Diese Arbeit untersucht die zentrale Rolle von Treue, Ehre und Freundschaft im Nibelungenlied, insbesondere in den Aventiuren 33-37. Die Autorin betrachtet die Triuwe als grundlegendes Prinzip, das weitere Tugenden wie êre, mâze, kiusche und zuht hervorbringt. Durch eine Analyse der Kampfszenen und Konflikte im Schlussteil des Epos wird die dialektische Spannung zwischen Treue und Untreue sowie ehrenhaftem und unehrenhaftem Verhalten verdeutlicht. Die Aventiuren 33-37 zeigen einen Höhepunkt der Kampfhandlungen und enthüllen die subtile Komplexität der Charaktere und ihrer Entscheidungen.
Gliederung
Einleitung..
I. Der triuwe -Begriff.
1. Das Verständnis von Freundschaftstreue bei den Burgunden .
1.1. In der Kampfsituation.
1.2. Die Lobrede Hagens auf Volker.
2. Das Verständnis von Gefolgschaftstreue bei Dietrich.
II. Der êre -Begriff
1. Der Angriff der Burgunden auf die Ehre der Hunnen
2. Irings Kampf für die Ehre der Hunnen... ..
III. Das unehrenhafte Verhalten Kriemhilds
1. Das Friedensgesuch der Burgunden... ..
2. Das Geiselangebot Kriemhilds..
3. Der Gebäudebrand.
IV. Rüdigers Loyalitäts- und Gewissenskonflikt...
1. Rüdigers Bindung zu den Hunnen
2. Rüdigers Bindung zu den Burgunden..
2. Rüdigers Verhältnis zu Hagen.
V. Literaturverzeichnis..
Einleitung
Die Eigenschaft der triuwe gilt als eine der höchsten Tugenden innerhalb des Nibelungenliedes. Gentry verweist in seinem Aufsatz „Triuwe and vriunt in the Nibelungenlied“ darauf, daß triuwe nicht nur isoliert betrachtet werden kann, sondern auch als die Quelle für Tugenden wie êre, mâze, kiusche und zuht verstanden werden muß.[1] Im Nibelungenlied gibt es eine Fülle von Beweisen, daß der Dichter den Triuwe-Gedanken als grundlegendes, strukturelles Prinzip verwendete.
Der tödliche Konflikt zwischen Burgunden und Hunnen wird vom Dichter des Nibelungenliedes als Verflechtung einer Rache und als Kampf zweier Völker dargestellt, die zu permanenten Vergeltungsakten angetrieben werden.[2] Dies zeigt sich insbesondere in den Kämpfen des zweiten Teils.
Vorliegend sollen spezifische Aspekte der Begriffe triuwe, êre und vriuntschaft in der 33. bis 37. Aventiure untersucht werden. Sie gehören zum Schlußteil des Nibelungenliedes, der von einer dichteren Ereignisabfolge gekennzeichnet ist: die Aneinanderreihung von konfliktgeladenen Szenen und blutigen Kämpfen deuten auf den Tod aller Burgunden hin.[3]
Die dialektische Spannung zwischen Treue und Untreue, ehrenhaftem und unehrenhaftem Verhalten zeichnet sich vor allem in diesen vier Abenteuern ab, da die Kampfhandlungen qualitativ und quantitativ in ihnen ihren Höhepunkt finden. Das Wechselspiel und die Gegenüberstellung dieser Gegensätze machen die Spannung und Subtilität der Kämpfe aus.
I. Der triuwe-Begriff
1. Das Verständnis von Freundschaftstreue bei den Burgunden
Die 33. Aventiure, die von dem Kampf zwischen Hunnen und Burgunden bestimmt wird, veranschaulicht das Verständnis der Burgunden von vriuntschaft in idealer Weise.
1.1. In der Kampfsituation
Die Ausgangssituation beinhaltet ein Gefecht, daß von Hagen ausgelöst wird: er schlägt Kriemhilds und Etzels Sohn Ortlieb den Kopf ab (1961). Danach tötet er eine Reihe von weiteren Hunnen (1965). Sofort folgt Volker, Hagens Geselle, dieser Eröffnung des Kampfes (1966). Beide töten unzählige Hunnen, indem sie gemeinsam agieren und stets eine kämpferische Einheit bilden.
Die durch Hagen und Volker initiierten Kampfhandlungen sind von derart feindlichem und unaufhaltsamen Charakter, daß auch die Burgundenkönige eine Eskalation des Geschehens nicht verhindern können.
„Ouch sprungen von den tischen die drîe künege hêr.
si woldenz gerne scheiden, ê daz schaden geschaehe mêr.
sine mohtenz mit ir sinnen dô niht understân,
dô Volkêr unde Hagene sô sêre wüeten began.“ (1967)
Auch die Freunde Gernot und Giselher schließen sich an: sie werden vom Erzähler als kühne und gute Recken charakterisiert, die es verstehen, ihre Waffen zu führen (1969/70).
Als der Streit im Gange ist, gerät Dankwart in schwere Not: Sofort ruft Hagen Volker und seine Freunde auf, ihm zu Hilfe zu kommen.
„Vil lûte rief dô Hagene Volkêren an:
´seht ir dort, geselle, mînen bruoder stân
vor hiunischen recken under starken slegen?
vriunt, nert mir den bruoder, ê wir vliesen den degen.`“ (1975)
Rollnik-Manke zufolge entspricht Volker Hagens Bitte in Strophe 1976 nicht nur aufgrund der Bindung zwischen den Vasallen Volker und Dankwart, sondern auch aus Freundschaft zu Hagen.[4] Volkers Handlung ist ein Beweis seiner Loyalität zu Hagen und seiner Bereitschaft, ihm einen Freundschaftsdienst zu leisten.
