Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Psychoanalytisches Grundwissen
Der psychische Apparat
Trieblehre
Ödipuskomplex und Vater-Sohn-Beziehung
Sigmund Freuds Religionspsychologie
Ursprung und Genese der Religion
Triebstruktur und Kultur
Religion und Gewalt
Religion vs. Gewalt
Die Zukunft des Krieges
Literaturverzeichnis
Einleitung
Fragt man nach dem Zusammenhang von Religion und Gewalt, muß man zuerst verschiedene Einzelaspekte dieser beiden Phänomene untersuchen, um anhand derer zu einem, wenn auch nur unvollständigen, Gesamtbild über das Verhältnis von Religion und Gewalt zu gelangen. Da religiöse Gemeinschaften aus Menschen gemacht sind und Gewalt primär von einzelnen Individuen ausgeht, stellt sich als erstes die Frage nach dem Ursprung aggressiven Potentials im Menschen selbst. Anhand dieser Erkenntnis ist es daraufhin möglich, über das direkte Verhältnis zwischen (aggressivem) Menschen und Religion Aussagen zu treffen. Dabei ist zu untersuchen, inwieweit Religion mit dem Phänomen der Gewalt umzugehen vermag, inwiefern sie diese fördert oder begrenzt. Hieraus ergibt sich dann auch die Frage nach dem Ursprung sowie den gesellschaftlichen Funktionen von Religion. Anhand dieser Erkenntnisse lassen sich im einzelnen Aussagen über Bedeutung und Problemfelder religiöser Systeme und Gemeinschaften für die kulturelle Entwicklung feststellen und deuten.
Ich werde all diesen Fragen anhand der Psychoanalyse Sigmund Freuds nachgehen, die aus einem individualpsychologischen Bild des Menschen heraus sein kulturelles Zusammenleben zu erklären vermag.
Wenn Sigmund Freud über moderne Religionen spricht, so bezieht er sich dabei im wesentlichen auf die jüdische und die christliche und deren Verhältnis zur Kultur des Okzident. Ich werde dies beibehalten; über andere Religionssysteme und deren kulturelle Einbettung steht mir kein hinreichendes Wissen zur Verfügung.
Psychoanalytisches Grundwissen
Der psychische Apparat
Für das Verständnis des menschlichen Verhaltens ist es unumgänglich, einige Freudsche Grundannahmen über die Zusammensetzung des Seelenlebens zu erläutern. Freud konstatiert die menschliche Psyche als eine Art räumlichen Apparat, der wiederum aus 3 Komponenten besteht: dem Es, dem Ich sowie dem Über-Ich. (Freud 1994:42ff)
Im Bereich des Es lagern sämtliche bei Geburt mitgebrachten, ererbten und konstitutionell festgelegten Inhalte, das Es ist der Kraft- und Energiespender. Wesentlicher Teil des Es sind die menschlichen Triebe, die ich im folgenden Kapitel genauer klassifizieren werde. Das Es unterliegt dem Lustprinzip, sein Hauptziel liegt in der Befriedigung der Triebe, es zieht jedoch nicht in Betracht, ob das, was begehrt wird, auch im Bereich des Möglichen liegt oder sozial erwünscht ist.
Als Vermittlungsinstanz zwischen Es und realer Außenwelt fungiert das Ich. Wesentliche Aufgaben des Ich sind Verhaltensanpassungen des triebhaften Es an die Vorgaben und Möglichkeiten der Umwelt. Das Ich reguliert die Triebe anhand der von ihm abgewogenen Möglichkeiten der Umwelt und unterliegt somit dem Realitätsprinzip. Im Ich werden alle Erfahrungen und Informationen aus der Umwelt abgespeichert, es dient der Vermeidung überstarker Reize und erlernt die Fähigkeit, die Außenwelt nach eigenen Vorgaben zu verändern. Das Ich strebt nach Lust und Vermeidung von Unlust, es lernt, Gefahren abzuwenden und ist Träger lebenserhaltender Energien. Hier bilden sich im Verlaufe der individuellen Entwicklung sämtliche Fähigkeiten der motorischen Kontrolle, Wahrnehmung, Erinnerung, die Affekte, das Denken sowie Planung und Steuerung heraus.
