Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Begriff „ Minzu “
3. Verbreitung und Geschichte des mongolischen Volkes
4. Entstehung der Armut der Mongolen in der Inneren Mongolei
4.1. K ä lte und Alkohol
4.2. Bilder vs. Realit ä t
4.3. Landschaft und Orientierung
4.4. Einz ä unung als Ausz ä unung
5. Schluss
6. Literatur
1. Einleitung
Die Welt kann als Flickenteppich der Länder und ihrer Grenzen verstanden werden. Dieselbe Welt kann aber auch als Flickenteppich von verschiedenen Ethnien verstanden wer- den. Die Muster dieser beiden Teppiche decken sich an verschiedenen Stellen, zum Beispiel in Korea oder Dänemark, oder weichen mehr (z.B. Belgien, Spanien) oder weniger (z.B. Ja- pan, Türkei) stark voneinander ab. Staaten, deren Grenzen nicht den Lebensräumen der ver- schiedenen Ethnien entlang gezogen sind, können auf zwei (eigentlich sogar auf drei, wenn man absolute Diktaturen miteinbezieht) verschiedene Arten organisiert sein: Sie können von einer ethnischen Gruppe dominiert sein und verschiedene Zusatzrechte für Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet vorsehen, um deren Eigenarten gerecht zu werden, wie z.B. in Malaysia, oder sie können ideologisch polyethnische Einheiten darstellen, die mindestens theoretisch gleiche Rechte für Mitglieder aller ethnischen Gruppen garantieren. Dies ist zum Beispiel in der Schweiz, in den USA, in Tanzania und Singapur und auch im bevölkerungsreichsten Land der Erde - in China - der Fall (Harrell 1996: S. 2). Auf fast der ganzen Welt, auch in China, sieht man in der öffentlichen Diskussion in diesem Flickenteppich das Resultat oder Zwi- schenresultat eines Kampfes verschiedener bereits existierender ethnischer Gruppen um Res- sourcen. Der Bosnienkrieg wurde von europäischen Medien als ein Krieg zwischen verschie- denen ethnischen Gruppen - den Serben, Kroaten und Moslems - dargestellt. Dieses Bild gaukelt eine in die Wiege gelegte ethnische Identität vor. Wie unwahrscheinlich das ist, wird man oft erst gewahr, wenn man sich überlegt, welcher ethnischen Gruppe man selbst ange- hört: Bin ich Zürcher, Deutschschweizer, Schweizer oder gar Europäer? Oder soll ich mich wegen meiner Muttersprache sogar als „Deutschen“ sehen? Bezeichnet das Wort „Deutsch- schweizer“ eigentlich eine ethnische Gruppe oder erst dann, wenn die deutsche Schweiz vom Rest der Schweiz getrennt ist? Besteht die Möglichkeit, dass Medien aller Welt in fünfzig Jahren berichten werden, wie auf dem Gebiet der Schweiz ein Bürgerkrieg zwischen den „Völkern“ Deutschschweizer und Romands ausgebrochen ist? Begriffe für ethnische Gruppen bestehen also nicht unbedingt fix, sondern können z.B. in einem Konflikt hervortreten oder verschwinden. Der Begriff „Jugoslave“ hielt offiziell nur ein paar Dekaden lang, tritt jedoch inoffiziell noch auf. Ausserdem ist es möglich, dass ein und derselbe Mensch je nach Situati- on als Spanier auftritt, sich als Europäer sieht oder in noch einer anderen Situation als Baske handelt (Harrell 1996: S. 3). Die Bestimmung der Zugehörigkeit zu Ethnien ist also viel heik- ler als auf den ersten Blick ersichtlich.
2. Der Begriff „ Minzu “
Für unsere Begriffe „Nation“, „Nationalität“ und „Volk“, die sich morphologisch wesentlich voneinander unterscheiden, gibt es im Chinesischen nur ein Wort: minzu 民族 (Khan 1996: S. 125). Das selbe Wort bezeichnet auch eine ethnische Minderheit. Die mongolische Ethnie wird zum Beispiel abgekürzt mit menggu zu 蒙古族 bezeichnet. Auch Lenin benutzte zwar die Worte natsiya нация (Nation), narodnost народность (Nationalität) und narod народ (Volk), doch auch hier liegt Sinngleichheit vor (Heberer 1989: S. 34).
Die offiziellen Kriterien in China, um ethnische Minderheiten oder Nationalitäten zu klassifizieren, sind jene, die schon Stalin benutzt hat, um eine Nation zu definieren: „A nation is a historically evolved, stable community of people, based upon the common possession of four principal attributes, namely: a common language, a common territory, a common eco- nomic life, and a common psychological make-up manifesting itself in common special fea- tures of national culture.”(McKhann 1995: S.47). Wir wollen uns nun also den Mongolen zuwenden, die über eine eigene mongolische Sprache und sogar über eine eigene Schrift ver- fügen und deren lange und ruhmreiche Geschichte unter der Marke „Mongol“ mit dem Mas- kottchen „Chinggis Khan“ wohl bekannt ist. Die Mongolen sind also unbestritten ein eigen- ständiges Volk und wurden neben den Han, Manchu, Tibetern und Moslems auch schon wäh- rend der Zeit der Republik als solches bezeichnet (Bulag 2000: S. 179). Heute spricht man in China offiziell von 56 minzu. Nicht alle blicken auf eine so klare Geschichte zurück wie die Mongolen. Wenn hier also Identitätsprobleme aufgezeigt werden, soll auch klar verwiesen sein, dass andere minzu teilweise viel grössere Schwierigkeiten haben, die Frage zu beantwor- ten, wer sie eigentlich sind.