Die Überlegenheit und Stärke der Burgunden stehen im Zentrum des Gefechts, da sie eine Gemeinschaft bilden und auch in Notsituationen einander beistehen. Vor allem Hagen und Volker sind als Freundschaftpaar Repräsentanten eines idealen Zusammenhalts. Durch das Interagieren der beiden Helden entsteht eine kämpferische Dynamik, die den nach außen und innen verschlossenen Saal dominiert und somit auch den anderen burgundischen Recken als Vorbild dient.
1.2. Lobrede Hagens auf Volker
Nach dem Abzug von Krimhild, Etzel und Dietrich setzen die Burgunden den Kampf fort. Dabei wird vor allem Volker durch Hagens Kommentare in Szene gesetzt, der seiner Bewunderung und Freundschaft für ihn Ausdruck gibt:
„´Mich riuwet âne mâze`, so sprach Hagene,
´ daz ich ie gesaz in dem hûse vor dem degene.
ich was sîn geselle unde ouch er der mîn,
und kome wir immer wider heim, daz suln wir noch mit triuwen sîn. (2005)
Nu schouwe, künec hêre, Volkêr ist dir holt!
er dienet willeclîche dîn silber unt dîn golt.
sîn videlboge im snîdet durch den herten stâl;
er brichet ûf den helmen diu liehte schinenden mâl.`“ (2006)
Hagen bezeichnet Volker als seinen „ gesellen “, und betont damit, wie sehr er ihm verbunden ist. Beide sind gleichberechtigte Freunde. Er verspricht Volker, daß er ihm im Kampf treu sein wird und verbindet dieses Versprechen mit der Hoffnung auf Heimkehr und immerwährender Freundschaft, die dort weitergeführt werden kann.[5]
Er lobt vor Gunther Volkers heldenhaften Mut und glaubt, daß er dafür großen Lohn verdient habe. Nicht zuletzt hebt er hervor, wie treu ihm Volker dient und seine kämpferischen Fähigkeiten in den Dienst Gunthers stellt.
Durch Hagens Lob für seinen Mitstreiter wird deutlich, welche große Bedeutung die freundschaftliche Bindung für ihn hat. Er ist bereit, sich in dieser Situation vor Gunter zurückzunehmen und Volkers Leistungen in den Mittelpunkt zu stellen. Der heldische Zusammenhalt erwächst aus der Einstellung, einander kompromißlos zu unterstützen, Leistungen zu honorieren und den Sieg zu teilen.
2. Das Verständnis von Gefolgschaftstreue bei Dietrich
Da die Hunnen bei den Kämpfen im Saal eindeutig eine Niederlage gegen die Burgunden erlitten haben, scheint ein Entkommen für Krimhild und Etzel aus dieser Situation nahezu unmöglich. Ohne Hilfe von außen sind sie ihren burgundischen Feinden ausgeliefert.
Krimhild fühlt sich vor allem durch Hagen bedroht und bittet Dietrich von Bern um seinen Schutz (1983). Er bemüht sich aus Gründen der Gefolgschaftstreue um das Leben von Krimhild und Etzel. Diese Art von Treue unterscheidet sich deutlich von der Freundschaftstreue. Sie hat stärkeren Pflichtcharakter und ist eindeutig auf gegenseitige Leistungen ausgerichtet.
Dietrich hat sowohl zu den Hunnen als auch den Burgunden gute Verbindungen und wird von beiden Parteien respektiert. Da er als Vertriebener an Krimhilds Hof lebt, ist er verpflichtet, ihr zu helfen.[6] Er bezeifelt jedoch, daß er das Leben des Königspaares zu retten vermag, denn er kann sich in dieser Kiegssituation der uneingeschränkten Freundschaft der Burgunden nicht mehr sicher sein.
Dietrich von Bern beteuert, daß es ihm in dieser Lage kaum möglich ist, für sein eigenes Leben zu garantieren, da die Burgunden in ihrer Wut und Kampfeslust unberechenbar zu sein scheinen (1984, 2-4).
Schließlich gelingt es ihm doch, sich durch sein Verhältnis zu den Burgunden Gehör bei Gunther zu verschaffen. Es kommt zu einem Dialog zwischen den beiden Königen, bei dem es Dietrich gelingt, den freien Abzug für Kriemhild und Etzel einzufordern.
„Dô sprach der herre Dietrîch: ´mir ist niht getân.
lât mich ûz dem hûse mit iuwerm vride gân
von disem herten strîte mit dem gesinde mîn:
daz will ich sicherlîchen immer dienende sîn.`“ (1992)
Dietrich betrachtet Krimhild und Etzel als seinem Gefolge gleichgestellt. Obwohl Dietrich selbst nicht in den Kampf involviert ist und keinen Schaden von Gunters Mannen davongetragen hat, wie er zu Beginn der Strophe klarstellt, wird er durch sein Verhältnis zu beiden gezwungen, sich ihnen schützend zur Seite zu stellen. Seine Gefolgschaftstreue geht sogar so weit, daß er den Burgunden im Gegenzug für die Freilassung des Königspaares und seiner Mannen seine Dienste und Hilfe anbietet. Gunther läßt daraufhin Dietrich gewähren, und auch Rüdeger wird mit seinen Mannen entlassen, da er sich nie einer Treueverletzung den Burgunden gegenüber schuldig gemacht hatten (1997). Dies läßt sich nur dadurch erklären, daß Gunther die Zusammengehörigkeit zwischen Dietrich und dem hunnischen Königspaar höher ansetzt als die Feindschaft mit ihnen.[7]
Rollnik-Manke zufolge steht Dietrich zwischen den Burgunden und Hunnen. Auf der einen Seite ist der Zusammenhalt zwischen ihm und dem hunnischen Königspaar durch seinen Schutz offensichtlich, auf der anderern Seite versucht er aber auch, sich dem Konflikt der beiden Parteien weitestgehend zu entziehen.
