INHALTSVERZEICHNIS
1.Einleitung
2. Die höfische Liebe
2.1 Iwein wird von der "Minne" übermannt
2.2 Ein Gegenprogramm zur Realität
3. Der Lernprozess: Problematisierung des Ehekonzepts
3.1 Der Treuebruch
3.2 Das glückliche Ende, dem Interessenkonflikte vorausgehen
4. Laudines Rolle
4.1 Die Ehe mit Iwein - mehr als die politische Entscheidung
4.2 Das Spiel mit den Konventionen
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Als zentrales Werk mittelalterlicher Dichtung genießt Hartmann von Aues "Iwein", die deutsches Version von Chretien de Troyes' "Yvain", immer wieder die Aufmerksamkeit von Literaturwissenschaftlern. Neben textanalytischen und sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten wird in den Erörterungen über den Artusroman auch immer wieder gefragt, inwiefern der "Iwein" dazu dienen kann, über kulturgeschichtliche Begebenheiten des Mittelalters Auskunft zu geben. Die dargestellte höfische Kultur - hat es sie in dieser Form überhaupt gegeben? Ist die ritterliche Welt des "Iwein" nur eine Wunschvorstellung, eine Phantasie seines Autors? Um derartigen Fragen nachzugehen, bietet es sich an, sich mit einem für den Handlungsverlauf bedeutungsvollen Motiv im "Iwein" näher zu beschäftigen: die Liebe, ob man sie nun in ihrer Darstellung als "höfisch" bezeichnen kann oder nicht. Dieses Motiv eröffnet - vergleicht man seine Ausführung mit den Arbeiten von Historikern - einen reichen Fundus darüber, was von Aue über damalige Sicht- und Denkweisen im Liebeskontext, über Sitten und über Geschlechterrollen verrät. Eine Betrachtung der Liebeskonzeption im Verhältnis zwischen Iwein und Laudine ist geeignet, um zu erklären, was in diesem Artusroman den Status freier Dichtung hat und was als historische Überlieferung gelten könnte. Allerdings: diese "freie Dichtung" kann auch als historische Quelle dienen - indem man sie als Ablenkung oder Flucht von einer manchmal unangenehmen Gegenwart betrachtet, kann sie auch über gesellschaftliche Wahrheiten berichten. Wie kein anderes Motiv im "Iwein" taucht die Liebe in dem Artusroman auf; sie sorgt für einen Handlungsbruch, als Laudine den frisch vermählten Iwein verstößt, weil der seine Treuepflicht nicht eingehalten hat - und bestimmt somit das Tempo der Erzählung. Die verschiedenen Etappen im Verhältnis zwischen Iwein und Laudine offenbaren intensiven mittelalterlichen Diskurs und lassen darauf schließen - zieht man die Forschungsergebnisse namhafter Historiker heran - , dass Hartmann zwischen verklärender Dichtung und realistischer Schilderung schwankt. Diese Zerrissenheit des Autors erlaubt tiefe Einblicke in die Programmatik der Liebe im "Iwein" und somit auch eine Differenzierung zwischen Utopie und Realität. Die Beziehung zwischen dem edlen Ritter und der anmutigen Herrscherin verrät auf diese Weise wichtige Charakteristika mittelalterliche Kultur.