Das Über-Ich stellt eine Art Gewissensinstanz dar. In ihm sind Einflüsse der Eltern aber auch Rassen- und Volkstraditionen sowie Erziehung, Ideale und Moral verankert. Das Über-Ich repräsentiert die kulturelle Vergangenheit. Damit liegt seine wesentliche Aufgabe in der Beschränkung egoistischer, umweltfeindlicher Triebe, es stellt eine einschränkende, verbietende, strafende, mißbilligende und sühnefordernde Instanz dar. Über-Ich und Es stimmen in dem Punkt überein, „daß sie die Einflüsse der Vergangenheit repräsentieren,..., während das Ich hauptsächlich durch das selbst Erlebte, also Akzidentelle und Aktuelle bestimmt wird“ (Freud 1994:44)
Das Bild, das Sigmund Freud der Persönlichkeit des Menschen zu spricht, ist das Bild eines Schlachtfeldes, auf welchem unbewußte Triebe mit gesellschaftlichen Normen kämpfen. Arbeitet das Ich optimal, genügt es sowohl den Ansprüchen des Es, des Über-Ich als auch der Außenwelt.
Trieblehre
Indem Freud das Handeln der Menschen auf ihre ureigensten Absichten zurückführt, „entdeckt“ er das Vorhandensein natürlicher Triebe, d.h., konstanter psychosomatischer Kräfte, deren Wirksamkeit unabhängig vom Willen des Menschen verläuft. (Freud 1984:230ff) Die Triebe „repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben“ (Freud 1998:44); sie steuern das Handeln der Menschen.
Freud charakterisiert zwei Grundtypen von Trieben, die sich wechselseitig beeinflussen und ein ambivalentes Verhältnis zueinander führen: den Eros oder Lebenstrieb und den Todes- oder Destruktionstrieb. (Freud 1930:91ff) Diese Triebe sind in der „Natur“ des Menschen verankert, sie bestimmen sein individuelles Handeln und beeinflussen somit auch Kultur und Zusammenleben der Menschen untereinander.
Der Eros beinhaltet Selbsterhaltungsdrang und Eigenliebe sowie Bindung und Zusammenhalt größerer Einheiten, während der Todestrieb das Gegenteil, nämlich eine Zurückführung in einen früheren anorganischen Zustand bedeutet. Damit richtet sich sein Hauptaugenmerk auf Selbstzerstörung. Kehrt sich dieser jedoch nach außen, wird er zum Destruktionstrieb, der sich zerstörerisch gegen seine Umwelt richtet. Aggressionsneigung kommt immer dann zum Vorschein, wenn äußere Zwänge einer Befriedigung innerer Triebansprüche im Wege stehen.
Beide Triebe treten selten getrennt voneinander auf, vielmehr stehen sie häufig in dialektischer Beziehung und kombinieren sich miteinander. So wirken im Selbsterhaltungsdrang gleichzeitig Aggression als auch libidinöse Triebe, Liebe beinhaltet sowohl Lebenstrieb und Zuneigung als auch Bemächtigung des begehrten Objektes die sich bis zur Aggression steigern kann.
Bei der Funktionsbeschreibung der beiden Triebe arbeitet Freud nicht mit dem Terminus Gut oder Böse, beide Triebe sind vielmehr notwendiger Bestandteil der menschlichen Natur, sie stellen zwei schöpferische Energien dar. Nur wenn es zu einer Verschiebung des Gleichgewichtes zu Gunsten eines der beiden Triebe kommt, kann dies für Individuum und Umwelt zu problematischen Folgen führen. Ich werde an anderer Stelle auf einige mögliche Folgen zurückkommen.
Ödipuskomplex und Vater-Sohn-Beziehung
Freud zeichnet ein ambivalentes Gefühlsverhältnis des Kindes zum eigenen Vater auf, das er mit dem Begriff „Ödipuskomplex“ versieht und das für das Verständnis seiner Religionspsychologie von entscheidender Bedeutung ist. (Freud 1988:107ff) Freuds Religionsvorstellungen, speziell das Bild des allmächtigen, gefürchteten und verehrten Gottes erwachsen aus einer Analogie zur Vaterfigur und zum „Ödipuskomplex“ heraus. Ich werde im Abschnitt über den Ursprung der Religion genauer auf diese Analogie eingehen. Vorab ist es jedoch notwendig, die Beziehung des Kindes zu seinem natürlichen Vater genauer zu erläutern.