Ein Zeichen für seine Verbindung zu den Hunnen stellt auch die Tatsache dar, daß die Burgunden inmitten des Kampfes an ihrem guten Verhältnis zu Dietrich festhalten.[8]
II. Der êre-Begriff
1. Angriff der Burgunden auf die Ehre der Hunnen
In der 34. Aventiure des Nibelungenliedes mit dem Titel „Wie si die Tôten ûz dem sal wurfen“ wird zunächst beschrieben, wie 2000 Tote und zum Teil verwundete Hunnen in ein Tal geworfen werden.
Während dieses Vorgangs vergleicht Volker die trauernden Hunnen mit Frauen, denen er einräumt, die Verwundeten pflegen zu dürfen (2015). Ein Hunne, der einen Verwandten retten will, versteht die Ironie von Volkers Ausspruch nicht und wird von ihm getötet. Er hat sich wie ein „wîp“ betragen, und wird auf unehrenhafte Weise von dem Fiedler hingerichtet, da das Leben eines solch weibischen Mannes ohnehin keinen Wert besitzt.
Der Angriff auf die Ehre der Hunnen weitet sich im Verlauf der Aventiure durch eine verschärfte Hohnrede Volkers aus, die auf Etzels kämpferische Eigenschaften, dann auf die Ehre und die Tapferkeit der hunnischen Recken abzielt.[9] Dies ist vor allem damit zu begründen, daß alle höfischen Regeln außer Kraft gesetzt sind und die Burgunden somit nicht mehr gezwungen sind, dem Hunnenkönig Achtung entgegenzubringen.
Volker belehrt Etzel, daß es für einen König angebracht sei, als Erster zu kämpfen. Kriemhild rät ihrem Gatten aufgrund der Gefahr für sein Leben ab und versucht stattdessen, ihre Gefolgsleute durch Lohnversprechen zum Kampf zu motivieren (2025).
Die Verspottung der Hunnen durch Volker stellt einen Angriff auf die Ehre und Tapferkeit der Hunnen dar, denen er mangelnde Kampfbereitschaft vorhält. Volker durchschaut, warum Krimhild eine derart hohe Belohnung für Hagens Kopf aussetzt: Ihre Krieger haben Angst vor den Burgunden und brauchen eine andere Quelle der Motivation.
„Die hie sô lasterlîchen ezzent des fürsten brôt
unde im nû geswîchent in der groezesten nôt,
der sihe ich hie manigen vil zagelîche stân,
unde wellent doch sîn küene: si müezens immer schande hân.`“ (2027)
Sie handeln nicht aus ihrem Verständnis als Ritter und Helden heraus, sondern müssen von Kriemhild zusätzlich animiert werden.
2. Irings Kampf für die Ehre der Hunnen
Iring, der an Etzels Hof lebt und ein Gefolgsmann von König Hawart von Dänemark ist, fühlt sich von den Provokationen Volkers angesprochen. Er will es mit Hagen aufnehmen, um so die Ehre von Etzel wiederherzustellen. Dabei geht es ihm nicht um einen materiellen Zugewinn, wie Rollnik-Manke betont, sondern um den Beweis seiner Loyalität Kriemhild und Etzel gegenüber.[10] Bei seinem Gegenschlag bietet er seinen gesamten Heldenmut auf und stellt sich Hagen als Gegner. Er muß jedoch bald einsehen, daß Hagen ein nahezu unbesiegbarer und übermächtiger Feind ist.
„Er sprach zuo den Düringen unt ze den von Tenelant:
´die gâbe sol enpfâhen iuwer deheines hant
von der küneginne, ir liehtez golt vil rôt.
unde bestêt ir Hagenen, ir müezet kiesen den tôt.`“ (2068)
In der Metapher des goten Goldes spiegelt sich Irings Erkenntnis wieder, daß die von Krimhild ausgesetzten Belohnungen nur mit dem eigenen Blut bezahlt werden können.
Iring, der die Ehre der Hunnen wiederherstellen wollte, empfindet seine Niederlage gegen Hagen als erneute Schmach und lehnt aufgrund dessen die Klage Kriemhilds um ihn ab. Kriemhild jedoch betrachtet Irings Einsatz für sie als Zeichen seines Heldenmutes und beweint ihren Gefolgsmann (2067).
Nach Irings Tod gibt es eine weitere Folge von Racheversuchen und Todesfällen. So tritt auch König Hawart gegen Hagen und Irnfried von Thüringen gegen Volker an. Beide unterliegen den Burgunden und werden getötet.(2071/73) Für den Tod der Könige nehmen wiederum die Gefolgsleute Rache. Den Burgunden fallen schließlich 2000 Hunnen und die im Namen von Kriemhild und Etzel kämpfenden Dänen und Thüringer zum Opfer.[11]
III. Das unehrenhafte Verhalten Kriemhilds
1. Das Friedensgesuch der Burgunden
In der 36. Aventiure bitten Gunther, Giselher und Gernot das Königspaar Kriemhild und Etzel um ein Gespräch. Die Burgunden sehen sich als Gäste verletzt, da die Hunnen als Gastgeber durch die Tötung der burgundischen Knappen den Kampf ausgelöst haben (2091). Daher erscheint es ihnen möglich, Etzel ein Friedensangebot zu machen.