2. Die höfische Liebe
2.1. Iwein wird von der "Minne" übermannt
"Frau Minne gewann die Oberhand, sie nahm ihn gefangen und band ihn. Sie überfiel ihn mit Macht, und ihre Herrschaft zwang ihn, herzliche Liebe zu seiner Feindin zu hegen, die ihn auf den Tod hasste"1: So wird Iwein von der Liebe überrollt. Nachdem er den Ritter Askalon, getötet hat, erblickt er unentdeckt dessen Gattin Laudine -und verliebt sich so ihn sie, wie es den Kriterien der sogenannten "frühhöfischen Minne" (eine Bezeichnung, die den chronologischen Vorläufer der "höfischen Liebe" meint) entspricht: Die Liebe erscheint als übernatürliche, überpersönliche Macht, die den Menschen gewaltsam von außen überwältigt.2 Sie wird dabei personifiziert ("Frau Minne") und bestimmt dabei auf aktive Weise die Psyche des von ihr Eingenommenen, der nur mit hilfloser Passivität reagieren kann. Die Liebe entsteht nicht aus dem Inneren des Subjekts, sondern greift von der äußeren Welt auf das Subjekt ein. Römische Dichter haben dafür das Motiv des pfeilschießenden Liebesgottes Amor bemüht, der sich die zu zielenden Herzen auswählt. Der römische Poet Ovid, der "große Lehrmeister der Liebe"3 hatte auch nachhaltigen Einfluss auf mittelalterliche Schrifsteller. Bei Hartmann erscheint die Liebe, personifiziert durch die "Minne", als mächtigste Figur im gesamten Roman, die jeden überwältigt, überall auftaucht und auch auf Menschen treffen kann, die ihrer nicht wert sind: "Nur eins ist zu beklagen: da Minne so viel Kraft hat, zu überwältigen, wen sie will, und alle Könige, die es gibt, noch leichter zu bezwingen als ein Kind, so ist sie doch von unedler Art, dass sie sich je so erniedrigt, sich um Böses nicht zu kümmern und so geringe Orte aufzusuchen, die ihr eigentlich unwillkommen und schmachvoll sein sollten."4 Nicht jeder besitzt Würde und Ehre, um es mit der Minne aufzunehmen, ein tapferer Ritter wie Iwein aber ist ein gern gesehenes und adäquates Opfer: "Hier hat sie einen Herrn gewählt, durch den sie wirklich nie Niedrigkeit oder Unehre gerät: hier bleibt sie in Ehren, hier sollte sie immer unterkommen."5 Diese Auffassung impliziert, dass die "Minne" es idealerweise nur aufnehmen kann mit denen, die Potenz haben - wie der Ritter Iwein, der auf militärischer Ebene Unbesiegbare. Dadurch wird ein Kampf zwischen der Minne und dem starken Ritter vermittelt, den Iwein freilich verliert, indem er sich der Liebe hingibt und Laudine anhimmelt. So verlangt Hartmann von Aue von der "Minne" eine aristokratische Sichtweise, denn nur ein ehrenwerter Mann wie "Iwein" darf es mit ihr aufnehmen.6
Diese symbolische Darstellung des Akts des Verliebens war im Mittelalter ein häufige literarische Umschreibung - zumal im Minnegesang. Das Ausgeliefertsein, das in das Flehen um die Huld der Dame und schließlich zu uneingeschränkter Diensterweisung führt, erscheint als ein idealistisches Bild der Liebe. "Ich möchte immer ihr Gefangener sein, samt meinem Herzen", sagt Iwein, als er erfährt, dass Laudine zur Hochzeit mit ihm bereit ist: Er gibt sich ihr hin und überlässt der Frau die dominante Rolle.7
2.2. Ein Gegenprogramm zur Realität
Doch wie war die Realität? Die Prinzipien der höfischen Liebe - nur eine Ausflucht, um einen Weg zur reinen, heute würden wir sagen: romantischen, Liebe zu erreichen?