Im Frühstadium kindlicher Entwicklung möchte der Sohn aus Liebe zur Mutter die Rolle des Vaters einnehmen, er verehrt und haßt ihn zugleich.
Da dieses Verlangen aus Furcht vor Vergeltung des Vaters und Liebesverlust der Mutter verdrängt werden muß, entsteht eine Identifikation mit dem Stärkeren, dem Vater, um an dessen Macht lustvoll teilzuhaben.
Die ersten Lebensjahre sind von großartiger Überschätzung des Vaters getragen, der hilflose Sohn verehrt und beneidet diesen um seine Rolle und Position, er sieht ihn als allmächtig an, sucht in ihm Schutz und Zuneigung. Später jedoch setzten Rivalität und Enttäuschung dem ein Ende, das hilflose Kind erkennt, daß der Vater nicht in der Lage ist, eine fortwährende Schutzfunktion durch das ganze Leben hindurch zu bieten und schafft sich so eine mächtigere Vaterfigur, übernatürliche Wesen, Götter und, mit Einschränkung, weltliche Autoritäten.
Die Vorbildfunktion des natürlichen Vaters weicht nun einem zunehmenden Haß auf ihn, der Sohn möchte den Vater vernichten, um an seine Stelle treten zu können. Der Vater steht zwischen dem Jungen und seiner Mutter, ist mächtiger Rivale und erste moralische und „rechtliche“ Instanz, die repressiv auf das Triebleben des Kindes einwirkt. Das Kind verdrängt seine triebhaften und nunmehr peinlichen Neigungen ins Unbewußt und erfährt so die ersten Mechanismen der Sozialisation.
Sigmund Freuds Religionspsychologie
Ursprung und Genese der Religion
Freud übernimmt Charles Darwins These, daß die Menschen in Urzeiten in kleinen, von jeweils einem dominanten Männchen geführten Horden lebten. (Freud 1975:88) Dieser despotische “Urvater” befand sich in Besitz aller Weibchen. Die vertriebenen männlichen Kinder vereinigten sich, um in einem kollektiven Vatermord den patriarchalischen Führer zu vernichten und nach begangener Tat den Leichnam in einem gemeinsamen Totenmahl zu verzehren. Ziel dieses Aktes war anfänglich die Hoffnung, an die Stelle des verehrten und gefürchteten Vaters treten zu können. Die Einsicht in die Gefahren und die Erfolglosigkeit der Nachfolgekämpfe, die Gefühlsbindung untereinander sowie die Erinnerung an die vollbrachte Tat führten schließlich zu einer Einigung, zum ersten Gesellschaftsvertrag und, damit verbunden, zu ersten moralischen und rechtlichen Festlegungen. “Jeder einzelne verzichtete auf das Ideal, die Vaterstellung für sich zu erwerben, auf den Besitz von Mutter und Schwestern. Damit war das Inzestgebot und das Gebot der Exogamie gegeben” (Freud 1975:89) Als Ersatz für den verhaßten und gleichzeitig verehrten Vater wurde ein Tier gefunden, das als Ahnherr und Schutzgeist des Clans fungierte. In diesem Totemtier spiegelte sich die Gefühlsambivalenz zum “Urvater” wider, es wurde gleichzeitig verehrt und gefürchtet und zu bestimmten, genau festgelegten Jahreszeiten, ähnlich dem Schicksal des Urvater, vom Clan gemeinsam verzehrt. Im kollektiven Verzehren des Urvaters und des Totemtieren zeigt sich das Verlangen nach Zuneigung und Anerkennung durch den Vater in seiner verschärftesten Form: in der Besitznahme und Einverleibung des begehrten Objektes. Der Totemkult war der Ursprung der Religion, in ihm wurden die ersten Sittengesetze, Gedenkfeiern, Riten, Verbote und Strafen begründet. In späteren Zeiten begann eine zunehmende Vermenschlichung des Totemtieres; Freud sieht die Ursache hierfür im Verdrängen und Vergessen der gemeinsamen Schuld sowie der Notwendigkeit, die Natur zu vermenschlichen und ihr so ihren Schrecken zu nehmen. (Freud 1988:250) Diese Götter tragen anfangs noch Merkmale des Totemtieres am Körper, werden mit der Zeit jedoch zunehmend menschlicher. Das kollektive Schuldgefühl kehrt nach einer Latenzzeit in das Bewußtsein der Menschen zurück, der Polytheismus wird abgelöst durch den Monotheismus, der “Urvater” wird in Form des verehrten und gefürchteten Gottes wieder eingesetzt und symbolisiert so die Erlösung von der Schuld. Dieser Gott ist gleichzeitig Symbol von Allmacht und Allwissenheit, Eigenschaften in denen sowohl Verehrung als auch Furcht verborgen liegen. Diese Gefühlsambivalenz konstruiert das Bild eines bedrohlichen und zugleich verehrten Gottes.
