschaffen, die verschiedenen Gliederungen der Partei entsprachen: die SA-, die SS- und die HJ-Verwaltungseinheiten, deren Grenzen sich ebenfalls nicht deckten. Ähnlich war es mit Behörden und Dienststellen – es wurden immer neue Ämter geschaffen, ohne dass die alten aufgelöst wurden. Auf diese Weise verschoben sich die Machtzentren ständig, und zwar so, dass die betroffenen Funktionäre oft selbst nichts von ihrer Entmachtung ahnten: Der Einwohner des Dritten Reiches (...) wusste niemals im gegebenen Augenblick, welche dieser Instanzen gerade die Fassade und welche die wirkliche Macht repräsentiere. Nur eine Art sechster Sinn, den allerdings die Bewohner totalitärer Länder äußerst schnell entwickeln, konnte ihm sagen, wessen Befehl er wirklich zu gehorchen hatte und um wen er sich nicht mehr zu kümmern brauchte. All das sollte das lebensnotwendige Element der Bewegung im System aufrechterhalten, hatte aber auch andere Vorteile verwaltungstechnischer Natur.
Dieselben Prinzipien regierten auch den sowjetischen Staats- und Parteiapparat, wobei die entmachteten Stellen nach einer gewissen Zeit mitsamt Personal liquidiert wurden. Die geschilderte Multiplizierung von Zuständigkeiten machte den größten Unterschied gegenüber herkömmlichen Einparteien-Diktaturen aus.
Das wichtigste Instrument der totalitären Herrschaft ist jedoch der Terror, ihm kommt die wichtigste Funktion im ganzen Staatsapparat zu – die totale Beherrschung der gesamten Bevölkerung und die Verwirklichung der ideologischen Fiktion (die Multiplizierung war lediglich ein Mittel zur Beherrschung des Staatsapparats). Ausgeübt wird er von der Geheimpolizei, die auf der höchsten Stufe in der bereits beschriebenen Hierarchie der Radikalität steht. Ihre Aktivitäten richten sich, anders als in herkömmlichen Diktaturen, nicht ausschließlich gegen die Gegner des Regimes – diese sind innerhalb einer kurzen Zeit nach der Machtergreifung liquidiert. An die Stelle der alten Unterscheidung zwischen Freund und Feind tritt die Kategorie des objektiven Gegners – eines Gegners, der unabhängig von seiner subjektiven Einstellung von der Ideologie zum Feind erklärt wurde. Ein Jude wurde in Nazideutschland nicht vergast, weil er gegen den Nationalsozialismus ist, sondern weil die nationalsozialistische Ideologie die Ausrottung der jüdischen Rasse zum Hauptziel der Bewegung erhoben hat (ähnlich wurden Kulaken in der UdSSR nicht wegen ihrer feindlichen Gesinnung verfolgt – danach hat niemand gefragt – sondern weil man sie objektiv zum Volksfeind erklärt hatte). Über die Verfolgung entscheidet also nicht eine persönliche (subjektive) Schuld, sondern die objektiven Eigenschaften der Verfolgten, beispielsweise die Zugehörigkeit zu irgendeiner Bevölkerungsgruppe oder eine Krankheit (NS-Euthanasie). Nicht gegen Verbrecher, sondern gegen Unerwünschte – potentiell also gegen jedermann – richtet sich der totalitäre Terror: Die totale Herrschaft hat die Begriffe von Verbrechen und Auszeichnung, von Schuld und Unschuld nicht, wie die uns bekannten Diktaturen und Despotien, nach ihr genehmen Richtlinien „revolutioniert“ – sie hat sie einfach abgeschafft und an ihre Stelle den in seiner ganzen Furchtbarkeit noch kaum geahnten neuen Begriff der „Unerwünschten“ und „Lebensuntauglichen“ gesetzt. Nur Verbrecher kann man bestrafen, Unerwünschte und Lebensuntaugliche lässt man von der Erdoberfläche verschwinden... In herkömmlichen Diktaturen ist Terror ein Mittel zur Unterdrückung der Opposition – im Totalitarismus ist er zum Zweck selbst geworden.
Eine absolut totale – d.h. alle Menschen restlos beherrschende – Diktatur wurde weder in Deutschland noch in der Sowjetunion errichtet, sie wäre erst nach der restlosen Eroberung der gesamten Welt möglich gewesen. Nur in den Konzentrationslagern dieser totalitären Systeme wurde eine solche Herrschaftsform als Prototyp für die Zukunft erprobt: Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, dass Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist. Die Zustände in den Lagern sollen den menschlichen Charakter so weit zerstören, dass die einzelnen Individuen – jeglicher Freiheit beraubt, außer der Freiheit, einen Selbstmord zu begehen – zu bloßen Reaktionsbündeln werden, die sich unter gleichen Bedingungen immer gleich verhalten – die Menschen sollen etwas werden, was selbst Tiere nicht sind. Das Konzentrationslager ist die einzige Form, in der es gelingen kann, sich des Menschen total zu bemächtigen. Somit läuft die totale Herrschaft auf die Etablierung einer Gesellschaft von restlos aller Spontaneität beraubten Marionetten hinaus, einer Welt also, in der Menschen überflüssig sind.
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- Cezary Bazydlo (Autor), 2002, Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107877
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