Solange es Nationalitäten gibt, so heisst es, gebe es auch eine Nationalitätenfrage, bedürfe es einer Nationalitätenpolitik. Ich zitiere Heberer (1989: S. 34):
„Es gibt nach Auffassung der KP [Kommunistischen Partei] Chinas zwei Wege zur Lösung der Nationalitätenfrage: (a) nationale Unterdrückung sowie eine Politik der gewaltsamen Assimila- tion und Ausrottung (eine Politik, die vor Gründung der VR China verfolgt worden sei) und (b) Gleichberechtigung aller Nationalitäten nicht nur in Worten, sondern auch durch Einführung der Gebietsautonomie, d.h. des Rechts aller ethnischen Minoritäten, ihre örtlichen Angelegenheiten selbst zu regeln, sowie durch praktische Hilfe bei der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Minoritäten und ihrer Gebiete.“
Offiziell ist China in der Inneren Mongolei den Weg (b) gegangen. Doch wurde über ein Volk entschieden, das seit Jahrhunderten mit dem von ihm bewohnten Land und seiner Natur verwurzelt ist. „Praktische Hilfe bei der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung“ sieht für einen aussenstehenden Politiker in Beijing vielleicht tatsächlich als solche aus und wirkt sich andererseits für das Leben der Mongolen in der Inneren Mongolei katastrophal aus, weil sie seiner Lebensweise und Geisteshaltung nicht angepasst ist. Wenn ich Wörter wie „katastrophal“ verwende, muss ich betonen, dass die Entwicklungen, die im folgenden ge- schildert werden, ein Volk betreffen, das über eine lange Geschichte, Kultur und über eine grossartige Handelskultur verfügt und schon seit langem in Kontakt mit technischem Fort- schritt steht. Die Mongolen sind im Grossen und Ganzen traditionell ein Volk von Viehhal- tern, sind also nur schon durch diesen Status modernen Gesellschaften näher als die 200 Mil- lionen Jäger und Sammler (Heberer 1984: S. 14), die weltweit um ihr Überleben bangen. Ausserdem lebt fast die Hälfte der Mongolen in einem eigenen Staat. Wenn ich hier also Probleme schildere, die ein Volk betreffen können, dessen Land von einem anderen Volk in Besitz genommen worden ist, so muss doch gesagt werden, dass die Mongolen über viele Privilegien verfügen, die den Aborigines, den verschiedenen Stämmen der Neuen Welt, den Kurden, Papua, Maori, Schan, Karen etc. und sogar hierzulande den „Zigeunern“ nicht ge- gönnt waren und vielfach noch immer nicht sind.
Ich werde zuerst ein wenig mit der Frage „Wer sind die Mongolen eigentlich?“ auf die Geschichte der Mongolen eingehen und dann aufzeigen, wie das spezifisch mongolische „common psychological make-up manifesting itself in common special features of national culture“ in Wechselwirkung mit anderen Faktoren in der Inneren Mongolei zu Problemen führen kann und auch führt. Eine Folge dieser Probleme kann der Verlust der ethnischen Identität sein.
3. Verbreitung und Geschichte des mongolischen Volkes
Während des 13. und 14. Jahrhunderts regierten die Mongolen ganz China, und dazu noch einen grossen Teil der restlichen Welt. Die Konsequenz ist, dass man Mongolen heute in vielen Teilen Chinas finden kann. Der grosse Teil lebt in einem mehr oder weniger kontinu- ierlichen Streifen von West-Xinjiang bis hinauf zu den Xing’an Bergen im Nordosten. Die Mehrheit der 3'411'657 Mongolen (1982) lebt in der autonomen Region „Innere Mongolei“, wobei es daneben noch andere autonome Gebiete in Jilin, Liaoning, Gansu, Qinghai und in
Xingjiang gibt (Schwarz, 1984: S. 75). Daneben leben nicht unbedeutende Grüppchen Mon- golen in so südlichen Provinzen wie Yunnan und Sichuan. Mongolen leben auch ausserhalb der Grenzen Chinas, natürlich in der Republik Mongolei, dann in der russischen Republik Burjatien, in der zu Russland gehörenden Kalmückischen Republik in Europa als auch in Afghanistan. Entfernte Nachkommen der Mongolen lassen sich z.B. auch in Ungarn oder im Iran finden, wenn etwa ein Baby mit dem sogenannten „Mongolenfleck“ auf die Welt kommt. Ich werde mich, nachdem ich kurz zusammenfasse, woher die Mongolen kommen, vor allem auf die Mongolen in der Inneren Mongolei beziehen.
Im frühen 12. Jahrhundert lebten Mongolen, organisiert in verschiedenen Sippen, schon an den wichtigsten Flüssen östlich der Chentii-Berge in der heutigen Mongolischen Republik. Daneben bewohnten auf der mongolischen Steppe und am Baikalsee verschiedene andere Volksstämme, die sowohl in Grösse als auch Lebensart sehr verschieden waren. Während einige noch als schamanistische Jäger und Sammler durch die Wälder streiften (wie die Tsa- daan in der Nordmongolei noch heute) führten die anderen ihre Viehherden über die Ebenen. Bis die Mongolen die wichtigste Führungskraft über diese Völker wurden, nannten Aussen- stehende die Gesamtheit Tataren oder Dadan. Die Mongolen lebten in einer Art Aristokratie, deren Angehörige sich Namen wie baatar (Held) oder noyen (Prinz) gaben. Namen, die auch heute wieder voll im Trend sind, wenn auch seit der Ausradierung der Aristokratie durch die Kommunisten sowohl in Russland, der Mongolei (welche als zweites Land der Erde nach Russland den Sozialismus ausrief) und in China ohne grosse Bedeutung. 1162 wurde Temu- jin, später unter dem Namen Chinggis Khan als Herrscher über ein riesiges Imperium be- kannt, geboren. In der sogenannten Geheimen Geschichte der Mongolen ist sein abenteuerli- cher Aufstieg zum Khan der Mongolen (1196) und schliesslich zum Herrscher und Vereiner aller von nun an als Mongolen bezeichneten Stämme (1206) dokumentiert. Unter seiner und, nach seinem Tod 1227, unter seines Sohnes Ögedei Khans Führung bemächtigte sich dieses nun geeinte Volk des grössten Teils Asiens. Unter der pax mongolica war es zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte möglich, z.B. von Europa nach Kanton ohne Angst vor Über- fällen und ohne Passkontrollen zu reisen. Die Enkel Chinggis Khans zerstritten sich und so fiel das mongolische Imperium so schnell wie es entstand. Viele Mongolen blieben in den nun wieder unabhängigen Regionen, vermischten sich teilweise mit den Einheimischen und es bildeten sich so teilweise sogar neue Nationalitäten wie die Bonan, Dongxiang, Tu und Ostui- guren, die heute in Nordchina leben (Schwarz 1984: 80). Nach dem Ende der mongolischen Yuan Dynastie bestand bis im Jahr 1635 noch so etwas wie eine Nördliche Yuan Dynastie, deren Einfluss, Macht und Gebiet ständig wechselte und die sich dauernd neu zersplitterte und einigte. 1691 unterstellten sich die letzten Khans formell der mandschurischen Qing Dynastie, aber erst Ende des 18. Jahrhunderts waren mehr oder weniger alle Mongolen auch in der so- genannten Äusseren Mongolei (nördlich der Wüste Gobi) unter Kontrolle Beijings. Noch in späterer Zeit beriefen sich mächtige Mongolen auf Chinggis Khan, um unter- einander Allianzen zu schliessen und sich gegen ihnen unpassende Entwicklungen wie zu hohe Steuern zu erheben. Khan (1995: S. 257 - 258) zeigt dies an einem Beispiel, in dem Gal- dan Tsering, Khan der Zungaren (mongolische Sippe) einen Prinzen der Khalkha (mongoli- sche Hauptgruppe) im 18. Jahrhundert um Zusammenarbeit bittet. Er schrieb: „We are of one religion, and dwell in one place, and have lived very well alongside each other. … Consider- ing that you are the heirs of Chinggis Khan, and not wanting you to be the subjects of anyone else … Move over the Altai, and dwell together with us in friendship as before. If war comes, we can face it together, and not be defeated by any men.” Galdan Tsering appellierte an das Symbol Chinggis Khan, um seine Pläne, die Schaffung eines “vereinten Khalkha-Zungaren- Staates” zu erreichen. Nun, damals war der Zusammenhalt der Mongolen auf einem Tiefpunkt angelangt, gemeinsame Erfahrungen fehlten und erst recht Erfahrungen im Kampf gegen ei- nen gemeinsamen Feind. Zu lange waren die Mongolen in Sippen geteilt gewesen. Der Ver- such scheiterte.