Viele Merkmale der "höfischen" Liebe im "Iwein" verhalten sich konträr zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Hochzeiten in den Adelsschichten waren stets rein pragmatischer Natur: Es ging um das dynastische Überleben des eigenen Hauses, die Erzeugung legitimer Erben, letzten Endes also um Hauspolitik, um die Absicherung oder Erweiterung des eigenen Herrschaftsbereichs.8 Bei der Hochzeit zwischen Iwein und Laudine - zieht man allein die Beweggründe Iweins unter Betracht, eine Analyse der Motivation Laudines erfolgt noch - treten diese Absichten in den Hintergrund. Die Art und Weise, wie Iwein in diese Ehe hineinschlittert, trägt Charakteristika der heutigen, sogenannten romantischen Liebe, nach der praktische Gründe nur eine unterschwellige Wichtigkeit einnehmen und die treibende Kraft zur Erwägung einer Hochzeit die Gefühle und die Emotionen darstellen, die man für den Partner entwickelt. An keiner Stelle schreibt Hartmann davon, Iwein ginge es um Vorteile, um Machterweiterung oder dergleichen. Damit ist dieser Aspekt im "Iwein" rein literarischer Natur und fungiert als Gegenpol zur Realität. Ebenso die Wirklichkeit verklärend erscheint Iweins Treue und sein Beteuern, nur Laudine zu lieben und keine andere Frau, also sein Festhalten an der Monogamie: Im Mittelalter war es gewöhnlich, dass Männer Beziehungen zu mehreren Frauen hatten. Zu der Ehefrau kamen häufig Konkubinen und Mätressen. "Was bei den Männern sonst selten angetroffen wird, dass einer so sehr einer einzigen Frau zugetan und mit ihr alleine zufrieden ist", schrieb ein Biograph über den Grafen Balduin V. von Hennegau (gest. 1195).9
Interessant erscheint, dass Hartmanns Darstellung einen romantischen, idealistischen Blick auf die Dinge offenbaren, streng genommen trotzdem nicht dem Kriterium "höfischer Liebe" entspricht. Die "höfische Liebe" schließt nämlich die Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe ein, das heißt sie negiert, dass Liebe in der Ehe möglich ist - und nur außerhalb der Ehe funktioniert.10 Damit ist dieses Bild der "höfischen Liebe", die ansonsten ein Gegenentwurf zur an sich kaum existenten "Liebe" ist, erstaunlich realistisch: Es erkennt, dass in der Ehe, wie sie im Mittelalter praktiziert wird, die Liebe keinen Platz hat. Der Begriff "Höfische Liebe" wurde im 19. Jahrhundert von dem Romanisten Gaston Paris geprägt, der sich mit Chretien de Troyes' "Lancelot" (ein weiterer Artusroman) beschäftigt hatte und daraufhin die höfische Liebe der mittelalterlichen Literatur gekennzeichnet hat. Er schreibt unter anderem: "Höfische Liebe ist ungesetzlich, und daher auf Heimlichkeit angewiesen. Sie schließt die völlige körperliche Hingabe ein." Im "Iwein" ist die idealisierte Liebe nicht geheim, sondern legitimiert durch eine Hochzeit. Dass bei von Aue Liebe und Ehe unter einem Dach harmonieren, ist eine Rarität - in der Literatur und in der damaligen Realität. Wer will, kann natürlich den "Iwein" auch als eine Widerlegung der Kriterien der "höfischen Liebe" betrachten, dergestalt, dass eine so konzipierte Liebe sich gar nicht generell auf die höfische Kultur, die Hartmann von Aue ja eigentlich schildert, übertragen lässt, solche Generalisierungen keinen Sinn machen. Es gibt heutzutage Stimmen unter Forschern, die besagen, dass die "höfische Liebe" nur ein Hirngespinst ist, weil die Liebe in den Werken der Dichter und Minnesänger ganz vielfältig gestaltet ist.
Die Unterwürfigkeit, die Iwein gegenüber Laudine demonstriert, passt jedoch unumstritten in das Raster, das mittelalterliche Dichter in ihren Schriften erbauten. Und es ist ebenso plausibel, zu sagen, dass diese Verteilung der Rollen genau das Gegenteil zur Wirklichkeit darstellt. In Liebesbeziehungen im Mittelalter nahm die Frau stets den repressiven Part ein, was zu einem guten Teil auch mit der damals vorherrschenden Auslegung der christlichen Lehre zusammenhing. Eine Quelle beweist: "Ein mannlicher Mann und eine frauliche Frau sollen sich dies merken: Er soll Meister sein über sie und über ihren Besitz; sie soll seinem Willen gehorchen." Dass diese Devise gültigen Wert besaß, zeigt folgende Szene aus einem mittelalterlichen Herrscherhaus: Ein König ist stolz auf die Tugendhaftigkeit seiner Frau. Er macht die Probe aufs Exempel: "Als die edle Frau ein Getränk auftrug, erhob der Wirt den Becher und schüttete ihr den Wein ins Gesicht. Die Flüssigkeit lief ihr vom Gesicht. Sie stand auf und verneigte sich höflich vor ihm."11 Die Frau hatte also tatsächlich eine dem Mann absolut untergeordnete Rolle.
