Inhalt
1.Erklärungsmodelle von Wahlverhalten
1.1. Soziologische Ansätze
1.2. Sozialpsychologischer Ansatz (Ann Arbor-Modell)
1.3. Rationales Wahlverhalten
2. Aktuelles Wahlverhalten in der BRD
3. Stichpunktartige Analyse der Bundestagswahl 1998
4. Probleme und Kritik an der Wahlforschung
1.Erklärungsmodelle von Wahlverhalten
1.1. Soziologische Ansätze
Die soziologischen Ansätze versuchen das Verhalten von Wählern auf Grund von Sozialstrukturen zu erklären. Hierbei werden zwei unterschiedlichen Modelle angewandt:
> das mikrosoziologische Erklärungsmodell (Columbia School, Paul Lazarsfeld)
> das makrosoziologische Erklärungsmodell. (Lipset und Rokkan)
Merkmale des mikrosoziologischen Modells:
| untersucht den Einfluss der unmittlebaren Umgebung des Wählers, seine Primärumwelt, also Familie, Berufskollegen, Freundeskreis
| Harmoniestreben des Einzelnen als grundlegendes Verhalten des Menschen, Gruppen- druck, Anpassung und die Kommunikation mit sog. Meinungsführern (z.b. der Vater in der Familie) führen dazu, dass bevorzugt die Partei gewählt wird, die im sozialen Umfeld des Wählers Präferenz genießt (Parteienpräferenz)
| Resultat: Gleiche Gruppenzugehörigkeit führt tendenziell zu gleichem Wahlverhalten.
| Die Kombination verschiedener Sozialfaktoren kann ein ziemlich exaktes Bild über die Wählerschaft einer Partei ergeben. Für die BRD ergeben sich z.b. folgendes Wählergruppierungen: CDU/CSU: (kath.) Kirchgänger, Mittelschicht, ohne gewerkschaftliche Bindung, auf dem Lande lebend
SPD: Facharbeiter, gewerkschaftlich gebunden, Nicht katholisch
Grüne/FDP: Stadt, höherer Bildungsabschluss, jung
Merkmale des makrosoziologischen Modells
| Es geht von grundsätzlichen Interessenskonflikten in einer Gesellschaft aus, die in einer Demokratie im Gleichgewicht gehalten werden müssen.
| Dabei lassen sich zwei grundlegende Cleavagetypen (cleave=spalten) unterscheiden:
1.Konflikte zwischen einem nationalen Zentrum und regionaler Peripherie (ethnische, territoreale, kulturelle Konflikte, z.b. Südtirol <-> Rom)
2. Sozioökonomische Konflikte oder Klassenkonflikt (Arbeiter <-> Unternehmer, Agrar <-> Industrieinteressen)
| Das Verhalten des Wählers ist nun abhängig von der Konfliktsituation in der er steht. Im ersten Konflikt wählt man (unabhängig von seiner sozioökonomischen Position) mit seiner Gemeinde, seiner Sprachgruppe, seiner Glaubensgemeinschaft usw. Typisches Bsp. war in der Weimarer Republik die kath. Zentrumspartei.
| In der BRD verlaufen die Hauptspannungslinien heute zwischen religiös orientierten Wäh- lern (eher CDU) und religiös abstinenten Wählern (andere Parteien) einerseits und zwischen Arbeitern (eher SPD) und Unternehmern/Selbständigen (eher CDU/FDP) andererseits.
Sowohl das mikro- als auch das makrosoziologische Modell erklären plausibel die Existenz von Kerngruppen, die einer Partei über Jahrzehnte die Treue halten und deshalb auch als die Stammwählerschaft einer Partei bezeichnet werden.
Allerdings werden Wahlen nicht nur durch Stammwähler gestaltet und entschieden. Die soziologischen Ansätze allein reichen also nicht aus, um das Wahlverhalten hinreichend zu erklären. Hierzu sind weitere Modelle als Ergänzung nötig. Ein ergänzendes Modell hierzu ist das Ann Arbor-Modell, welches einen sozialpsycholgischen Ansatz verfolgt.