In China entstand im Zuge einer vermehrten Sinifizierung der Qing Dynastie die Idee eines chinesisch-basierten Einheitsstaates (Khan 1995: S. 260). In der Inneren Mongolei be- gann nun die Sinifikation mit chinesischen Händlern, die auf Kredit Luxusgüter an die mon- golische Aristokratie verkauften (Schwarz 1984: 82). Immer mehr Khans mussten deshalb Land an die Chinesen verkaufen, was die mongolischen Viehhalter zu schwerwiegenden Ent- scheidungen zwang: Entweder sie mussten für die neuen chinesischen Meister arbeiten oder in die Äussere Mongolei abwandern, die aber für diesen Bevölkerungsanstieg gar nicht genug fruchtbares Gras bot. Als Resultat dieser Entwicklung gab es durch das ganze 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein Aufstände und Unruhen in der Inneren Mongolei. Als die Qing Dynastie 1911 zerfiel und die Äussere Mongolei ihre Unabhängigkeit ausrief, wurde der Versuch der Inneren Mongolei, sich ihren nördlichen Brüdern anzuschliessen, von den Chinesen zerschla- gen. Einige Unabhängigkeit von den Chinesen erhielt der östliche Teil der Inneren Mongolei nur noch während der japanischen Besetzung.
4. Entstehung der Armut der Mongolen in der Inneren Mongolei
4.1. Kälte und Alkohol
Die Mongolen waren zweifellos ein kriegerisches Volk, das in ganz Eurasien Furcht und Schrecken auslöste. Der Nationalstolz der Mongolen nährt sich heute noch von helden- haften und furchtlosen Gestalten wie Chinggis Khan und seinen Kriegerhorden. Weshalb lies- sen und lassen sich die Mongolen so leicht von China unterkriegen? Williams (1997: S. 764) argumentiert, dass mehrere Einflüsse die Mongolen der Inneren Mongolei schwächen, und zwar nicht nur wirtschaftlich und kulturell, sondern auch physisch: Klimatische Einflüsse führen dazu, dass die Nomaden einem chronischen Kältestress unterliegen, der zwar histo- risch gesehen durchaus nicht neu ist, der aber kleine Änderungen der Lebensgewohnheiten schwer bestraft und der sich durch die „Flucht“ in unwirtlichere Gegenden noch verstärkt. Gerade die letzten beiden Winter (1999/2000 und 2000/2001) waren extreme Härteproben und haben nicht nur vielem Vieh, sondern auch manchen Menschen das Leben gekostet. Wil- liams zeigt in seiner Arbeit auf, wie soziopolitische und kulturelle Faktoren zusammen mit dem unwirtlichen Klima zu einer Häufung von chronischen Gesundheitsproblemen wie auch von akuten Unfällen führt. Einer der wichtigsten Gründe ist der Alkoholkonsum, der zwar schon Chinggis Khan das Leben vernebelt hat (ist er wohl deshalb tödlich vom Pferd ge- stürzt?), aber erst in jüngster Zeit verhängnisvolle Ausmasse genommen hat. Trinken ist in der Inneren Mongolei ein Akt der Identität mit dem eigenen Volk, der Abgrenzung zu den Chinesen, wie das Reiten, das Töten der Schafe und der Ringkampf auf dem Gras (Williams 1997: S. 771 - 774). Diese Andersartigkeit wird verbunden mit einem Gefühl der Rauhheit, Wildheit und Freiheit, wobei Han-Chinesen sowohl mit Verachtung als auch mit Bewunde- rung auf diese scheinbare „Barbaren“-Identität schauen. Dementsprechend vielfältig sind die Gelegenheiten und die Rituale, die mit dem Alkoholkonsum verbunden sind. Untersuchungen haben gezeigt, dass ländliche Mongolen in der Inneren Mongolei doppelt soviel Alkohol trin- ken wie Männer in anderen ländlichen Gegenden Chinas (S. 772). Unter den Männern einer Region ist bekannt, wieviel jeder andere trinken kann. Nun ist aber Alkohol in Verbindung mit Kälte enorm gefährlich und führt schnell zu Unterkühlungen, bis hin zu abgefrorenen Gliedern.