Der erschaffene Gott behält alle Eigenschaften eines Vaters bei. Er stellt eine Autorität dar, die Gebote und Verbote erteilt, aber dem hilflosen Kind, also nunmehr dem der Natur hilflos gegenüberstehenden Gläubigen, Schutz und Geborgenheit zu bieten vermag. „Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale“. (Freud 1930:49)
Frühzeitige seelische Vorgänge sowie das kollektive Trauma des Vatermordes schufen ein unbewußtes, tief im Unterbewußtsein verwurzeltes Schuldbewußtsein, aus dem heraus der Totemismus als Vorläufer der Religion entstand. Die eigentliche Funktion und Bedeutung blieb dem Individuum daher lange Zeit verborgen, statt dessen bildete sich im Laufe der Zeit ein religiöses System mit ganz anderen Funktionen heraus. Die dreifache Aufgabe der Religion ist es nun, “die Schrecken der Natur zu bannen, mit der Grausamkeit des Schicksals,..., zu versöhnen und für die Leiden und Entbehrungen zu entschädigen, die dem Menschen durch das kulturelle Zusammenleben auferlegt werden.” (Freud 1988:252)
So leitet Religion repressiven und „schmerzhaften“ Triebverzicht, bedingt durch das kulturelle Zusammenleben der Menschen, um in einen individuellen Lustgewinn, der die Kultur dem Menschen annehmbarer erscheinen läßt.
Des weiteren ermöglicht Religion nun eine Aussöhnung mit dem unabwendbaren Schicksal des eigenen Todes, indem sie diesen nicht mehr als Endpunkt jeglicher Existenz erscheinen läßt. So erfährt der bereits erwähnte Todes- und Destruktionstrieb eine Verringerung seiner Kraft zugunsten des Eros, dem der Sinn menschlicher Existenz, vermittelt durch religiöse Heilslehren, einen Auftrieb verschafft. Die Aufhebung des im Idealfall herrschenden Kräftegleichgewichts zu Gunsten des Eros beklagt Freud jedoch als Schwächung der menschlichen Widerstandskraft. Der Mensch habe sich mit der Religion ein „System von Wunschillusionen mit Verleugnung der Wirklichkeit“ (Freud 1988:281) geschaffen, dessen plötzliche Aufhebung ihn in eine traumatische Leere stürzen würde. Dennoch werden laut Freud Vernunft und Wissenschaft der Religion dauerhaft ihren Existenzanspruch streitig machen und den infantilen Menschen in die Realität zurückwerfen. (Freud 1988:292ff)
Triebstruktur und Kultur
Freud kennzeichnet das Verhalten der Menschen als permanentes Glücksstreben. Persönliche Glücksempfindung kommt auf zwei Wegen zustande, durch das Erlangen von Lustgefühlen sowie die Abwehr von Schmerz. Lustempfinden äußert sich zum einen in der Befriedigung des natürlichen Triebverlangens als auch in modifizierter Form in der bestmöglichen Anpassung der Triebwünsche an die Möglichkeiten der Umwelt.
Kultur, und deren Teilaspekt, die Religion, beides Produkte menschlicher Schaffenskraft, treten dem Einzelnen gegenüber eher feindselig entgegen, „da jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht“ (Freud 1988:242). Kultureller Fortschritt wirkt vorrangig als Antipode gegenüber den destruktiven Kräften der Natur. Freud nennt jedoch zwei Elemente, die asozialem Verhalten der Menschen entgegenwirken: äußere Zwänge im Frühstadium kultureller Entwicklung und deren allmähliche Ablösung durch zunehmende Verinnerlichung der überlieferten kulturellen Wertvorstellungen. (Freud 1988:243ff.) Die äußeren Zwänge werden dabei von einem Teil des psychischen Apparates, dem Über-Ich absorbiert und wirken in Form von Verhaltensvorschriften und Sanktionsandrohungen auf das vom Ich geleitete Verhalten des Menschen. Das Über-Ich fungiert hierbei als Gewissensinstanz. Triebbeherrschung und Gewissensschmerzen, die das Über-Ich dem Ich zufügt, werden jedoch durch einen parallel verlaufenden Lustgewinn wieder kompensiert. So erkennt der Mensch verinnerlichte Normen, religiöse Gebote und Werte als Eigenleistung an, der Glaube an die Richtigkeit dieser, die Einhaltung und deren Weitervermittlung an nachfolgende Generationen entspringen einem narzißtischen inneren Drang.