1.2. Sozialpsychologischer Ansatz (Ann Arbor-Modell)
Merkmale:
| entwickelt an der University of Michigan in Ann Arbor
| Das Modell geht davon aus, dass die individuelle Wahlentscheidung das Ergebnis verschiedener langfristiger, d.h. vergangener und kurzfristiger, d.h. gegenwärtiger Einflüsse auf das Individuum ist. (Kausalitätstrichter, s. Abb. unten)
| Ausschlaggebend in diesem Modell ist die sog. Parteiidentifikation. Darunter versteht man eine psychologische Mitgliedschaft in einer Partei (im Gegensatz zur formalen Mitgliedschaft), die sich auf eine länger andauernde, gefühlsmäßig tief verankerte Bindung an eine bestimmte Partei begründet.
| Die Parteiidentifikation wirkt häufig als Filter bei der Wahrnehmung und Einschätzung kurzfristiger Ereignisse, d.h. die Bewertung solcher Ereignisse durch den Wählers ist durch die Identifkation "gefärbt". Man schaut durch seine "Parteibrille" die Ereignisse an.
| Die Partei mit der sich der Wähler identifiziert dient als pol. Bezugsgruppe, um im sehr komplexen Raum der Politik ohne großen Aufwand Orientierung zu finden. Dadurch wird Wahlverhalten kontinuierlich und trägt somit zu einer Stabilisierung des pol. Systems bei und macht die Wähler immun gegen extremistische Strömungen.
| Das Modell sieht auch Abweichungen von der längerfristigen Parteienbindung durch kurzfristige Einflüsse vor. Bedeutsam für solche Abweichungen sind die Orientierung des Wählers an Kandidaten, Problemen und Problemlösungskompetenz der Parteien. Der Wähler entscheidet dann kurzfristig an Hand dieser Parameter und wählt die Partei (oder den Kandidaten der Partei) von der er meint, dass sie die in seinen Augen dringensten Probleme (z.b. Arbeitslosigkeit) am Besten lösen kann.
Das Ann Arbor-Modell
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.3 Rationales Wahlverhalten
Merkmale:
| Methode aus der Ökonomie, von A.Down 1957 entwickelt
| These: Die Menschen handeln egoistisch, indem sie v.a. ihr materielles Wohlergehen zu maximieren versuchen.
| auf das Wählerverhalten bezogen: Die Menschen wählen die Partei, von der sie den größten Nutzen erwarten. Gibt es keine Alternativen im Parteienspektrum,die einen größeren Nutzen für den Wähler erkennen lassen, so wählen sie nicht.
| In der ursprünglichen Fassung wird diese These heute nicht mehr vertreten. Die Wähler entscheiden nicht ausschließlich nach ihren persönlichen materiellen Interessen. Trotzdem gibt es in der BRD zahlreiche Beispiele die rationales Wählerverhalten zeigen:
> Stimmensplitting: In den 70er Jahren erhielt die FDP zahlreiche Zweitstimmen von Wäh- lern die der SPD nahe standen. In den 80er und 90er Jahren erhielt sie die Zweitstimmen von CDU-nahen Wählern. Dieses Wahlverhalten wird als rational bezeichnet, da es einen Koaliti- onswunsch ausdrückt. Aus taktischen Gründen wird nicht die erste Parteipräferenz gewählt.
> Rationale Protestwähler am Bsp. der Republikaner: Es wird eine Partei gewählt, die kaum eine Machtchance hat, die aber sehr wohl die großen Parteien zwingt ihre Politik zu verän- dern, um das Anwachsen der Extreme zu verhindern. Der rationale Wähler erreicht somit in- direkt eine Änderung der Ziele "seiner" Volkspartei. Als der Asylkompromiss 1993 verab- schiedet war und dadurch die Zunahme der Asylbewerber gestoppt wurde, schmolz das Wäh- lerpotential der Republikaner auf ihre Kernwählerschaft zusammen, so dass die Republikaner heute keine große Rolle mehr spielen.
> 5-Prozent-Hürde: Viele neuen Parteien werden von vornherein nicht gewählt, weil der Wähler ganz rational damit rechnet, dass eine neue Partei nicht in ein Parlament einziehen kann und so seine Stimme u.U. verloren ist.