Gernot gibt seiner Erwartung Asdruck, daß an Etzels Hof immer noch die Regeln der Ehre und Menschlichkeit gelten[12]:
„Sô sol iu got gebieten, daz ir frümeclîchen tuot“ (2096,2)
Etzel hat aber, ebenso wie Kriemhild, keinerlei Interesse an einer Versöhnung. Beide wollen Rache an den Burgunden für das ihnen zugefügte Leid nehmen. Nach Wahl-Armstrong ist für Etzel die Ermordung Ortliebs und für Kriemhild der Mord an Siegfried das entscheidende Motiv.[13] Somit handeln beide aus unterschiedlichen Beweggründen heraus, jedoch mit dem gemeinsamen Ziel, die Burgunden auszulöschen.
Auch Giselher erwartet, daß Kriemhild trotz ihrer Feindseligkeit zu erweichen ist und beschwört seine Redlichkeit und Treue. Er bittet seine Schwester, ihn und die Burgunden zu verschonen.
„`Ich was dir ie getriuwe, nie getet ich dir leit.
ûf solhen gedingen ich her ze hove reit,
daz du mir holt waerest, vil liebiu swester mîn.
bedenke an uns genâde, ez mac niht anders gesîn.´“ (2102)
Er versucht seine Schwester davon zu überzeugen, daß sie keinen Grund habe, an ihm Rache zu nehmen, denn er habe sich ihr gegenüber stets aufrichtig verhalten. Rollnik-Manke zufolge weist er Kriemhild darauf hin, daß er unter falschen Vorraussetzungen ins Hunnenland gekommen sei. Da er davon ausging, daß Kriemhild ihre Einladung ehrlich meine, stellt er seine Ehrlichkeit und sein Vertrauen in die geschwisterliche Bindung ihrer hinterlistigen Einladung und Täuschung gegenüber.[14]
Für Kriemhild sind alle Burgunden mitverantwortlich für die Tat Hagens. Davon nimmt sie auch Giselher nicht aus:
„Ine mac iu niht genâden: ungenâde ich hân.
mir hât von Tronege Hagen sô grôziu leit getân,
ez ist vil unversüenet, die wîle ich hân den lîp.
ir müezet es alle engelten, ez mac niht anders gesîn.“ (2102)
Sie erkärt ihr maßloses Rachebedürfnis aus ihrer eigenen Verletztheit heraus. Aus diesem Grund läßt sie sich in ihrem Haß nicht von der verwandtschaftlichen Bindung beeindrucken, die ihr Giselher vor Augen hält. Die Rache, die sie für Siegfrieds Mord nehmen muß steht über allem und überwiegt selbst die Bedeutung ihrer geschwisterlichen Bindung zu Giselher. Die Treue zu Siegfried gewichtet Krimhild stärker als die Treue zu ihrem Bruder.
2. Das Geiselangebot Kriemhilds
Kriemhild geht nicht auf Giselhers Friedensangebot ein, macht aber deutlich, daß sie die Burgunden möglicherweise schonen könnte:
„´Welt ir mir Hagenen einen ze gisel geben,
sone will ich niht versprechen, ich welle iuch lâzen leben,
wande ir sît mîne bruoder unde einer muoter kint:
sô red ich ez nâch der suone mit disen helden, die hie sint.`“ (2104)
Kriemhild verlangt Hagens Auslieferung, obwohl sie weiß, daß die starke Gefolgschaftsbindung zwischen den Burgunden und Hagen diese Auslieferung nicht erlaubt. Daß die Burgunden dieses Angebot ablehnen zeigt, wie stark die Bindung unter ihnen ist. Die Brüder Kriemhilds setzen die Bindung an ihren Vasallen über die Verwandschaft mit ihrer Schwester.[15]
„´Nune welle got von himele`, sprach dô Gêrnôt.
´ob unser tûsent waeren, wir laegen alle tôt,
der sippen dîner mâge, ê wir dir einen man
gaeben hie ze gîsel: ez wird et nimmer getân.`“ (2105)
Dramaturgisch gesehen dient die Verhandlung dazu, die Bewährung des Treueverhältnisses der burgundischen Könige zu Hagen in Szene zu setzten. Wie Schulze weiterhin ausführt schlägt Kriemhilds Versuch, das zentrale Objekt ihrer Rache zu isolieren, fehl.[16] Das Gegenteil - der Triumph der triuwe als „Kernvorstellung personaler Bindung im mittelalterlichen Feudalsystem“[17] – tritt ein.
Auch Giselher betont noch einmal, daß die Auslieferung Hagens unter keinen Umständen möglich ist und unter Einsatz des eigenen Lebens verhindert werden würde.
„´Wir müesen doch ersterben´, sprach do Giselher,
´uns entscheidet niemen von ritterlîcher wer.
swer gerne mit uns vehte, wir sîn et aber hie,
wande ich deheinen mînen friunt an den triuwen nie verlie.`“( 2106)
Giselher benutzt in dieser Strophe, die eine Antwort und Reaktion auf das Angebot Kriemhields, ihr Hagen als Geisel zu geben darstellt, das Adjektiv ritterlîch und das Nomen triuwe. Beide Begriffe stehen hier in engem Zusammenhang, denn sie verdeutlichen, wie sehr Giselher auf den Zusammenhalt der Gruppe Wert legt.
Giselhers Haltung veranschaulicht zudem, daß die Aussicht auf den Tod das Pflichtgefühl des Burgunden nicht aufheben kann. Er grenzt sich hierbei deutlich von Krimhilds Vorstellung ab, die Helden würden auf ihr Angebot hin Hagen freigeben und ihre Ehre aufgrund der Aussicht auf ihre eigene Freiheit aufs Spiel setzen. Giselher weist damit ein Verhalten zurück, daß nicht den Vorschriften eines akzeptierten Codexes entspricht.