Triebansprüche des Kulturmenschen, speziell des heranwachsenden Kindes, werden demnach nicht durch rationale Vernunft beseitigt, sondern durch Verdrängung ins Unterbewußte gebändigt. Dieser Verdrängungsakt beruht nicht auf Freiwilligkeit, sondern auf Angst.
Religion und Gewalt
Stellt man Gewalt unabhängig von seinen Ursachen und Wirkungen rein vektoriell dar, so ergeben sich in Bezug zu einer Wertegemeinschaft 3 Richtungen, in die Gewalt abzielen kann: gegen die eigene Person, gegen Mitglieder der eigenen Gruppe und gegen Mitglieder anderer Gruppen. Gewalt ist jedoch in seinem kulturellen Zusammenhang fast immer eine interpersonelle Beziehung. So kann der Andere entweder Sexual- bzw. Liebesobjekt sein oder er ist Aggressionsobjekt, in manchen Fällen, ähnlich der Vater- Kind- Beziehung, stellt er beides dar.
Gewalt innerhalb von bzw. in Zusammenhang mit Religion tritt im Verlauf verschiedenster Stadien der Religionsausprägung auf. An ihrem Ursprung steht der kollektive Mord am Urvater und das anschließende gemeinsame Verzehren des Leichnams. Daraus resultierende Schuldgefühle führen zu einer Verinnerlichung der Aggressionsneigung. So verhilft Religion auf den ersten Blick einer Befriedung der Gesellschaft, sie regelt die menschlichen Beziehungen anhand von Verhaltensvorschriften und Wertvorstellungen.
Dehnt man den Begriff der Gewalt jedoch soweit, daß er die Unterdrückung triebhaften Verlangens, von Wünschen, Bedürfnissen und Handlungen mit aufnimmt, können ebenso religiöse und kulturelle Wertvorstellungen mit darunter fallen. Der Religionsbildung liegt die Unterdrückung und der Verzicht auf gewisse sexuelle und eigensüchtige Triebregungen zugrunde. Verbote mit starkem Zwangscharakter, deren Einhaltung eine hohe Gewissenhaftigkeit und Konzentration fordern, rufen bei Abweichungen Angstzustände und Schuldbewußtsein hervor.
Zumindest psychische Gewalt findet dann im Seelenleben des einzelnen Individuums in Form eines autoritären Über-Ich seinen Ausdruck, daß dem Ich unter ständiger Androhung eines schlechten Gewissen Verhaltensmaßregeln auferlegt und bei Abweichungen Sanktionen vollzieht. Freud erklärte anhand dieses Ablaufes das Entstehen von Aberglauben, einem wichtigen Stützpfeiler von Religion: “Aberglaube ist zum großen Teil Unheilserwartung und wer anderen häufig Böses gewünscht, aber infolge der Erziehung zur Güte solche Wünsche ins Unbewußte verdrängt hat, dem wird es besonders nahe liegen, die Strafe für solches unbewußte Böse als ein ihm drohendes Unheil von außen zu erwarten” (Freud 1919:291) So werden aus gesellschaftlich verpönten inneren Triebbegehren rasch Schuldgefühle, die Angst vor der Strafe tritt nicht nur einmalig auf, sondern sie manifestiert sich in Form einer dauerhaften Erwartungsangst der Zukunft. Heutzutage dürfte es jedoch aufgrund des modernen rationalen Verständnisses der Natur weitaus schwieriger sein, Gewissenskonflikte als äußere Bedrohung, sozusagen als „höhere Strafe“ anzusehen, der innere Konflikt erfährt somit ein noch stärkeres Potential.