3. Der Lernprozess: Problematisierung des Ehekonzepts
3.1 Der Treuebruch
Als Iwein seinen Schwur, er wolle nach einem Jahr von seiner Abenteurreise zurückkehren, nicht einhält, und daraufhin von Laudine verstoßen wird, gerät Iwein ob seines Liebeskummer sprichwörtlich in den Wahnsinn. (Was an dieser Textstelle als erneuter Beweis für seine authentischen Liebesgefühle gegenüber Laudine gelten darf.) Mit dieser Wende im Handlungsverlauf geht auch ein Bruch der Liebe und der Ehe einher. Hier scheint sich vorübergehend doch die Ansicht der Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe einzuschleichen. Iwein verletzt die Pflichten, die er nach den Tugenden der "höfischen Liebe" zu erfüllen hat und setzt - auf pragmatischer Ebene - seiner Gattin Laudine der Gefahr aus, ihr Land könnte ohne seinen Schutz überfallen werden. Für Iwein ist die Phase, in der er wie ein irres Tier durch die Wälder läuft, verkommt, wieder geheilt wird, erneut einige Abenteuer bestreitet und dabei gute Taten vollbringt, ein Lernprozess. Die Entbehrung seiner Gattin bringt ihn zu einer grundlegenden Läuterung, die in bedingungsloses Bereuen seines Treuebruchs und in Liebesbekundungen gegenüber Laudine mündet - und damit wieder in den idealisierten Hafen der "höfischen Liebe". War es eingangs des Artusromans Iwein, der um die Huld Laudines warb, so ist es diesmal jedoch die Gattin: "Denn euer Kummer wird, solange ich lebe, immer von Herzen leid tun", sagt sie, um daraufhin ihm zu Füßen zu fallen. Diese vertauschten Rollen dokumentieren, dass Hartmann bzw. Chretien keinem konsequenten Konzept der "höfischen Liebe" (in der der Mann sich zu Füßen werfen würde und nicht die Frau) folgen, sondern vielmehr mit den Konzepten spielen.
Das Ergebnis dieses Spiels, der positive Ausgang, nimmt dabei hingegen wieder Formen einer utopistischen Vorstellung an, deren Pendant in der Wirklichkeit wohl schwerlich aufzufinden war. "Wo Mann und Frau Besitz und Gesundheit haben, Schönheit, Verstand und Jugend, ohne Mängel im übrigen, und wo die ein Paar werden, das sich treu sein kann und will - bringt Gott die ins Alter, so erleben sie eine lange Zeit des Glücks. Das stand hier von nun alles in Aussicht", lautet eine der Schlusssätze "Iwein".12 Hartmann von Aue erreicht den Gipfel, den er erreichen wollte: ein glückseliges Ende, das ein wiederversöhntes Ehepaar als perfektes Herrscherpaar präsentiert. Damit greift er ein knappes Jahrtausend vorweg, was heute auch Hollywood-Filme, Trivialliteratur, Musicals und natürlich auch die seriösen Künste thematisieren: die Sehnsucht nach der Lösung aller Probleme und aller Konflikte und der Sieg der Liebe in ihrer mythischen Bedeutung.
3.2. Das glückliche Ende, dem Interessenkonflikte vorausgehen
Die schlussendliche Auflösung allen Unheils, die Möglichkeit, dass Liebe und Ehe eben doch funktionieren können, fernab von der Gefühlskälte der Adelshäuser im Mittelalter, liest sich freilich auch als Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Hatte die Eheverbindung in der Realität einen sehr unpersönlichen Charakter, der eben daraus resultierte, dass hauspolitische Beweggründe bei der Eheschließung im Vordergrund standen, so liefert von Aue im "Iwein" das Gegenprogramm, dessen Strickmuster vermuten lässt, das von Aue kein Verfechter der Anonymität mittelalterlicher Ehen ist. Dem Autor sind die Dinge, wie sie sich in der Wirklichkeit gaben, mit Sicherheit bewusst gewesen, und deshalb muss auch die opppositionelle Darstellung der Dinge im "Iwein" aus einem bewussten Kalkül heraus entstanden sein. Die Motivation zu diesem Gegensatz kann zwei Gründe haben. Zum einen eben den der Kritik an der Ehepolitik, zum anderen den des Eskapismus: die Wirklichkeit mag sensible Dichterherzen so deprimiert haben, dass sie sich eine Parallelwelt geschaffen haben, in der die romantischen, idealistischen Wünsche einen ästhetischen Widerhall finden - und in dieser Welt lässt sich die Herzlosigkeit dieser Welt vergessen. Die Popularität des "Iwein" unter den zeitgenössischen Rezipienten lässt sich eher mit letzterem erklären, und falls dem auch wirklich so ist, verdeutlicht dies die Sehnsucht der Menschen, die sich für den Minnegesang oder den Artusroman begeisterten, nach einer Umkehr der Liebesdefinition im Mittelalter, nach "edler" Liebe.