An dieser Stelle wird erneut die Unaufkündbarkeit der formalen Bindung betont. Wie Gentry ausfführt ist noch nicht einmal die Aussicht auf das Leben ausreichend, um diese Bindung aufzulösen, denn dies Würde die Fortsetzung eines unehrenhaften Lebens und folglich wertlosen Lebens bedeuten.[18]
Die triuwe -Bindung steht hier an erster Stelle und ist der Grund, warum sich Gernot, Giselher und Dankwart schützend vor ihren Vasallen Hagen stellen. (2105-07). In größter Gefahr ist der Zusammenhalt und die Treue der Helden am stärksten und offenbart sich der Charakter ihrer heldischen Natur. Die gegenseitige Verpflichtung steht über dem eigenen Leben. Hagen auszuliefern würde der Gefolgschaftbindung verstoßen und der Ehrauffassung widersprechen. Die Helden nehmen in Kauf, geschlossen in den Tod zu gehen und so aber ihre Ehre zu wahren.[19]
Auch Dankwart betont in der darauffolgenden Strophe, daß Hagen nicht allein steht und auf sich der Hilfe seiner Gefolgschaft sicher sein kann.
„Die noch hie ûze stuonden, die tribens` in den sal
mit slegen unde mit schüzzen, des wart vil grôz der schal.
doch wolden nie gescheiden die fürsten und ir man.
sine konden von ir triuwen niht ein ander verlân.“ (2110)
Mit Kriemhilt und den burgundischen Recken stehen sich zwei Gegensätze gegenüber, die nicht miteinander versöhnt werden können. Kriemhild respektiert allein durch das Ausprechen dieses Angebotes die Integrität und Loyalität der Helden nicht und setzt ihre Verführbarkeit voraus.
3. Der Gebäudebrand
Nachdem der Versuch der Burgunden scheitert, Frieden mit Kriemhild und den Hunnen zu schließen, setzt sie Kriemhild, die sich in der stärkeren Position wähnt, noch stärker unter Druck. Sie läßt den Saal, in dem sich die Burgunden befinden, anzünden, um die Burgunden kampflos und somit in unehrenhafter Weise zu vernichten.
Die Männer glauben zunächst, daß ihr Tod unausweichlich ist und daß sie Opfer eines Verwandten- und Massenmordes sind. Der Zusammenhalt und die gegenseitige Treue der Helden beweist sich aber an dieser Stelle erneut durch Hagens Bemühen, seinen Recken Linderung in dieser grauenerregenden Situation zu verschaffen.
„Dô sprach von Tronege Hagene: ´ir edeln ritter guot,
swen twinge durstes nôt, der trinke hie daz bluot.
daz ist in solher hitze noch bezzer danne wîn,
ez enmac an disen zîten et nu niht bezzer gesîn.`“ (2114)
Hagen rät seinen Mannen, den unerträglichen Durst durch das Trinken von Blut zu löschen. Die Burgunden nehmen seinen ungewöhnlichen Vorschlag an und trinken das Blut der toten Hunnen. Ihr Durst wird dadurch gelindert und sie finden wieder zu Kräften:
„dâ von gewan vil krefte ir eteslîches lîp“ (2117,3)
Die Burgunden sind durch Hagens Hilfe fähig, sich selbst zu helfen und sich der Opferrolle zu entziehen, die Krimhilt ihnen zugedacht hat.
Zudem gelingt es dem Dichter durch metaphorische Einblendungen, die Auswegslosigkeit dieser schrecklichen Situation zu entschärfen und die Souveränität der Helden zu veranschaulichen.
So erleichtert Hagen seinen Mannen das Trinken des Blutes, indem er es als „ besser danne wîn “ bezeichnet. Diese ironische Brechung[20] fügt sich mit einem weiteren Ausspruch Hagens zusammen, der den Saalbrand als „ übel hôhzît “ bezeichnet. Beide Metaphern erinnern die Helden daran, daß sie ursprünglich zu einer Hochzeit eingeladen waren und durch Krimhilds böse und hinterhältige Absichten in diese Situation geraten sind. Hagen führt seinen Recken somit vor Augen, daß sie Krimhilts unehrenhaften Pläne unter Einsatz all ihrer Kräfte und ihrem gegenseitigen Zusammenhalt vereiteln müssen.
IV. Rüdegers im Loyalitäts- und Gewissenskonflikt
Wie Splett betont ergreift Rüdiger bei den Auseinandersetzungen keine Partei, da er beiden Seiten die Treue halten will.[21] Er versucht alles, was in seiner Macht steht, um den Frieden zu sichern, der massiv bedroht ist.
Als er von den Kämpfen am Hof erfährt, zeigt er große Bestürzung und Trauer (2135,3-4). Er beklagt, daß es nicht möglich war, Frieden zwischen den beiden Parteien herzustellen.
„´Sô wê mir`, spach der recke, ´daz ich ie den lîp gewan.
daz disen grôzen jâmer kann niemen understân!
swie gerne ichz vriden wolde, der künec entuot es niht,
wande er der sînen leide ie mêr und mêre gesiht.`“ (2136)
Von einem Hunnen wird er in seiner friedlichen Haltung kritisiert (2138,3-4). In ironischer Art und Weise stellt der Hunne in seiner Schmährede Rüdiger als passiv und feige dar (2140). Rüdiger fühlt sich derart mißverstanden und in seiner Ehre verletzt, daß er die Provokation des Hunnen paradoxerweise mit einem Fausthieb beantwortet.
1. Rüdigers Bindung zu den Hunnen
Nachdem viele ihrer Krieger im Kampf gegen die Burgunden gefallen sind, wenden sich Kriemhield und Etzel in ihrer Not an Rüdiger. Sie verlangen von ihm, daß er in ihrem Namen gegen die Burgunden antritt. Sie erinnert Rüdiger an das Versprechen, daß er ihr gab.