Ein eher reales Problem stellt sich für die religiöse Gemeinschaft dar. Sie muß permanent auf Verhaltensabweichungen einzelner Gruppenmitglieder reagieren, um den Erhalt des Wertesystems weiterhin zu gewährleisten, muß sich jedoch gleichzeitig auch gegen äußere Gefahren wehren. Mit einem Anwachsen der religiösen Gemeinschaft und zunehmender Komplexität des religiösen Systems ergibt sich daraus ein Zustand von ständiger Selbst- und Fremdkontrolle. So schreibt Elias Canetti in seinem Buch „Masse und Macht“: “alle plötzlich verbotenen Religionen rächen sich durch eine Art von Verweltlichung: In einem Ausbruch von großer und unerwarteter Wildheit ändert sich der Charakter ihres Glaubens vollkommen,...” (Canetti 1960:26) Aus Friedensreligionen werden plötzlich Kriegsreligionen, angetasteter und in Frage gestellter Glaube wehrt sich gegen Verfall und Vernichtung.
Gustav LeBon nennt als Merkmal des religiösen Gefühls unter anderem die Bestrebung, die eigene Glaubenslehre zu verbreiten und alle als Feinde anzusehen, die sie nicht annehmen wollen. (LeBon 1939:55) Unduldsamkeit und Fanatismus seien Merkmale und Instrumente des Gläubigen, der sein eigenes Heil und Glücksbestreben an andere weitergeben muß. Daher müssen religiös gewordene Überzeugungen, und hier zählt LeBon ebenso politische Ideen hinzu, permanent expandieren, ansonsten unterliegen sie dem Schicksal des Vergessens. (LeBon 1939:56ff)
Dieser permanente Kampf der Religion gegen inneren und äußeren Glaubensverlust stellt demnach eine Notwendigkeit dar, sind doch Recht und Moral als Stützpfeiler der Kultur mitunter allein vom Glauben abhängig gemacht. Mit dem religiösen System steht und fällt unter Umständen auch das gesellschaftliche.
Religion vs. Gewalt
Nachdem ich die psychische Kraft aufgezeigt habe, die den Menschen zur Gewaltanwendung befähigt und verdeutlicht habe, wie nah diese Triebkraft mit dem Ursprung und der Funktionsweise von Religion verknüpft ist, stellt sich nun die Frage, inwieweit Religion mit dieser umzugehen vermag. Freud unterscheidet 4 verschiedene Arten der Abwehr gegen die Triebe, genannt Triebschicksale, von denen 3 für das Thema dieser Arbeit von Interesse sind: die Wendung des Triebes gegen die eigene Person, die Verdrängung des Triebes und die Sublimierung. (Freud 1984:238)
Sublimierung sexueller oder destruktiver Energien bedeutet eine Umleitung derselben hin zu produktiver Tätigkeit. Das individuelle Lustempfinden während der Auslebung des Triebes wird dabei umgeleitet auf das Objekt schöpferischer Tätigkeit, Aggression kann so auf gesellschaftlich tolerierte Wege umgeleitet werden. Das Triebschicksal der Sublimierung ist wesentlich für das Entstehen von Kultur verantwortlich. (Freud 1930:30ff) Innerhalb der Religion verdeutlicht es sich vor allem in den religiösen Geboten nach einem arbeitsamen, strebsamen Leben, in der Tugend des Fleißes sowie in Geboten der (sexueller) Mäßigung.
