Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Essers Grundannahmen
a) Das RREEMM- Modell
b) Die Tiefenerklärung
c) Die Brückenhypothesen
3. Die Logik der Situation
4. Die Logik der Selektion
5. Die Logik der Aggregation
6. Warum sieht Esser die RC Theorie als so gelungen an?
7. Wogegen wendet sich Esser?
8. Kritik Srubars an Essers Ansatz
9. Meine Einschätzung der RC- Theorie
10. Literaturliste
1. Einleitung
In den letzten Jahren hat der Rational Choice Ansatz eine sehr hohe Aufmerksamkeit erlangt. Selbst in den Theorien internationaler Beziehungen wird versucht das RC- Modell im Rahmen der Spieltheorie anzuwenden, um Verhaltensweisen von Staatsmännern und internationalen Institutionen zu erklären. Ein bedeutender Verteter dieser Theorie in der BRD ist Hartmut Esser. Sein Ansatz soll im folgenden erläutert werden.
2. Essers Grundannahmen
a) Das RREEMM- Modell
Esser sieht das Modell Lindenbergs am ehesten geeignet den Menschen zu beschreiben. Der Mensch wird dargestellt als Resourceful, Restricted, Expecting, Evaluating, Maximizing Man (RREEMM). Das meint, daß der Mensch sich „Handlungsmöglichkeiten, Opportunitäten bzw.
Restriktionen ausgesetzt sieht“1, Erwartungen hat, Bewertungen vornimmt, nach Maximierung strebt, und Findigkeiten besitzt um neue Lösungswege beschreiten zu können. Für Esser sind die Modelle homo oeconomicus und homo sociologicus nicht geeignet soziologische Erklärungen geben zu können, da diese unvollständig sind. Beim homo sociologicus fehlt eine „explizite und präzise Selektionsregel für das Handeln“2 und der Mensch wird zusehr durch internalisierte und externe Sanktionen beschränkt. Beim homo oeconomicus sind die Bewertungen abhängig von der Annahme der perfekten Information und der Stabilität und der Unabhängigkeit institutioneller Besonderheiten, was dazu führt, daß homo oeconomicus nicht fähig ist zu lernen und Situationen nicht anhand von objektiven Gegebenheiten definieren kann.3
Für Esser entspricht das Modell des RREEMM am ehesten den „wichtigsten Aussagen der Anthropologie zur conditio humana“4. Diese beruhen auf Marx, der die materiellen Restriktionen betont, an Mead, der den menschlichen Wahrnehmungs- und Kommunikationsapparat als Grundlage der Koordination menschlicher Gemeinschaften erkannt hat, an Gehlen, der festgestellt hat, daß der Mensch sich durch seine Handlungen seiner Umwelt anpasst und an Berger/Luckmann, für die Sprache und Wissen notwendig für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ist. Diese anthropologischen Grundannahmen sind für Esser „wichtige und allgemeine Elemente der Modellierung sozialer Prozesse“5.
b) Die Tiefenerklärung
Für Esser ist es wichtig vertiefende soziologische Erklärungen zu geben. Das ist für ihn „das Grundmodell der soziologischen Erklärung“6 Ein Phänomen auf der Makroebene wird nach diesem Modell damit erklärt, indem in der Analyse auf die Mikroebene des Akteurs gegangen wird. Dort analysiert der Akteur die besonderen Umstände der Situation, aus der heraus dann seine Handlung entsteht, die aufgrund einer Selektion erfolgt. Die Auswirkungen dieser Handlung führen dann zu einem kollektiven Effekt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten7
Das strukturelle Gesetz (d) wird mittels der drei Schritte der Logik der Situation (a), der Logik der Selektion (b) und der Logik der Aggregation (c) interpretiert und „tiefenerklärt“8. Auf diese drei Logiken wird später noch gesondert eingegangen.
Für Esser gibt es zwei Gründe für diese Methode der Erklärung. Zum einen widerlegt die Empirie die zwei „Paradestücke der Makro- Soziologie -das Eherne Gesetz derOligarchie von Michels und das Kontraktionsgesetz der Familie von Durkheim“9. Die empirische Wirklichkeit zeigt, daß gewisse Organisationen sich gegen das Eherne Gesetz der Oligarchie wehren und „in Japan [...] die Familie keineswegs auf das mitteleuropäische Maß geschrumpft“10 ist. Diese Tatsache wird bei den Statistikern als „Problem der unbeobachteten Heterogenität bzw. [...] [als] unkontrollierte [Stör]Variable“11 bezeichnet.