4.2. Bilder vs. Realität
Die Abgrenzung zu den Chinesen mit Trinkzeremonien etc. (auf weitere Beispiele komme ich weiter unten zu sprechen) ist aber nur eine Form der Identitätsfindung unter vie- len. Was einen Mongolen ausmacht, wird in zunehmendem Masse auch vom Fernsehen be- stimmt (Khan 1996: S. 133). Nun ist dieses Bild (das auch in Karaoke-Videoclips verbreitet wird) aber ein totales Klischeebild, so etwa wie die Vorstellung, dass Schweizer ein jodeln- des, Alphorn spielendes und in Tracht gekleidet Kühe melkendes Volk sind. Das „aktuelle“ Bild der Mongolei, das sowohl in mongolisch- wie auch in chinesischsprachigen Fernsehka- nälen in der Inneren Mongolei gezeigt wird, trägt Programmtitel wie caoyuan 草原 oder tal nutug (Grasland), taliin duulal (Lieder der Steppe) oder malchidiin hani (des Herdenhalters Begleiter). Auch die nationalen Fernsehsender geben sich in Sendungen mit Titeln wie xiong- di minzu 兄弟民族 (Brudervolk) Mühe, die Mongolen so darzustellen, dass z.B. in Kanton kaum jemand glaubt, dass es in der Inneren Mongolei eine Universität gibt. Ausserdem ist nicht einmal in Beijing allgemein bekannt, dass in Höhhot huhehaoteshi 呼和浩特市, Hauptstadt der Inneren Mongolei, normalerweise nicht mit dem Pferd zur Arbeit geritten wird (Khan 1996: S. 132). Trotzdem besitzt Höhhot mehrere Pferdestatuen, wie eigentlich jede Stadt in der In- neren Mongolei (und auch in der Republik Mongolei). Ausserdem besitzt die Stadt Statuen von in den traditionellen deel gekleideten Menschen, die zeremonielle Handlungen vollführen (Khan 1996: S. 134). Mongolen machen in Höhhot nur gerade 5% der Bevölkerung aus. Das öffentliche Bild des nomadisierenden Mongolen ist also paradoxerweise um ein vielfaches dominanter als das der von Chinesen belebten innermongolischen Stadt. Wie Khan (1996: S. 141) beschreibt, wird in vielen innermongolischen Gegenden gar kein Käse mehr produziert, einerseits, weil die Menschen nach einem Arbeitstag auf den Feldern zu müde sind, dann weil sie langsam vergessen, wie das geht, und drittens weil immer mehr Junge der Ansicht sind, Käse stinke. Auf der anderen Seite stehen die Traumwelten, wie sie neben dem Fernsehen auch in Liedern anzutreffen sind, wie in dem Hit der späten Achtziger: „Ich bin ein Mongo- le“. Die Antwort des Liedes auf die Frage, was es heisst, ein Mongole zu sein, ist: „In einer Viehzüchterjurte geboren mit Dungrauch, der aus ihr emporsteigt - das ist ein Mongole: Ein Mensch, der sein Heimatland liebt.“ Nach Khan (1996: S. 143) sind ähnliche Beispiele unzäh- lig. Die Verwirrung ist schon jetzt komplett. Wieso wird dieses ländliche Bild von den Me- dien, also indirekt immer auch von Beijing, toleriert oder sogar gefördert? Khan (1996: S. 144 - 145) sagt, dass es darum gehe, Minderheitentraditionen aus ihrem Bedeutungs- und somit potentiell gefährlichen Kontext herauszureissen und durch die Diskussion um den Aufbau des modernen Chinas einzurahmen. Die Reissfläche dieser Heraustrennung kann teilweise über die Zeit wandern. Khan (1995: S. 264 - 277) zeigt dies am Beispiel Chinggis Khan. Dieser wurde offiziell immer wieder anders mit dem mongolischen Volk in Verbindung gebracht. Teilweise wurde sogar die Verbindung gekappt: In einer offiziellen Stellungsnahme im Peo ple ’ s Daily stand zum Beispiel (S. 267), dass der Khan ein „leader of Chinese and foreign peoples, an outstanding military strategist and statesman“ gewesen sei.
Die Manipulation der Minoritätenkultur geschieht auch auf einer enorm wirkungsvollen Ebene, der Bildungsebene. Borchigud (1995) hat sich mit dem zweigeteilten Bildungssystem Chinas befasst und hält fest, dass die Trennung zwischen regulärer Bildung (zhenggui jiaoyu 正規教育) und ethnischer Bildung (minzu jiaoyu 民族教育) eher zu einer Zweiteilung der Gesell- schaft als zu einem „ethnischen Verschmelzen“ (minzu ronghe 民族融和) führe (S. 278). Das System unterstützt die Vorstellung, dass es sich bei den Mongolen um ein hilfebedürftiges Volk handelt, das vom grossen Bruder (dage 大哥) Han unterstützt wird. Im Bildungsleitfaden, der bis 1966 gültig blieb, stand zum Beispiel: „Through the study of the Han language, Mon- golian students will clearly understand that the Inner Mongolian Autonomous Region is an inseparable part of the People’s Republic of China, and that the Mongolian ethnic group is a member of a big family in which all the ethnic peoples of China love and cooperate with each other. Moreover, if the Mongolian people want to achieve an advanced level of social status, they should understand the significance of assistance from the Han people.” (Borchigud 1995: S. 282) Die Minoritäten und die Bilder, die über sie entstehen, erfüllen, wie hier angedeutet, noch einen weiteren Zweck: Sie liefern eine Projektionsfläche für die Vorstellung der Han, wie „primitiv“ sie selbst einmal waren und was sie schon längst hinter sich gelassen haben (Khan, 1996: S. 147).
Wegen der Erwartungen, die das verfälschte Bild über die Innere Mongolei setzt, ist es für den Mongolen selbst immer noch besser, ein Herdenhalter zu sein, als Ackerbau zu betrei- ben. Denn Herdenhaltern werden immer noch einige urmongolische Qualitäten wie Mut, Kraft und Robustheit zugesprochen, während Bauern sowieso schon am Ende der sozialen Hierarchie Chinas stehen. Wenn die Bauern dann noch Mongolen sind, haben sie alle ihre guten Qualitäten verloren, auch in der Sicht der vergleichsweise immer noch „freien“ Her- denhalter. Ausserdem wird von der restlichen Welt dann gar nicht mehr wahrgenommen, dass sie existieren, da Mongolen doch reitend mit ihren Tieren herumzuziehen haben. Khan (1996: S. 153) zitiert einen mongolischen Bauern, der sich über seine soziale Position beschwert und der erklärt, mongolische Bauern seien wirklich die tiefste soziale Gruppe überhaupt. Ein Schlüsselpunkt dabei ist ihre Sprache, die weder von den Chinesen noch von den Viehhaltern verstanden wird. Der zitierte Bauer nennt sie „Nichts- Sprache“. Bulag (2000: S. 196) fasst im Schlusskapitel seines Essays seine Beobachtungen über die Entwicklung in der Inneren Mon- golei zusammen: „ Minzu [hier: ethnische Minderheit] highlights central contradictions of so- cialist nation-building. Minzu is to be constructed for the ultimate purpose of its destruction. Having made its contribution to national unity and economic development, its mission is complete.” Aus der Sicht einer minzu bedeutet das folgendes: „... minzu has only two options for the time being: it becomes a foil to the Han-Chinese nation-state, displayed in the human zoo theme park, or it becomes the antithesis of the Han, serving to unite the Han, as reflected in the denunciation and suppression of minority secessionism of recent years.“
4.3. Landschaft und Orientierung
Entwicklungen, die in jedem Teil der Erde zusammen mit der Modernisierung stattfin- den, wie die Abnahme der Gastfreundschaft auf Grund vermehrten Misstrauens und grösserer Anonymität, haben in dem rauhen Klima der Inneren Mongolei fatale Folgen. Seit jeher offen zugängliches Weideland wird mit Stacheldraht umzäunt (Williams 1997: S. 775), die Tiere kommen nicht mehr so weit herum, auf regionale Klimaschwankungen kann nicht mehr rich- tig reagiert werden und zudem werden die Tiere ärmerer Viehzüchter insgesamt schwächer, weil ihre Gene durch die mangelnden Wanderungen zu wenig aufgefrischt werden.