Triebverdrängung kennzeichnet das Verhalten des Neurotikers, dem Freud ähnliche Wesensmerkmale zugeschrieben hat wie dem Gläubigen. (Freud 1975:7ff) Dabei werden gefährdende oder tabuisierte Triebregungen ins Unbewußte abgeleitet, von wo sie jedoch einen ständigen Bedürfnisausdruck ausüben der sich erneut und in modifizierter Form in den Handlungen des Neurotikers widerspiegelt. Diese neurotischen Symptome stellen eine ersatzweise Befriedigung der unbewußten Bedürfnisse dar. Als Beispiel hierfür nennt Freud die christliche Kommunion, bei der der Leib des Gottes symbolisch verzehrt wird. Für Freud stellt diese Zeremonie eine Analogie zur gemeinschaftlichen Verzehrung des Urvaters dar. (Freud 1975:94) Der Wunsch nach einer verbotenen Handlung bleibt versteckt im Unterbewußtsein bestehen, das Ich erklärt sich lediglich zum Tatverzicht bereit. Triebverdrängung führt demnach nicht zu einer vollständigen Aufhebung des Triebverlangens, außerdem bedarf es eines hohen psychischen Kraftaufwandes innerer und äußerer Kräfte zur dauerhaften Unterdrückung ins Unbewußte, oftmals verbunden mit der Folge schwerer pathologischer Verhaltensschädigungen. Die „Zurückhaltung von Aggression ist (...) ungesund, wirkt krankmachend“. (Freud 1998:46)
Bei der Wendung des Triebes gegen die eigene Person vollzieht sich ein Wechsel des Objektes, auf den der Trieb ursprünglich abzielt. So kann sich der Haß auf eine bestimmte Person schließlich gegen die eigene Person richten. Ein „innerer Richter“ in Form des Gewissens entscheidet über Erlaubtes und Verbotenes und legt so Handeln und Denken fest, vermag es jedoch nicht, verbotene Gedanken und Triebregungen vollständig auszulöschen. So bleibt beispielsweise der Haß auf eine Person, etwa auf den Urvater der frühen Menschenhorde, weiter bestehen, jedoch richtet er sich infolge des erlassenen Gebotes gegen das eigene „schlechte“ Denken und somit die gegen die eigene Person.
Neben diesen eher aus dem Bereich des Psychologischen stammenden Möglichkeiten zur Gewaltbegrenzung bietet die Religion auch eine ganze Reihe von reellen Funktionen und Aufgaben die der Begrenzung von Gewalt dienlich erscheinen. Sie erleichtert und regelt die menschlichen Beziehungen untereinander, vermittelt in Folge einer langen Tradition das Gefühl von Gewohnheit und Sicherheit, bietet Trost und schafft letztendlich eine sittliche Weltordnung. So stellt Sigmund Freud versöhnlich fest: „...,die Religion hat der Kultur offenbar große Dienste geleistet, zur Bändigung der asozialen Triebe viel beigetragen,..., (Freud 1988:273).
Dennoch wendet er sich gegen Religion und deren Aufgabe einer moralischen Stütze der Gesellschaft. Religiöse Gebote und Moralvorstellungen führen nur zu affektivem Kulturgehorsam wohingegen auf Vernunft und Wissen beruhende Verhaltensvorschriften für Freud einen eher rationellen Charakter haben. Die Einsicht in die Richtigkeit und Logik dieser rationalen Verhaltensvorschriften müßte zu einer stärkeren Akzeptanz kultureller Werte führen, da den bisher religiös geprägten Moralvorstellungen ihr Zwangscharakter genommen wird. Religion wird dann ihrer Hauptaufgabe beraubt und somit überflüssig. (Freud 1988:282ff)
Religion und Ethik sind Folgen der Eigendynamik unbewußter Triebreaktionen. Das Wesen der Religion ist die Illusion des Menschen von Vorsehung und sittlicher Weltordnung, die der Vernunft widersprechen. Sobald die Vernunft des Menschen soweit gereift ist, daß sie die Selbstkontrolle und Regulierung des eigenen Trieblebens zuläßt, werde Religion überflüssig und schädlich. (Freud 1988:290)
Die Zukunft des Krieges
1932 führt Sigmund Freud in einem Brief an Albert Einstein 3 Gründe auf, die zukünftigen Kriegen entgegenwirken. (Freud 1988:411ff) Da ist zum einen die Vernunft und der zunehmende Intellekt, die sich beide im psychischen Apparat des Menschen im Ich manifestieren und dem Triebleben entgegenwirken. Freud führt in diesem Gedanken das aufklärerische Ideal fort, weist dem illusorischen System der Religion dabei jedoch wohl eher keinen eigenen Platz zu. Bildung und ein rationales Weltverständnis treten einem zu freizügigen Ausleben der natürlichen Triebe entgegen. Für Freud stellt sich das Ideal menschlichen Zusammenlebens in Form eines dem Ich vollständig untergeordneten Trieblebens dar.
Ein zweiter Punkt ist die Stärkung des Über-Ich als Gewissensinstanz und damit verbunden die Verinnerlichung natürlicher Aggressionsneigungen, die sich gegen das Ich und somit das eigene Handeln und Denken richten und insofern nicht mehr nach außen gerichtet sind; der Destruktionstrieb wandelt sich in den Todestrieb. Diese Aufgabe kann sowohl von Aufklärung als auch Religion gelöst werden; Religion als repressive moralische Instanz, Vernunft und Aufklärung als Einsicht in die Rationalität gesetzter Werte.