Zum anderen bleibt, in Berufung auf die verstehend- erklärende Soziologie, eine Erklärung „ohne die Vertiefung auf die Mikroebene der Akteure und des sozialen Handelns „unverständlich““12. Nur wenn die Akteure mit berücksichtigt werden ist es den Sozialwissenschaften möglich den Sinn in den Erklärungen zu berücksichtigen.
c) Die Brückenhypothesen
Essers Ausweg aus der Unvollständigkeit der makro- soziologischen Erklärungen sind in den Brückenhypothesen zu sehen. Diese müssen, nach den Kriterien für die Modellierung von soziologischen Tiefenerklärungen von Lindenberg und Wippler, möglichst unkompliziert formuliert werden können. Durch Brückenhypothesen kann die „Wirkung spezieller sozialer Bedingungen auf das Handeln von Personen“13 erklärt werden. Somit wird der „Zusammenhang zwischen der individuellen Handlungssituation und der Ausgangssituation auf der Makroebene“14 genauer definiert. Die Handlungsmöglichkeiten werden bestimmt durch die Einbettung der Interaktionsbeziehungen in eine rechtliche Ordnung, institutionelle Regelungen oder den sozialen Kontext. Dadurch werden die Handlungsspielräume bestimmt, die Handlungszwänge gesetzt und Handlungsmöglichkeiten geboten15. Brückenhypothesen können nie allgemein sein, sie werden von Fall zu Fall angepaßt. Somit wird dem Problem der Unvollständigkeit entgegengetreten. Esser sagt: „Immer, wenn die unter den Brückenhypothesen angegebenen Bedingungen erfüllt sind, ist der entsprechende Prozeß zu erwarten.“16
3. Die Logik der Situation
Wie unter 2.b schon erwähnt, bedarf es bei der Erklärung eines strukturellen Gesetzes einer Tiefenerklärung. Jede einzelne Logik, innerhalb der Tiefenerklärung, „hat andere Problemstellungen zum Gegenstand“17. Um eine umfassende Erklärung eines soziologischen Phänomens zu erhalten, ist es unabdingbar die Kombination aller drei Logiken zu betrachten. Im folgenden wird die erste der drei notwendigen Logiken, die Logik der Situation, erklärt werden. Es wird in dieser Logik untersucht in welcher objektiven und subjektiven Situation sich die typischen und relevanten Akteure in einem gegebenen sozialen Gebilde befinden. Hierbei werden auch die für den Akteur zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen, die ihn begrenzenden Restriktionen und seine Präferenzen erfaßt. In der Analyse der Situation werden dann auch die Brückenhypothesen erstellt, die den Bezug zwischen der Makro- und der Mikroebene herstellen. Notwendig bei der Rekonstruktion der Situation ist es, daß die „historisch- institutionellen Besonderheiten des jeweiligen Interaktionssystems“18 detailliert und weitestgehend vollständig beschrieben werden. Damit die Deskription vollständig sein kann ist es erforderlich „neben der Kenntnis der institutionell- historischen Details auch eine gewisse Vertrautheit mit Modellen typischer Interdependenzstrukturen, z.B. aus der Spieltheorie und der Netzwerkanalyse“19 zu nutzen. Aus der Analyse heraus ergibt sich dann der nächste Schritt, die Logik der Selektion.
4. Die Logik der Selektion
In dieser Logik wird versucht das individuelle Handeln zu erklären. Die Logik der Selektion verbindet die Akteure in ihrer jeweiligen Situation mit der Auswahl einer Handlung aufgrund der Situation in der sie sich befinden. Diese Logik „ist der analytisch- nomologische Kern des gesamten Modells. Nur mit diesem Kern wird das Ganze eine richtige „Erklärung““.20 Um die Handlungen am angemessendsten zu beschreiben verweist Esser auf die sogenannte „subjective expecting utility“- Theorie (SEU) oder auch Wert- Erwartungs- Theorie genannt. Diese Theorie entstammt der Forschung aus der Psychologie, der statistischen Entscheidungstheorie und bestimmten soziologischen Handlungserklärungen. SEU erfüllt die von Esser aufgestellten Anforderungen:
Die Handlungstheorie muß
a) „systematisch auf die Erwartungen und Bewertungen der Akteure bezogen sein“21.
b) „eine Beschreibung der Situation über diese beiden Variablen zulassen“22.
c) das „subjektive Wissen und die subjektive Werte der Akteure“23 beinhalten.
d) Soziale Vorgänge berücksichtigen.