„´nu habt ir uns, edel Rüedegêr, allez her geseit,
ir woldet durch uns wâgen die êre unde ouch das leben.
ich hôrt` iu vil recken den prîs vil groezlîchen geben`“ (2148, 2-4)
„´Ich man`iuch der genâden, und ir mir habt gesworn,
do ir mir zuo Etzeln rietet, ritter ûz erkorn,
daz ir mir woldet dienen an unser eines tôt.
des wart mir armem wîbe, nie sô groezlîche nôt.`“ (2149)
Kriemhild erinnert an dieser Stelle Rüdiger an den Eid, den er ihr bei der Brautwerbung in Worms geschworen hatte.
„Mit allen sînen mannen swuor ir dô Rüedeger
mit triuwen immer dienen, unt daz die recken hêr
ir nimmer niht versagen ûz Etzelen lant,
des si êre haben solde, des sichert`ir Rüdegêres hant.“ (1258)
Splett zufolge hatte sie damals bereits das „ dienen“ inhaltlich festegelegt, indem sie von ihm forderte, daß er der Erste sein sollte, der im Notfal ihr „ leit“ rechen würde.[22] Seine Verpflichtung, ihr treu zu dienen, ist an diesen Eid geknüpft. Das Zugeständnis, daß er damit an Kriemhild machte, basierte auf einer Zweideutigkeit, deren Bedeutung für Rüdigers Rolle erst viel später deutlich wird.
Rüdiger versucht sich mit allen Mitteln dem Konflikt zu entziehen und berichtigt Kriemhilds Interpretation des Eides.
„Daz ist âne lougen: ich swuor iu, edel wîp,
daz ich durch iuch wâgte êre unde ouch den lîp.
daz ich die sêle vliese, des enhan ich niht gesworn.
zuo dirre hôhgezîte brâht` ich die fürsten wol geborn.“ (2150)
Er verweist darauf, daß der Eid zwischen ihm und dem Königspaar zu einem Zeitpunkt geschlossen wurde, da er zwischen beiden Seiten eine angemessene Übereinkunft darstellte. Wenn Rüdiger die Königin darauf aufmerksam macht, daß er ihr die Treue, aber nicht die Seele versprochen habe, dann weist er somit den Absolutheitscharakter zurück, den Kriemhild dem Eid beimißt. Splett zufolge steht für Rüdiger das Heil der Seele an höchster Stelle und stellte auch bei dem Eid eine unausgesprochene Voraussetzung dar.[23]
Die folgenden beiden Strophen stellen den Höhepunkt von Rüdigers Verzweiflung und seines inneren Konfliktes dar:
„´Owê mir gotes armen, daz ich dize gelebet hân.
aller mîner êren der muoz ich abe stân,
triuwen unde zühte, der got an mir gebôt.
owê got von himele, daz michs niht wendet der tôt.
Swelhez ich nu lâze unt daz ander begân,
sô hân ich boeslîche unde vil übele getân:
lâze aber ich sie beide, mich schiltet elliu diet.
nu ruoche mich bewîsen, der mir ze lebene geriet.`“ (2153/54)
Rüdiger befindet sich in einem Zwiespalt: Er muß zwangsläufig eine Seite verletzen wenn er sich zu der anderen bekennt.
Er muß sich zwischen der Gefolgschaftstreue zu den Hunnen und der Freundschaftstreue beziehungsweise Verwandtschaftbindung zu den Burgunden entscheiden.[24]
Rüdiger versucht noch einmal, sich diesem Dilemma zu entziehen, indem er sich von allen Verpflichtungen lossagen will, die er Kriemhild und Etzel gegenüber eingegangen ist. Er bietet Etzel dazu an, ihm seinen Besitz zurückzugeben und das Land zu verlassen, damit das Lehnsverhältnis aufgelöst werden kann (2157).
Rüdiger zieht es vor, die Bindung zu Etzel abzubrechen, als wider seine Treue und Ehre zu handeln. Darin sieht er die letzte Möglichkeit, seinem Gewissenskonflikt zu entkommen und sich dem Konflikt der beiden Völker zu entziehen.
Da aber weder Etzel noch Kriemhild bereit sind, Rüdiger in dieser Notsituation von seinen Verpflichtungen zu befreien (2158/62), muß der Markgraf sich schließlich zu dem hunnischen Königspaar bekennen:
„Dô sprach der macgrâve wider daz edel wîp:
´ez muoz hiute gelten der Rüedegêres lîp,
swaz ir und ouch mîn herre mir liebes habt getân.
dar umbe muoz ich sterben; daz mac niht langer gestân.`“ (2163)
Er ahnt dabei, daß er im Kampf gegen die Burgunden zu Tode kommen wird, muß aber notgedrungen sein Leben für dir Hunnen hingeben. Rüdiger fügt sich schließlich seinem Schicksal.
2. Rüdigers Bindung zu den Burgunden
Obwohl Rüdiger sich entscheidet, auf der Seite der Hunnen zu kämpfen, bleibt die Zwiespältigkeit seines Handelns offensichtlich:
„´ich muoz mit iu strîten, wand` ichz gelobet hân.
nu wert iuch, küenen helde, sô lieb iu sî der lîp.
mich enwoldes niht erlâzen des küenen Etzelen wîp.`“ (2178, 2-4)
Rüdiger formuliert den Burgunden gegenüber offen seine Gefühle und beschreibt, daß er von Kriemhilds Seite aus unter großem Druck steht und es ihm Leid tut, gegen die Freunde antreten zu müssen. Er hat keinen Grund, den Burgunden feindlich gesonnen zu sein.