Auch, oder gerade im kommunistischen China besteht eine grosse Einkommensschere. Williams (1997: S. 775) zeigt, wie sich die Gesellschaft in der Inneren Mongolei innerhalb von nur 15 Jahren durch die sogenannte Dekollektivierung von einem ausgeglichenen Stand zu einer zweigeteilten Klassengesellschaft herausbildete, in der 1993 in Wulanaodu, in einem kleinen Städtchen in der östlichen Inneren Mongolei, dann die 20% Ärmsten nur noch 6% der Herden, Güter und Geräte besassen.
Ich will auf diese Entwicklung näher eingehen, indem ich ausführe, wie die kulturellen Unterschiede der Han und Mongolen in Verbindung mit den verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Faktoren und unter Wechselwirkung mit der Umwelt die Mongolen enorm benachteiligen. Es kann sehr interessant und fruchtbar sein, die Welt als einen riesigen Reak- tionskasten zu betrachten, in dem sich die Menschen untereinander und mit der Umwelt in einer Art chemischen Reaktion befinden. Manche Teufelskreise, die im Folgenden geschildert werden, sind sozusagen aus Unumgänglichkeit aus den Einflüssen herausgegangen, die in der Inneren Mongolei zusammentreffen. Beijing ist nah und trotzdem fern. Ideen und Vorstellun- gen der Mongolen und der Han sind verschieden. Alle sind Menschen, und trotzdem ist die
Art, wie diese beiden Völker ihre Umwelt deuten, grundverschieden, wie es sich in Literatur, Wortgebrauch und Lebensart zeigt. Ethnisch mongolische Viehzüchter in Nordchina führten traditionell ein Leben in einer variationsreichen Landschaft. Im Gegensatz zur dichten Population und zum intensiven Ackerbau der Han erlaubte ein verstreutes Siedeln und das Nomadentum der mongolischen Gesellschaft, in einem örtlich und ökologisch weiteren Horizont zu funktionieren. Diese tief- verwurzelte Orientierung erlaubt den Mongolen immer noch eine gewisse Anpassungsfähig- keit mit den neuen fremden Standards aus Beijing, die unter dem Deckmantel der wirtschaft- lichen Entwicklung eingeführt werden (Williams 1997: S. 665). Die ländlichen Bewohner der Inneren Mongolei finden sich zwischen einer bewegten Vergangenheit und einer unsicheren Zukunft gefangen. Angst hat viele Ursachen, aber kommt schlussendlich aus zwei miteinan- der verknüpften Prozessen zu Stande: Eine herunterkommende Natur, ständig verkleinert durch Sanddünen und Bevölkerungsdruck und die spaltenden Einflüsse der letzten Regie- rungsinitiativen, die eine „Rationalisierung“ der Tierhaltung bewirken wollten. Williams zeigt in seinem Essay „The barbed walls of China“, wie Beijing die nomadischen Herdenhalter und die trockene Steppe, auf der sie leben, als langfristige Hindernisse für den nationalen Fort- schritt, wissenschaftliche Rationalisierung und wirtschaftliche Entwicklung sieht (1997: S. 666).
Um die Entwicklung der Inneren Mongolei zu verstehen, muss man ein Augenmerk auf den grossen Einfluss zwischen Umwelt und Mensch richten. Physische Umwelt wird von Aussenstehenden oft völlig anders beurteilt als von Bewohnern dieser Umwelt. Die Umwelt ist nicht nur für die Orientierung gegen aussen wichtig, sondern auch wesentlich für die sozia- le Orientierung und für die Gruppenkohäsion. Die Landschaft spielt eine ideologische Rolle in sozialen Prozessen, indem sie Ideen, Werte und nicht hinterfragbare Grundlagen liefert, nach denen eine Gesellschaft sich organisiert oder sich organisieren sollte. Wenn sich die Umwelt ändert, kann dies drastische Auswirkungen auf die kulturelle Identität mit sich füh- ren, besonders während sowieso schon kritischer Phasen (Nahrungsknappheit etc.). Den Rahmen dieses Gedankens bildet die Vorstellung eines Platzbewusstseins oder auch einer Platzverbundenheit. Für modernisierende Gesellschaften auf der ganzen Welt bildet die Glo- balisierung deshalb eine Herausforderung für lokale Identitäten und den symbolischen Zu- sammenhalt traditioneller Gemeinschaften.