Die Handlungsauswahl läßt sich in drei Schritte zerlegen:
a) Kognition der Situation
b) Evaluation der Konsequenzen einer Handlung
c) Selektion einer bestimmten Handlung
In der Kognition erfolgt eine Reflexion des Akteurs über die Situationsumstände und seine Wahrnehmungen, außerdem werden seine Erinnerungen und Assoziationen bedeutsam. Hierbei werden auch die individuellen Erwartungen in Form von Wahrscheinlichkeiten strukturiert. Bei der Evaluation kommt dann das SEU Modell zum tragen. Der Akteur bewertet die Alternativen in Hinblick auf die eigenen Präferenzen und er „berechnet“ Wahrscheinlichkeiten mit der eine bestimmte Handlung zu einem bestimmten Ergebnis führt. SEU geht davon aus, daß ein Akteur seine Handlung so auswählt, daß für ihn die Nutzenerwartung maximiert oder die Kosten minimiert werden. „Dieser Prozeß der Kalkulation der SEU- Werte bildet den Kern der Theorie“.24 Esser stellt diese Überlegung anhand einer Formel dar. Danach gibt es immer eine Anzahl von bewertbaren „Zielsituationen“25, die mit U1, U2, ..., Uj,..., Un.bezeichnet werden. Hinzu kommt ein Satz an Handlungsalternativen, die mit A1, A2, ..., Ai, ..., An genannt werden. Die Handlungsalternativen sind mit den Zielen über eine Wahrscheinlichkeitswert p verbunden, mit dem eine Handlung zu einem Ziel führen kann. Auch hier gilt wieder p11, ..., pij,..., pmn. Die Wahrscheinlichkeiten variieren zwischen 1, d.h. Ziel wird sicher erreicht, und 0, d.h. Ziel wird sicher nicht erreicht. Es erfolgt nun beim Akteur eine Gewichtung der verschiedenen Handlungen mit den Zielen und den dazugehörigen Wahrscheinlichkeiten. Dies läßt sich in Form eines Produktes angeben: Ai = pij * Uj . In Worten meint dies: eine Handlung Ai erfolgt nur dann, wenn das Ergebnis Uj hoch bewertet wird und wenn dieses Ergebnis mit einiger Wahrscheinlichkeit (Idealfall: pij = 1) zu erwarten ist. In der Phase der Evaluation wird für jede Handlungsalternative ein solches Produkt aufgestellt und die Ergebnisse miteinander verglichen. Es wird dann, in der Phase der Selektion, nach dem „Kriterium der Maximierung der subjektiven Nutzenerwartung“26, die Handlung ausgewählt, die den höchsten Produktwert von pij * Uj erbringt. Es kann aber durchaus vorkommen, daß die Kognition des Akteurs „unter Bedingungen extrem eingeschränkter Fähigkeiten der Informationsverarbeitung [...] stattfindet.“27 Hierbei greift der Akteur auf das Konzept der Schemata zurück. Dazu gehören Stereotype, Wissensstrukturen von Gegenstandsmerkmalen und Beziehungen zwischen diesen Merkmalen. Schemata stellen sich im Alltagshandeln durch „Normen, Rollen und Institutionen“28 ganz explizit dar. Auch im Bereich der Evaluation gibt es Einschränkungen, die sich hier als Habits und Frames darstellen. Habits sind „Bündel von Handlungssequenzen und die Orientierung der Wahl auf ein in der Situation dominantes Ziel“29 wird als frame bezeichnet. Habits beinhalten Daumenregeln, Routinen und Rezepte ohne nähere Überprüfung. Bei der Anwendung eines Habits findet keine bewußte Auswahl der Handlung mehr statt. Die Handlung erfolgt in der bekannten Situation so, wie sie sich vorher, in der gleichen oder einer ähnlichen Situation, bewährt hat. Frames sind Vereinfachungen in der Struktur der Ziele. Es können dabei Ziele außer acht gelassen werden, wenn ein Ziel schon den Erwartungen des Akteurs entspricht, auch wenn dieses Ziel nicht das absolute Maximum darstellt. Schematas, Habits und Frames faßt Esser unter dem Begriff „abnehmende Abstraktion“ zusammen. Laut Esser widerlegen diese Annahmen der abnehmenden Abstraktion das RC- Modell nicht. Die Modellierung der Situation wird zwar dadurch komplexer, aber auch realistischer. Es wird hierbei lediglich auf der Seite des Akteurs zuerst eine Auswahl getroffen, ob ein Habit oder ein Frame Anwendung findet oder nicht. Dann wird die „eigentliche Entscheidung getroffen“30. Wie diese einzelnen Handlungen sich auf die Makroebene auswirken soll in der Logik der Aggregation nachfolgend erklärt werden.