„´Unde allez daz ich möhte, daz het ich in getân,
niwan daz ich die recken her gefüeret hân.
jâ was ich ir geleite in mînes herren lant;
des ensol mit in niht strîten mîn vil ellendes hant.`“ (2144)
Er hat sie in das Hunnenland begleitet und ihnen auf dem Weg dorthin seinen Schutz geboten.
Splett verweist darauf, daß der Gewissenskonflikt Rüdigers nicht aus germanisch-heroischem Denken heraus zu erklären ist. Seiner Meinung nach erkennt der Markgraf die Sinnlosigkeit seines Handelns, weil er die Gegensätzlichkeit der Pflichten aus einem christlich geprägten Rechtsdenken heraus versteht.[25]
„´ir küenen Nibelunge, nu wert iuch über al.
ir soldet mîn geniezen, nu engeltet ir mîn.
ê do wâren wir friunde: der triuwen will ich ledec sîn.`“ (2175, 1-3)
Er verdeutlicht den Burgunden somit, daß ab diesem Zeitpunkt ihr Verhältnis nicht mehr von Treue und Freundschaft geprägt ist, sondern daß sich alle gegenseitigen Verpflichtungen an dieser Stelle aufgelöst haben.
Die Burgunden sind zunächst von Rüdigers Verhalten irritiert. Das beiderseitige Verhältnis war immer gut gewesen und so hatte Giselher dem Markgrafen in der 33. Aventiure freien Abzug aus dem Saal, Schonung und Frieden zugesichert, da Rüdeger ihm als treuer Freund galt. Die burgundischen Recken verstehen nicht, wie sie nun gegen den Freund antreten sollen, dem sie bislang treu gewesen waren.
„Dô erschrâhten dirre maere die nôthaften man,
wande ir deheiner vreude dâ von niht gewan,
daz mit im wolde strîten, dem si dâ wâren holt.
si heten von ir vîenden michel arbeit gedolt.“ (2176)
Gunther kann nicht fassen, das Rüdiger bereit ist, die Freundschaftsbindung aufzulösen und verweist auf die gegenseitige Verpflichtung zur Treue.
„´Nune welle got von himele`, sprach Gunther der degen,
´daz ir iuch genâden sült an uns bewegen
unt der vil grôzen triuwe, der wir doch heten muot.
ich will iu des getrûwen, daz irz nimmer getuot.“ (2177)
Auch Gêrnôt weist Rüdiger daraufhin, daß er ihnen daß Gastgeleit gab und als Konsequenz daraus zu ihnen halten muß. (2182)
Rüdiger versteht die Vorwürfe der Burgunden. Sie stürzen ihn jedoch noch stärker in einen Gewissenskonflikt, der ihm ein Weiterleben unmöglich erscheinen läßt. Der Markgraf hat seine Ehre verloren und damit auch seine Identität.
„´Daz wolde got`, sprch Rüedegêr, ´vil edel Gêrnôt,
daz ir ze Rîne waeret unde ich waere tôt
mit etelîchen êren, sît ich iuch sol bestân.`“ (2183,1-3)
Giselher kann das widersprüchliche Verhalten seines Schwiegervaters nicht nachvollziehen. Er ist über Rüdiger erstaunt und verdeutlicht ihm die Konsequenzen seines Handelns.
„Dô sprach von Burgonden der schoenen Uoten kint:
´wie tuot ir sô, her Rüedegêr? die mit mir komen sint,
die sint iu alle waege; ir grîfet übel zuo.
die iuwern schoenen tohter welt ir verwitwen ze fruo. (2188)
Swenne ir umd iuwer recken mit strîte mich bestât,
wie rehte unvriuntliche ir daz schînen lât,
daz ich iu wol getrûwe für alle andern man,
dâ von ich z`einem wîbe iuwer tohter mir gewan.`“ (2189)
Falls Rüdiger sich also gegen die Bindung zu den Burgunden entscheidet und einen ihrer Kämpfer verletzt, sieht sich Giselher gezwungen, die Verlobung aufzulösen. Der Markgraf muß es als sehr schmerzlich empfinden, daß sein Verhalten auch für seine Familie Konsequenzen nach sich zieht. Er bittet Giselher darum, an seine Treuepflicht zu denken und seine Tochter nicht für sein Verhalten büßen zu lassen (2190).
Sein burgundischer Schwiegersohn will sich aber auch der Verwandtschaftstreue entsagen, da er sie von Seiten Rüdegers nicht mehr gewährleistet sieht (2191).
3. Rüdigers Verhältnis zu Hagen
Hagen hat ein besonderes Verhältnis zu Rüdiger. Er kann Rüdigers Zwiespalt nachvollziehen und akzeptiert aufgrund der Umstände, daß der Markgraf gegen die Burgunden antreten muß. Wie Rollnik-Manke argumentiert drückt sich Hagens Achtung gegenüber Rüdiger darin aus, daß er ihn als „vil edel Rüedegêr“ (2201,1) bezeichnet und auch das Schild als Geschenk annimmt.[26]
Hagen bittet Rüdiger um dessen neues Schild mit der Begründung, daß seines zerhauen sei. Da der Schildtausch eindeutig ein Bruch der Treue an Kriemhild ist, ist Rüdiger zunächst etwas zögerlich (2196). Daß er seinem Gegner sein eigenes Schild zukommen läßt, ist eine widersprüchliche Handlung, die seinem Versprechen Kriemhild gegenüber zuwiderlaufen würde. Dennoch fühlt sich Rüdiger seinem Freund Hagen verpflichtet, einen Beweis seiner Loyalität zu erbringen, auch wenn es sich bei diesem Freund um den Erzfeind der Königin handelt. Rollnik-Manke zufolge bleibt die Freundschaft zwischen Hagen und Rüdiger bestehen, da Hagen ihm in dieser Hinsicht entgegenkommt.[27] Auch der Schildtausch zwischen den beiden Männern untermauert die Freudschaft und ist ein Indiz dafür, daß Rüdiger nicht nur im Interesse Kriemhilds handelt.