Nun wollen wir zuerst einen näheren Blick auf die räumliche Identität der Han und ih- ren Bezug zur ökologischen Umwelt richten: Williams (1997: S. 669) zeigt auf, wie die „Angst vor dem Unendlichen“ sich durch alle Bereiche der Kultur und der Geschichte der Han zieht. Am augenfälligsten zeigt sich diese Angst in der grossen Affinität der Han zu Mauern, deren prominentestes Beispiel als das Symbol für China par excellence gilt. Die Grosse Chinesische Mauer markierte traditionell die Grenze zwischen Zivilisation und Barba- rentum und auch heute noch bezeichnet sie eine Grenze zwischen dem „gelobten Land“ (nicht im christlichen Sinn!) Kernchinas und dem Rest der Welt. Mauern machen China aus, Bei- jing, die verbotene Stadt, und alle Einheiten bis hin zu Städtchen, Dörfern und Privathäusern. Mauern zeigen den Unterschied auf, was aussen und was innen ist, was voller Macht und was ohne Macht, was eigen und was fremd ist. Ebenfalls wichtig als Orientierungsmittel sind Fel- der. Khan (1996: S. 128 - 129) zeigt auf, wie die Absenz von Feldern schon früher ein bild- haftes Zeichen für die andersartige Existenz hinter der Grenze (sai wai 塞外) darstellte. Dort lebten die mengdazi 蒙韃子, das Volk, das auf dem Rücken der Pferde lebte und dem Gras und Wasser folgte, die, geführt von chengjisihan 成吉思汗 (Chinggis Khan), China eroberten und die Yuan Dynastie gründeten. Sie sind robust, hart, freien Herzens und stolz, aber auch barba- risch, faul, dreckig, nach Schaf stinkend und irgendwie unintelligent. Diese Vorstellung hat sich nach Khan bis heute nicht gross verändert.
Während Jahrhunderten beschrieben chinesische Gebildete die benachbarten semino- madischen Völker und ihre Heimatländer mit herabsetzenden Worten. Die Menschen wurden als „mit menschlichem Gesicht und tierischem Herz ausgestattet“ und die Steppe als „für wahre Menschen nicht bewohnbar“ bezeichnet. Am häufigsten wurde die Steppe mit dem negativen Term huang 荒 (wüst) bezeichnet. Der positive Term kai 開 wird dagegen gebraucht, um die Aktion zu bezeichnen, in der jungfräuliches Land zur Kultivation vorbereitet wird: „ kai huang 荒開“ bedeutet soviel wie „ödes Land öffnen“. Migrierende Siedler strömten im 19. Jahrhundert in die Grenzregionen unter der Autorität eines Regierungserlasses, der den Titel „die Grenze aufbauen“ (jianshe bianjiang 建設邊疆) trug (Williams 1997: S. 672). Die chinesi- schen Siedler empfanden das Land als unermesslich gross und praktizierten deshalb einen Landwirtschaftsstil, den man unter dem Namen guangzhong boshou 廣種播收 kennt. Man sähte weit verstreut und erntete dafür wenig pro Fläche. Der Boden wurde so weiträumig erschöpft, da nach zwei oder drei Jahren bereits weitergezogen werden musste (Khan 1996: S. 130).
Der Einfluss intensivierte sich nach 1911, als die neue Chinesische Republik deklarier- te, dass das ganze mongolische Land zu China gehöre und alle Landrechte nur noch gültig blieben, wenn sie von einer lokalen Chinesischen Autorität unterzeichnet wurden. Die Bevöl- kerung der Inneren Mongolei betrug im Jahr 1912 etwa 2.04 Millionen mit einem Han/Mongolen-Verhältnis von etwa 1,3 zu 1. Im Jahr 1990 betrug die Bevölkerungsgrösse dann schon 21 Millionen mit einem Verhältnis von sechs Han zu einem Mongolen. Die als yimin shibian 移民實邊 (die Grenze beruhigen, indem man sie besiedelt) bezeichnete Politik bewirkte also, dass Mongolen massiv in der Minderheit in ihrem eigenen angestammten Land sind (Khan 1996: S. 139). Dazu kommt die Erkenntnis, dass wahrscheinlich nicht einmal alle gezählten Mongolen wirklich Mongolen sind, weil sich ab 1979 viele Han als Mongolen registrierten, um von gewissen Vorzügen wie Ausnahmen aus der Ein-Kind-Politik zu profitieren (Williams 1979: S. 672).
Es gab allerdings auch einige chinesische Poeten, die das Land der Nomaden im Norden in lebendigen positiven Worten schilderten. Ich werde als Einleitung zu einigen Gedanken über die Mongolen mit einem kurzen Ausschnitt aus einem klassischen, etwa tausend Jahre alten Gedicht die spezielle Schönheit ihres Lebensraums verdeutlichen (zitiert in Khan 1996: S. 127; meine Übersetzung):
Auf der Chi Le Ebene chile chuan 敕勒川
Unter den Yin Bergen yinshan xia 陰山下
Wie eine grosse Jurte ist der Himmel tian si qionglu 天似穹盧
Die Wildnis in allen Richtungen überdeckend longgai siye 籠蓋四野 Unendlich blau ist der Himmel tian cang cang 天蒼蒼 Unermesslich riesig ist die Steppe ye mang mang 野茫茫 Hier biegt die Brise das Gras hinunter feng chui cao di 風吹草低 So dass man die Rinder und Schafe sieht jian niu yang 見牛羊 Produktion, die so stark an Mobilität und Veränderung geknüpft ist wie die der mongo- lischen Nomaden, verlangt nach einer extremen räumlichen Orientierung. In nomadischen Gesellschaften sind alle Aspekte der sozialen Organisation bestimmt von und ausgerichtet auf ständige Bewegung im offenen Raum. Jedes Element der traditionellen mongolischen Kultur und Lebensweise - Ernährung, Kleidung, Behausung, Arbeit, Familienform, Heirat, Frucht- barkeit - funktioniert im Dienste mobiler Viehzucht (Williams 1997: S. 674). In früheren his- torischen Zeiten beinhaltete die Offenbarung mongolischer Macht immer die komplette Zer- störung von Stadtmauern. Chinggis Khan und seine Horden vernichteten mit Vorliebe alle baulichen Strukturen, die mit sesshafter Landwirtschaft zu tun hatten. Der Raum wurde unter seinem Kommando sozusagen wieder befreit. Auf ähnliche Weise sahen die einfallenden Nomaden keinen Nutzen in der sesshaften Bevölkerung. Es war besser, dieses nutzlose Volk zu töten, das ja nicht einmal Viehherden herumführen und auf den weiteren Raubzügen nicht mitreisen konnte, um das Land, nunmehr ungepflegt, sich selbst wieder der Steppe einverlei- ben zu lassen. Auch heute noch betrachten viele Mongolen in der Tradition ihrer speziellen
Ausprägung des tibetischen Buddhismus den Ackerbau als eine „Zerkratzung und Zernarbung des Antlitzes Buddhas“. Den Prozess, den die Chinesen „ödes Land öffnen“ bezeichnen, nen- nen sie „das Land zertrümmern“ (gajir qagalaqu). In heutiger Zeit, da die Mongolen nicht mehr mordend durch China zu ziehen pflegen und sich deshalb näher mit den Sitten ihrer Be- satzer auseinandersetzen müssen, liebäugeln aber auch einige mongolische Viehzüchter mit den Produkten des Ackerbaus, doch können manche es sich nicht lassen, durch eindeutige Symbole einen gewissen Unterschied zwischen ihrer Form des Ackerbaus und der chinesi- schen Art herzustellen. So verwenden sie beispielsweise oft längere Sicheln, um sich nicht zu stark bücken zu müssen (Williams 1997: S. 675). Normalerweise bezeichnen sich die Mongo- len der Inneren Mongolei als Siedler, nicht als Sesshafte (Williams 1997: S. 676 - 677). „Sesshafte“ ist ein negativer Begriff, der mit den Han in abschätziger Weise in Verbindung gebracht wird.