Des weiteren führen Technisierung und Ausbau der Kriegsmaschinerien zu einem zunehmend hilfloseren Agieren der aktiven Kriegsteilnehmer, Heldentum und die Möglichkeit der Externalisierung destruktiver Triebe werden somit zwangsläufig sinnlos und unmöglich.
Sigmund Freud schrieb diesen Brief wohlgemerkt 1932, mit den Erfahrungen und Erkenntnissen des ersten Weltkrieges jedoch ohne ein Wissen über die zukünftigen Ereignisse des darauffolgenden zweiten Weltkrieges. Daher steht zumindest seine zuletzt geäußerte Vorstellung von der Sinnlosigkeit zukünftiger Kriege aufgrund des unmöglich werdenden Heldentums einzelner Kriegsteilnehmer aus heutiger Sicht etwas hilflos da. In der Tat verdeutlichte der erste Weltkrieg mit seinen riesigen Materialschlachten eine zunehmende Verdrängung und Vermassung des nach Freuds Auffassung idealisierten Kriegshelden, auch stand die Überlebenschance des Einzelnen in einem schlechten Verhältnis zur Möglichkeit, destruktive Energien auf dem Schlachtfeld freizusetzen. Das bewahrte jedoch nicht vor der Tatsache eines nachfolgenden, vielleicht noch schlimmeren Weltkrieges.
Damit verbleiben also nur noch zwei Möglichkeiten der Kriegsvermeidung: Stärkung des Gewissens und Stärkung der Vernunft und, im Freudschen Idealfall, Stärkung des Gewissens durch die Vernunft. Um dies zu gewährleisten, weist Freud auf die Notwendigkeit der Verbesserung staatlicher Institutionen hin, die Aufklärung und Bildung ermöglichen sollen, auf daß der Mensch „nicht ewig Kind bleibe“ (Freud 1988:287).
Freud sieht kriegerische Auseinandersetzungen, seien sie nun religiöser oder politischer Natur, demnach nicht als Folgen eines im Menschen veranlagten destruktiven Triebes, der von Zeit zu Zeit losbricht. Potentielle Ursachen eines Krieges sind vielmehr realer Natur, sie sind zurückzuführen auf unfähige Institutionen und kulturelle Unzulänglichkeiten, in dem Sinn, daß Kultur nicht in der Lage ist, Konflikte friedfertig zu lösen. „Dem destruktiven Instinkt,..., weist Freud lediglich die Funktion zu, daß er den Menschen eher bereit zum kämpfen macht, nachdem der Krieg von den politisch Bestimmenden einmal beschlossen worden sei.“ (Preuschoft 1992:125)
Wenn es wahr ist, daß Krieg ausschließlich von Regierungen gemacht wird, dann kann Religion in zweifacher Weise die Politik und somit auch Entscheidungen über Krieg oder Frieden beeinflussen: entweder als Norm der Politik oder als Mittel der Politik. Steht sie der Politik als Norminstanz entgegen, läßt sich Gewalt durch sie begrenzen, wird sie jedoch von der Politik instrumentalisiert, werden politische Konflikten schnell zu religiösen Konflikten umgedeutet.
Literaturverzeichnis
Verwendete Primärliteratur:
Freud, Sigmund:
„Abriß der Psychoanalyse“ 6. Auflage
Frankfurt am Main < Fischer Taschenbuchverlag > 1998
„Das Unbehagen in der Kultur“
Wien < Internationaler Psychoanalythischer Verlag > 1930
„Der Mann Moses und die monotheistische Religion - Schriften über die Religion“
Frankfurt am Main < Fischer Taschenbuchverlag > 1975
„Essays - Auswahl 1920-1937“ Bd.3
Berlin < Verlag Volk und Welt > 1988
„Psychoanalyse - Ausgewählte Schriften“, 3. Auflage,
Leipzig < Reclam > 1984
„Psychopathologie des Alltagslebens“ 6. Auflage
Wien < Internationaler Psychoanalythischer Verlag > 1919
“Totem und Tabu”;
Frankfurt am Main < Fischer Taschenbuchverlag > 1991
Verwendete Sekundärliteratur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- Citation du texte
- Hendrik Bittorf (Auteur), 2002, Religion und Gewalt im Werk Sigmund Freuds, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107033
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