Auch wenn die Beziehungsgeschichte zwischen Iwein und Laudine ein gutes Ende nimmt, eines, was wir heute als "Happy End" bezeichnen würde, und in diesem Licht als geglättet und unwirklich erscheint, so hat von Aue die Eheproblematik in den vorangegangenen Abschnitten doch gut skizziert - und somit auch ein brauchbares Abbild der Wirklichkeit hervorgebracht. Im Mittelpunkt stehen dabei ganz gewöhnliche Konflikte: So sind es die Interessen des Mannes, die mit denen der Frau kollidieren. Iwein will seiner "Karriere" nachgehen, will auf "aventiure" reisen, denn das ist seine Berufung als Ritter, der er sich verpflichtet fühlt. Er geht einen Kompromiss ein, indem er Laudine verspricht, nach einem Jahr wieder zurück zu kehren, hat aber trotzdem für diesen Zeitraum sein Liebesverhältnis zugunsten seines unüberwindbaren Drangs nach Abenteuern geopfert. Laudine wiederum sieht sich in der Rolle des naturgemäß "schwächeren Geschlechts", dass des Schutzes bedarf - das ist ihr Interesse. Die beiden Interessen lassen sich nicht unter einen Hut bringen - für Iwein ist die "Karriere" in dem Augenblick, da er Gawein zu Turnieren und Abenteuern begleiten will, wichtiger als die Liebe. Hartmann von Aue bringt damit eine typische Eheproblematik auf den Punkt, die gerade in der Moderne an großer Bedeutung gewonnen hat und zeigt sich in diesem Kontext als ein Literat, der der Realität nicht fern ist.
4. Laudines Rolle
4.1 Die Ehe mit Iwein - mehr als eine politische Entscheidung
In keinem anderen höfischen Roman wird an derart exponierter Stelle, nämlich an der weiblichen Hauptgestalt, die politischen Zwänge, denen verwitwete Damen des Hochadels ausgesetzt waren, so wirklichkeitsgetreu vorgeführt wie im "Iwein".13 Nach dem Tod von Askalon wird Laudine mit dem Problem der Landverteidigung konfrontiert: Sie hat niemanden, der in der Lage wäre, ihre Burg zu beschützen (und ein Angriff des Artusheeres ist angekündigt).14 Somit ist sie aus ganz praktischen Gründen zu einer erneuten Ehe gezwungen - niemand würde freiwillig ihr Land beschützen, es muss schon jemand sein, dem sie sich und den Herrschaftsbereich anbietet. Die daraufhin erfolgende Heirat mit Iwein - nach Lunetes Vermittlungsversuchen - erfolgt sie deshalb aus Pragmatismus?
In jedem Fall spielt die Landesverteidigung als Beweggrund eine gewichtige Rolle, den "trefflichen Herr" (Lunete) zu ehelichen. Lunete, die Laudine von der Hochzeit überzeugen will, geht in ihrer Argumentation einzig auf den Aspekt der Wehrhaftigkeit ein - und stellt die potenzielle Heirat somit von vorne herein in das Licht eines strategischen Akts. Laudine lässt sich auf diese Weise überzeugen - damit wäre der Beweis vollbracht, sie handele aus politischen Motiven.