Die Mongolen schätzen ihre ursprüngliche Umwelt mit all ihren Ausprägungen wie Dü- nen, verschiedenen Grasqualitäten, kleinen Baumgrüppchen, Hügeln etc. Wer die Zeichen der Natur richtig liest und zu verstehen weiss, kann alle Variationen der Steppe für das Wohl sei- nes Viehs und somit seiner Familie nützen. Die Umwelt ändert sich durch den Einfluss der Erosion ständig, die Grundelemente bleiben jedoch im Verlauf der Jahreszeiten immer vor- handen und erlauben eine optimale Nutzung der Steppe. Grosse Abwechslung in den Grassor- ten garantiert eine gute Milchqualität und dicke Wolle. Sogar der Sand kann verwendet wer- den, zum Beispiel um Kaschmirwolle zu strecken und somit den Marktwert zu erhöhen. Dü- nen gelten in gewissen Regionen sogar als Symbole eines Heimatsgefühls schlechthin. Dem- entsprechend emotional reagierten Viehzüchter in Wulanaodu auf die Frage, wie lange es geht, bis man vom Treibsand beherrschte Landschaften in Landschaften von - nach chinesi- schen Massstäben - „voller Produktion“ (huifu shengchan nengli 恢復生產能力) zu verwandeln. Im Mittel betrug nach Williams (1997: S. 679) die Einschätzung 5.9 Jahre. Fünf von acht Han- Forschern gaben dem entgegengesetzt nüchtern an, es brauche mehr als 15 Jahre.
4.4. Einzäunung als Auszäunung
Wenn es nun theoretisch machbar ist, Dünenland „produktiv“ zu machen, wieso ist dann immer von verschwindendem Nutzland und Desertifikation die Rede? Nun, Williams spricht aus, was für die Bewohner der Inneren Mongolei sozusagen selbstverständlich ist und von Offiziellen nicht wahrgenommen oder zumindest nicht bekämpft werden will. Die Ein- zäunungspolitik der letzten 15 Jahre startete mit einer einigermassen gleichmässigen Vertei- lung von Land an die Bewohner. Wer es sich nun leisten konnte, zäunte sein Land so schnell wie möglich ein und fasste die Grenze dabei oftmals ein bisschen weniger eng als eigentlich vorgesehen. Von der Politik war ursprünglich eigentlich vorgesehen, dass diese Zäune das eigene Vieh innerhalb eines bestimmten Territoriums behalten sollten. Die Realität sieht nun aber so aus - und hier bringt es unser europäischer Gedankenhintergrund zum Verständnis nicht mehr weit - dass diese Zäune meistens dafür sorgen, dass das Vieh ausserhalb der Gren- zen bleibt, das Gras auf dem eigenen Land also geschont wird. Das Land derer, die von Be- ginn weg zu arm waren, um Zäune zu bauen, wird so von den Tieren anderer abgeweidet. Den eigenen Herden geht es folglich im Vergleich schlechter, da das eigene Land durch Übernut- zung immer karger wird, und die Chance, irgendwann einmal Geld für einen Zaun erwirt- schaften zu können, sinkt unaufhaltsam, bis aus Geldnot sogar Land abgegeben werden muss. Auf einer Besichtigung der Südgrenze der Republik Mongolei im Jahr 2000 stellte ich er- staunt fest, dass die Mongolen einen Wall gebaut haben. Ein mongolischer Grenzwächter meinte dazu: “Damit die Chinesen wissen, wo ihr Land aufhört und sich nicht auch noch dies- seits der Grenzen niederlassen“.
Ein weiterer Missstand, der mit dem Phänomen, das man als Landscheffelei bezeichnen kann, einhergeht, liegt darin, dass Haushalte, die sich einen Zaun leisten können, typischer- weise versuchen, das Land zu vergrössern anstatt das eigene Land aufzuteilen und einen op- timalen Weidezyklus innerhalb der eigenen Grenzen zu gewähren, was essentiell notwendig wäre, um die Fruchtbarkeit des Weidelandes als Ganzes zu erhalten. Williams (1997: S. 681) fasst seine Forschungen in dieser Richtung in einer Daumenregel zusammen: „As a rule of thumb, the lushest grass cover has been relocated to the haven of private enclosures, while unenclosed range has increasingly been converted into semifixed and moving sand dunes.“
Wie er in seiner Arbeit zeigt, wird die Landgrabscherei von Beijing tolertiert. “Oppor- tunistic land grabs are actually encouraged, rather than curtailed, by grassland institutions and policy statements as tailored in Beijing” (S. 682). Kurz nachdem die Landnutzungsrechte ver- geben wurden, zirkulierten unter den Offiziellen in Wulanaodu politische Erlässe, die aussag- ten, dass das Land gut verwaltet werden müsse, damit es man es behalten darf. Andernfalls werde es an produktivere Haushalte vergeben. Es versteht sich, dass die Kategorien, an Hand deren das Prädikat „gute Verwaltung“ vergeben wurde, aus der Welt der Han kamen und Zäune sowie Ackerbau einschlossen. Dies führte dazu, dass das Gefühl herrschte, Land dürfe man rechtmässig konfiszieren, wenn es weder eingeschlossen war noch intensiv genutzt wur- de. Krass gesagt: Diejenigen, die entweder zu arm oder schlichtweg nicht daran interessiert waren, die Landschaft nach den Linien, die durch die Regierung in Beijing vorgegeben wur- den, umzubauen, wurden als für das moderne China unpassende Objekte eliminiert, Objekte, die als „Evolutionsssackgassen“ keine gesetzliche Unterstützung wert sind.