2. Aktuelles Wahlverhalten in der BRD
Die o.g. Modelle, die v.a. von langfristiger und struktureller Art sind, reichen heute nicht mehr aus, um das Wahlverhalten in der BRD befriedigend zu erklären. So stieg die Anzahl der Wechselwähler kontinuierlich von 11% im Jahre 1961 auf 41% 1990.
Folgende Ursachen können dafür angeführt werden:
| kontinuierlicher Rückgang der Kernwählerschaft der Parteien durch
a) Auflösung von klassischen Sozialmilieus (heute gibt es z.b. mehr Angestellte wie Arbeiter)
b) Rückgang der Parteiidentifikation
c) Individualisierung aller Lebensbereiche und damit Abnahme von Gruppendruck
| Zunahme von situationsbezogenem Wahlverhalten, d.h.:
a) verstärkte Kandidatenorientierung - Bsp.Bundestagswahl 1994/1998
b) verstärkte Aufmerksamkeit des Wählers auf aktuelle Probleme und Problemlö- sungskompetenz der Parteien
3. Stichpunktartige Analyse der Bundestagswahl 1998
| Probleme und Problemlösungskompetenz: Vorsprung der SPD vor CDU, v.a. Wirtschaft und Schaffung von Arbeitsplätzen
| starke Kanzlerkandidatenorientierung mit deutlichem Wunsch nach einem Wechsel
4. Probleme und Kritik an der Wahlforschung
| Es kann zu Fehlprognosen und damit zu Fehleinschätzungen kommen. Ursachen für fehlprognosen:
> geringe Anzahl der befragten Personen in einer Stichprobe (ca.1000-2000)
> zunehmende Verweigerung an Umfragen teilzunehmen führen zu Verzerrungen (v.a. in Großstädten und alleinstehende ältere Menschen verweigeren die Mitarbeit, man rechnet pro Umfrage mit einem Ausfall von einem Drittel)
> Phänomen des "last minute swing": Meinungänderung zwischen Umfrage und Wahl
> noch nicht festgelegte Wähler verzerren Resultate erheblich
| Es besteht die Gefahr das Umfrageergebnisse politisch ausgenutzt werden.. Aktuelles Beispiel fand man bei der russichen Dumawahl in diesem Monat, als regierungsnahe Medien zweifelhafte Umfrageergebnisse veröffentlichten, die die stärkste Oppositionspartei weit abgeschlagen hinter dem Regierungslager sah. Offensichtlich sollte der Eindruck vermittelt werden: Es lohnt sich nicht die Opposition zu Boris Jelzin zu wählen, weil sie keine Machtchance hat. Die Stimmen für die Opposition seien verlorene Stimmen.
| Weiterhin wird diskutiert inwieweit Umfragen, die ja ursprünglich als Spiegel der öffentlichen Meinung gelten sollen, ihrerseits wiederum durch Veröffentlichung der Ergebnisse die öffentliche Meinung beeinflussen.
| Ein weiteres Problem von Meinungsumfragen und Wahlforschung sind deren Auswirkungen auf die aktuelle Politik. Es wird die Frage diskutiert, inwieweit sich Politiker durch Feststellung der oft sehr schwankenden öffentlichen Meinung in Umfrageergebnissen in ihren Entscheidungen beeinlfussen lassen - quasi ein Regieren auf Grundlage von Umfragetrends, welches unpopuläre, aber vielleicht notwendige Maßnahmen nahezu ausklammert.
Literatur
W.Rudzio: Das pol. System der BRD, 4.Auflage
D.Roth: Empirische Wahlforschung, Opladen 1998
Aus Politk und Zeitgeschichte:
> Methodische Probleme von Wahlforschung und Wahlprognose, Okt.89
> Wer zu spät geht, den bestraft der Wähler, Dez.98
> Erklärungsmodelle von Wählerverhalten, Sept.90
U.Andersen: Handwörterbuch des pol. Systems der BRD, Bundeszentrale
- Citar trabajo
- Kai Braun (Autor), 2000, Wahlsoziologie - Wählerverhalten - Wer wählt wen warum ?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106911
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