Die Heirat lässt sich aber auch auf eine andere Ebene heben: Abgesehen von dem Pragmatismus, ist sie auch Allegorie für das Vorhandensein einer archaischen, steinzeitlichen (unbewussten) Sichtweise, die eine tiefe Verankerung in beiden Geschlechtern hat. Sie gehorcht dem biologischen Überlebenstrieb, dem "Recht des Stärkeren". Iwein hat Laudines bisherigen Gatten getötet, und damit unter Beweis gestellt, dass er der kräftigere, tapferere Ritter ist. Das ist für Laudine ein Qualitätsmerkmal, denn derjenige, der so stark ist, kann nicht "unbrauchbar" sein. Der Kampf zwischen Askalon und Iwein - auch wenn letzterer zu diesem Zeitpunkt Laudine noch gar nicht über den Weg gelaufen ist - erscheint unter diesem Aspekt als Sinnbild für das Balzen, das Buhlen um die Gunst der Frau, das Ermitteln des "Alpharüden".15 Iweins tödlicher Sieg über Askalon hat sich gelohnt, er übernimmt Askalons Gattin. Dieser Sozialdarwinismus, der im "Iwein" seinen Niederschlag findet, markiert einen abermaligen Bruch mit den Prinzipien der "höfischen Liebe". Klar, das Werben um die Frau nimmt eine essentielle Bedeutung ein (und dieser Kampf gegen Askalon ist eindeutig ein Werben), doch ist in der "höfischen Liebe" von derlei Brutalitäten nicht die Rede. Joachim Bumke, einer der angesehensten Mediävisten, sieht fünf Qualitäten, durch die der Mann die Liebe einer Frau gewinnen konnte: körperliche Schönheit, Feinheit der Sitten, Redegewandtheit, Reichtum und Freigebigkeit.16 Physische Kraft hat - wenn überhaupt - nur eine untergeordnete Gewichtung, schließlich geht es bei der "höfischen Liebe" um das Reifen von Tugenden, um Werte, von denen sich Literaten in der Realität Häufigkeit und Prägnanz wünschten.
Wie auch immer, von einer "romantischen" Liebe Laudines zu Iwein kann man nicht sprechen. Das wäre, wie eingangs dieses Kapitels angedeutet, auch nicht realitätsnah. Laudines Entscheidung für Iwein ist eine des Verstands und keine des Herzens - und doch nachvollziehbar, wäre ihr Land doch ohne Iwein möglichen Angreifern hilflos ausgeliefert.
4.2. Das Spiel mit den Konventionen
Hartmann von Aue neigt an einigen Stellen zum ironischen Spiel mit geltenden Konventionen und Reglements. Als sich abzeichnet, dass Laudine sich für Iwein entscheidet, sagt sie: "Da ihr meinen Herrn erschlagen habt, so seid Ihr gewiß ein so tapferer Mann, dass ich, wenn Gott will, mit Euch vor aller fremden Anmaßung geschützt bin."17 Aus der Ermordung ihres Mannes folgert sie, dass Iwein in der Lage ist, sie zu schützen. Sie macht Iwein auch sofort klar, dass nicht Liebe sie zu ihm treibt, sondern der Schutz vor der "fremden Anmaßung". Dem heftigen Bemühungen um die Huld Laudines durch Iwein folgt mehr als nur die Einwilligung, ihm die Hand zu reichen. "Wenn auch kaum je die Frau um den Mann wirbt: ich würde zuerst um Euch werben", meint Laudine nun, und erteilt Iwein in Form ihrer Hingabe die Belohnung für sein Werben, für seine Mannhaftigkeit in der Auseinandersetzung mit Askalon.18 Doch geschieht die Bezeugung ihrer Hingabe durch den Fußfall nicht nur aus Laudines Überzeugung, dieser "Stärkere" sei der angemessene Gatte, sie ist auch zu betrachten als ein Spiel Hartmanns mit dem zu Erwartenden. Der Autor modelt hier die Regel um, dass der Mann um die Frau wirbt, und nicht umgekehrt, und erzeugt somit eine ironische Behandlung der omnipräsenten Regeln im Geschlechterverhältnis. Dadurch gewinnt der "Iwein" zusätzlich an Unterhaltungswert - den mittelalterlichen Lesern dürfte diese Szene mit Sicherheit ein Schmunzeln von den Lippen abgerungen haben.