Williams zeigt an Beispielen, wie die Mongolen zum Teil sogar als Sündenböcke für die Wissenschaft herhalten mussten, wenn diese keine Erklärung dafür fand, wieso das Ziel der höheren Produktivität mit wissenschaftlichen Methoden oftmals verfehlt wurde. „Sabotage“ von „zurückgebliebenen“ Ureinwohnern wurde als Grund genannt. Dieses Vorgehen erinnert an die Szene in George Orwells „Animal Farm“, als das Schwein Snowball von Napoleon für den Zusammensturz der Windmühle verantwortlich gemacht wird. Aus derselben Perspektive ist das grösste Problem des Ressourcen- Managements heutzutage, dass engstirnige Mongolen Technik zur eigenen Produktivitätssteigerung ablehnen.
5. Schluss
Zur Identität der Mongolen in der nun geschilderten Situation lässt sich Williams Zu- sammenfassung der Aussagen zitieren, die er unter den Mongolen gesammelt hat: „Not quite farmer and not quite herder, not quite Mongol and not quite Han, not quite traditional and not quite modern.“ (1997: S. 683) Die Mongolen sind nicht optimistisch und wissen, dass noch mehr Veränderung kommen wird. Insgesamt verstärkt sich ein Gefühl der Ausgeliefertheit und führt zu einem passiven Verhalten, was die Situation sicher zuletzt verbessert. Die Zei- chen der Landschaft können nicht mehr gelesen werden wie früher und liefern für die wichti- gen Entscheidungen im Alltag eines Nomaden nicht mehr dieselbe Information. Die Folge ist: Fähigkeiten in der Haltung der Herden werden immer unwichtiger und immer mehr Haushalte lassen ihre Tiere ohne bestimmte Taktik frei herumlaufen, getreu dem Motto „graze as you please“ (Williams 1997: S. 687). Wie Williams in seiner Studie gezeigt hat, ist die Chinesi- sche Diskussion über den „Grasland- Aufbau“ eher ein politischer Mythos, als dass man sie Ernst nehmen sollte.
Es geht nicht darum, jemandem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ich wollte in die- ser Arbeit nur zeigen, wie ein komplexes Zusammenwirken mehrerer Faktoren einen be- stimmten Bevölkerungsteil (in diesem Fall eine ethnische Minderheit in einem riesigen Land) in eine Misere stürzen kann. Es beginnt dies mit der historischen Entwicklung, zieht sich fort über kulturelle, ideologische und symbolische Gegebenheiten und steht in, vor allem bei den Mongolen, enger Wechselwirkung mit der Umwelt. Die Einflüsse wirken vielschichtig, kom- pliziert, teilweise reflexiv und oft undurchsichtig. Natürlich sollten die Mongolen nicht so viel trinken. Aber trinken sie nicht auch so viel, weil sie eine Handlung suchen, die sie von den Chinesen abgrenzt? Und machen sie das nicht auch gerade deshalb, weil ihre Urformen der Abgrenzung (z.B. grenzenloses Herumreiten) durch Zäune unterbunden wird?
Die chinesische Regierung hat zugegeben, dass es während der Kulturrevolution zu zum Teil gewaltigen Zerstörungen und starker Unterdrückung in den Minoritätengebieten gekom- men ist (Heberer, 1984: S. 15). Die Folge war u.a. nicht nur eine bleibende wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit, sondern auch ein grosses Mass an Entfremdung zwischen den Han und den ethnischen Minderheiten. Die mongolische Kultur ist als Ganzes nicht in Gefahr
- sie wird in der Republik Mongolei weiterbestehen. In China aber werden auch weiterhin mongolische Kinder in eine Welt geboren, in der sie oft niemals genau herausfinden können, zu wem sie eigentlich gehören und wer sie eigentlich sind.
6. Literatur
Borchigud, Wurlig (1995) : “The Impact of Urban Ethnic Education on Modern Mongolian Ethnicity, 1949 - 1966”. In: Harrell, Stevan (ed.): Cultural Encounters on China ’ s Ethnic Frontiers. Seat- tle / London. S. 278 - 300.
Bulag, Uradyn E. (2000): “Ethnic resistance with socialist characteristics”. In: Perry, Elisabeth J. (ed.) / Selden, Mark: Chinese Society. Change, Conflict and Resistance. London. S. 178 - 197. Heberer, Thomas (1989): China and Its National Minorities. Autonomy or Assimilation? Armonk, NY. Harrell, Stevan (1996): “Introduction”. In: Brown, Melissa J. (ed.): Negotiating ethnicities in China and Taiwan. Berkeley. S. 1 - 18.
Heberer, Thomas (1984): „Nationalitätenpolitik und Entwicklungspolitik in den Gebieten nationaler Minderheiten in China“. In: Bahrenberg, Gerhard (ed.) / Taubmann, Wolfgang: Bremer Beitr ä - ge zur Geographie und Raumplanung. Heft 9. Bremen.
Khan, Almaz (1996): “Who Are the Mongols? State, Ethnicity, and the Politics of Representation in the PRC”. In: Brown, Melissa J. (ed.): Negotiating ethnicities in China and Taiwan. Berkeley. S. 123 - 159.
Khan, Almaz (1995) : “Chinggis Khan. From Imperial Ancestor to Ethnic Hero”. In: Harrell, Stevan (ed.): Cultural Encounters on China ’ s Ethnic Frontiers. Seattle / London. S. 248 - 277. McKhann, Charles F. (1995) : “The Naxi and the Nationalities Question”. In: Harrell, Stevan (ed.): Cultural Encounters on China ’ s Ethnic Frontiers. Seattle / London. S. 39 - 62. Orwell, George (1945): Animal Farm. London.
Schwarz, Henry G. (1984): The Minorities of Northern China. A Survey. Bellingham, Washington.
Williams, Dee Mack (1997): “Grazing the body: violations of land and limb in Inner Mongolia”. In: Herzfeld, Michael (ed.): American Ethnologist 24(4) - the journal of the american ethnological society. August 1997. S. 763 - 785.
Williams, Dee Mack (1996): “The Barbed Walls of China: A Contemporary Grassland Drama”. In: The journal of Asian Studie. Vol. 55, no. 3 (August 1996). Salt Lake City. S. 665 - 691.
- Arbeit zitieren
- Marco Hirsbrunner (Autor:in), 2000, Identitätsprobleme der Mongolen in der Inneren Mongolei, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107389
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