Splett argumentiert, daß Hagen es Rüdiger durch diese Handlung ermöglicht habe, seinen Beteuerungen gegenüber den Burgunden Gewicht zu verleihen und in die Tat umzusetzen. Seiner Meinung nach gelingt es Hagen durch diese symbolische Geste, seinem Kontrahenten trotz der scheinbaren Auswegslosigkeit der Situation allgemeine Anerkennung zu verschaffen. Dies war Gunther und Gernot trotz ihrer lobenden Worte nicht gelungenr.[28]
Hagen kann nur noch lobende Worte für Rüdiger finden und versucht auch dadurch, die Ehre des Markgrafen widerherzustellen.
„ez wird iuwer gelîche deheiner nimmer mêr,
der ellenden recken sô hêrlîche gebe,
got sol daz gebieten daz iuwer tugent immer lebe.“ (2199,2-4)
Das Annehmen des Schildes legitimiert ihn gleichzeitig dazu, den Kampf gegen Rüdeger zu verweigern. (2201,3).
Wie Wahls-Armstrong ausführt, empfinden sowohl Hagen als auch sein Freund Volker für die Tragik Rüdigers ein tiefes symphatisches Verständnis. Ihrer Meinung nach fühlen beide eine Art Pietät gegenüber dem „in einen unlösbaren Gewissenkonflikt gerateten, moralisch vorbildlichen Helden“.[29]
Ein weiteres Indiz dafür, daß Hagen Rüdeger achtet und ihn nicht als Verräter empfindet sind die Gefühle, die er nach Rüdigers Tod zum Ausdruck bringt.
„Dô sprach der helt von Tronege: ´ez ist uns übel komen.
wir haben an in beiden sô grôzen schaden genomen,
den nimmer überwindent ir liute und ouch ir lant.`“ (2222,1-3)
Hagen beweint zusammen mit den anderen Recken den Tod von Rüdiger und Gernot. Beide Helden werden somit auf eine Stufe gestellt und Rüdiger als einer der ihren betrachtet.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Begriffe der Treue, Ehre und Freundschaft im Nibelungenlied differenziert betrachtet werden müssen. Da die Bindungen der Parteien und einzelnen Personen durch ihre Vernetzung wie im Falle Dietrichs und Rüdegers komplex sind, ist nicht immer eindeutig abgrenzbar, wie die einzelnen Bindungen zu kategorisieren sind. Das Nibelungenlied läßt in dieser Hinsicht unterschiedliche Interpretationen der Treuebindungen und -verpflichtungen zu.
V. Literaturverzeichnis
- Batts, M. S.: Die Form der Aventiuren im Nibelungenlied,
- Boor, Helmut de (Hrsg.): Das Nibelungenlied, 22. rev. Aufl., Wiesbaden 1996
- Ehrismann, Otfrid: Nibelungenlied, Epoche – Werk – Wirkung, München 1987
- Geier, Bettina: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied, Göppingen 1999
- Gentry, Francis G.: Triuwe and vriunt in the Nibelungenlied, Amsterdam 1975
- Göhler, Peter: Das Nibelungenlied, Erzählweise, Figuren, Weltanschauung, literaturgeschichtliches Umfeld, Berlin 1989
- Ihlenburg, Karl Heinz: Das Nibelungenlied, Problem und Gehalt, Berlin 1969
- Mayer, Hartwig: Humor im Nibelungenlied, Ulm/Donau 1966
- Nagel, Bert: Das Nibelungenlied, Stoff – Form – Ethos, Frankfurt a. Main 1965
- Reichert, Hermann: Nibelungenlied und Nibelungensage, Wien 1985
- Rollnik-Manke, Tatjana: Personenkonstellationen in mittelhochdeutschen Heldenepen; Europäische Hochschulschriften ; Bd. 1764, Frankfurt a. M. 2000
- Schulze, Ursula: Das Nibelungenlied; Universal-Bibliothek ; 17604 : Literaturstudium, Reclam 1997
- Splett, Jochen: Rüdiger von Bechelaren, Studien zum zweiten Teil des Nibelungenliedes, Bonn 1967
- Wahl-Armstrong, Marianne: Rolle und Charakter, Studien zur Menschendarstellung im Nibelungenlied, Göppingen 1979
[...]
[1] Gentry, S. 17
[2] Schulze, S. 248
[3] Göhler, S. 41
[4] Rollnik-Manke, S. 83
[5] Gentry, S. 30
[6] Rollnik-Manke, S. 84
[7] Rollnik-Manke, S. 85
[8] Rollnik-Manke, S.86
[9] Batts, S. 83
[10] Rollnik-Manke, S.87
[11] Rollnik-Manke, S. 87
[12] Rollnik-Manke, S. 88
[13] Wahl-Armstrong in Rollnik-Manke, a.a.O.
[14] Rollnik-Manke, a.a.O.
[15] Rollnik-Manke, S. 89
[16] Schulze, S. 247
[17] Schulze, a.a.O.
[18] Gentry, S. 22
[19] Rollnik-Manke, S.89
[20] Schulze, S. 249
[21] Splett, S. 71
[22] Splett, S. 79
[23] Splett, S. 80
[24] Rollnik-Manke, S. 93
[25] Splett, S. 91
[26] Rollnik-Manke, S. 95
[27] Rollnik-Manke, S.93
[28] Splett, S.96
[29] Wahl-Armstrong, S.119
- Quote paper
- Meral Ort (Author), 2003, Der Begriff der triuwe im Nibelungenlied, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107623
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