Laudines Fußfall geht eine beinahe karikaristische Überzeichnung mittelalterlicher Regeln unmittelbar voraus. Iwein wirft sich Laudine zu Füßen, für ihn und auch im Hinblick auf damalige gesellschaftliche Konventionen eine Form der Genugtuungsleistung. Synchron zu diesem Demutsangebot sagt er: "Ich kann und mag Euch nicht mehr an Buße und Genugutuung bieten, als dass ihr selber über mich richtet: wie immer Ihr wollt, will auch ich."19 Laudine soll also Richterin über sein Schicksal sein. Die Szene spiegelt ein mittelalterliches Ritual wieder: die deditio, der Akt der Unterwerfung. Sie bedeutete eine Inszenierung des Unterlegenen, die beim Empfänger entweder die Reaktion des vollständigen Verzeihens, der Huld, oder die der Bestrafung hervorrufen.20 Eine dramatische Situation: Iweins Liebe geht so weit, dass er sich dem Willen Laudines bedingungslos ausliefert. Laudine schert sich nicht um die Bedeutung der deditio, diesem gängigen Ritual. Stattdessen spielt sie mit dieser Formel, indem sie kokettiert: "Ihr wollt alles, was ich will?" fragt sie. Iwein antwortet: "Ja, mir scheint nichts zu viel." Daraufhin nimmt sie Iwein auf die Schippe: "Dann nehme ich vielleicht euer Leben." Der Ritter erwidert stoisch: "Wie ihr es wünscht, wunderbare Frau."21 An dieser Stelle zeigt sich eine bewusste Verballhornung von Aues mit den mittelalterlichen Spielregeln:
Die deditio als ein Ritual, dem eine Entscheidung über Leben und Tod folgen kann, wird karikiert - und somit auch in seiner Borniertheit kritisiert.
Diese Ironisierungen zeigen auch, dass Hartmann bzw. Chretien in ihrer Art und Weise, wie sie die Liebe präsentieren, einem Wechselspiel aus Realität und Fiktion folgen, das vor allem einem Diktus folgen soll: dem des Amüsements.
LITERATURVERZEICHNIS
A. Quellen
HARTMANN, von Aue: Iwein, übers. von Max Wehrli. Zürich: Manesse 1988.
B. Darstellungen
ALTHOFF, Gerd: Spielen die Dichter mit den Spielregeln der Gesellschaft? In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kultur, hg. von N. Palmer. Tübingen: Niemeyer 1999.
BUMKE, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München: dtv 1994.
GRAF, Michael: Liebe - Zorn - Trauer - Adel. Die Pathologie in Hartmanns Iwein. Eine Interpreation auf medizinhistorischer Basis. Bern: Lang 1989.
KELLERMANN-HAAF, P.: Frau und Politik im Mittelalter. Untersuchungen zur politischen Rolle der Frau in den höfischen Romanen des 12., 13., 14. Jahrhunderts. Göppingen: ??? 1986.
SCHNELL, Rüdiger: Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern/München: Francke 1985.
[...]
1 Vgl. von Aue: Iwein, vv. 1537-1543.
2 Vgl. Schnell: Causa Amoris, S. 225.
3 Vgl. Bumke: Höfische Kultur, S. 507.
4 Vgl. von Aue. Iwein, vv. 1566-1576.
5 Vgl ebd., vv. 1587-1592.
6 Vgl. Graf: Liebe - Zorn - Trauer -Adel, S. 165.
7 Vgl. von Aue: Iwein, vv. 2241-2244.
8 Vgl. Bumke: Höfische Kultur, S. 534.
9 Vgl. ebd., S. 538.
10 Vgl. ebd., S. 530.
11 Vgl. Bumke: Höfische Kultur, S. 548.
12 Vgl. von Aue: Iwein, vv. 8139-8148.
13 Kellermann-Haaf: Frau und Politik im Mittelalter, S. 42.
14 Vgl. von Aue: Iwein, vv. 1838 ff.
15 Vgl. Graf: Liebe - Zorn - Trauer - Adel, S.177.
16 Vgl. Bumke: Höfische Kultur, S. 527.
17 Vgl. von Aue: Iwein, vv. 2322-2326.
18 Vgl. ebd., vv. 2328-2331.
19 Vgl. ebd., vv. 2286-2289.
20 Vgl. Althoff: Spielen die Dichter mit den Spielregeln der Gesellschaft?, S. 57.
21 Vgl. von Aue: Iwein, vv. 2291-2294
- Citation du texte
- Philipp Wurm (Auteur), 2001, Liebeskonzeption in Hartmann von Aues Iwein und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107281
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