5. Die Logik der Aggregation
Hierbei „wird die Mikro- Makro- Verbindung des Modells zurück auf die Ebene der kollektiven Phänomene hergestellt.“31 Es werden Tiefenerklärungen, die innere Mechanismen aufdecken, die zu strukturellen und prozessualen Differenzen führen, mit verstehender Analyse und historisch- genetischen Erklärungen verknüpft. Die Art der Aggregation ist abhängig von den inhaltlichen Problemstellungen. Jedes soziologische Phänomen kann eine besondere Art der Aggregation benötigen. Sie kann erfolgen durch „Berechnung von Raten; Ableitung von Gleichgewichten; die Modellierung eines selbstverstärkenden Wachstums; und vieles andere mehr.“32
6. Warum sieht Esser die RC Theorie als so gelungen an?
Esser konstatiert, daß das Ziel einer „jeden sozialwissenschaftlichen Analyse [...] die Erklärung des zur Untersuchung anstehenden Problems“33 ist. Dies verlangt eine genaue Beschreibung und den Verweis auf ein „universales“ Gesetz. In der Soziologie wurde lange Zeit nur der makrotheoretische Ansatz als geeignet betrachtet solche Gesetze zu finden. Mittlerweile habe ein Betrachtungswandel stattgefunden, der die Erklärung gesellschaftlicher Phänomene bzw. des „nomologischen Kerns“34 nur auf der Mikroebene verortet. Für Esser ist der RC- Ansatz am ehesten geeignet, in der Betrachtung der Handlungen von Akteuren, makrosoziologische Phänomene zu erklären, da innerhalb der drei oben beschriebenen Logiken, soziale Prozesse in möglichst einfachen Modellen zusammengefaßt werden können. Der Ansatz sei auch deswegen so gut geeignet, da er „anschlußfähig und offen ist“35.Er integriere Erklärungsmuster anderer Disziplinen und lasse auch für weniger beachtete soizologischen Paradigmen Raum und ermögliche es diese systematisch mit einzubeziehen. In diesem Ansatz sei es auch möglich die „Subjektivität ( als Besonderheit der Sozialwissenschaften) unter Anwendung einer >objektiven< Methode“36 zu berücksichtigen. Schließlich ist das verwendete Menschenbild des RREEMM, das dem Modell zugrund liegt hervorragend dafür geeignet zu zeigen, daß es ein Ende hat „mit dem Akteur als einem >kulturellen< oder >psychologischem Deppen<, der -sei es als Sklave von Verstärkungserlebnissen, als Knecht der Normen- und Rollenstruktur der Gesellschaft, als Marionette seiner perfekten Information und konsistenten Präferenzen oder als bloße störende >Umwelt< der sozialen Systeme -von der soziologischen Theorie immer eher als Material des Geschehens statt als sein - wenngleich oft sehr indirekt beteiligter - Gestalter gesehen wurde und dessen eigene Ansichten und >wirkliche< Befindlichkeit die Soziologen [...] nur am Rande interessierte.“37
7. Wogegen wendet sich Esser?
Zuerst macht sich Essesr Kritik an der reinen makrosoziologischen Erklärung von soziologischen Phänomenen fest. Zum einen haben sich bisher keine allgemeinen Zusammenhänge auf der Makroebene finden lassen, die soziale Phänomene eindeutig erklären. Zum anderen ergibt sich immer wieder das Problem der Unvollständigkeit, welches von den Statistikern als das „Problem der unbeobachteten Heterogenität bzw das der unkontrollierbaren [>Stör<-]Variablen“38 bezeichnet wird. Diese Unvollständigkeiten ergeben sich aus der extrem hohen Variabilität und Instabilität in der Art der Regelung sozialer Beziehungen mit denen Menschen Probleme lösen.
In der Erläuterung seines handlungstheoretischen Kerns bezieht sich Esser auf die fünf Kriterien von Tiefenerklärungen von Wippler und Lindenberg. Demnach müssen:
- Modelle erstellt werden, welches typische Situationen mit typischen Erwartungen und typischen Mustern von Handlungsalternativen verknüpft.
- Brückenhypothesen möglichst unkompliziert erstellt werden können.
- Erkenntnisse über Handlungstheorien Eingang in die Logik der Selektion finden.
- die Handlungstheorien zugunsten einer realistischeren Darstellung erweitert werden können.
- die Handlungstheorien „gut bestätigt sein und systematisch berücksichtigen, daß Menschen findig, kreativ und initiativ sind.“39
Die Validität als ein weiteres Kriterium wird von Esser noch hinzugefügt.
Aus diesen Kriterien heraus kommen für Esser einige Varianten der Handlungstheorien zur Erklärung nicht in Frage. Die klinische Psychologie sei zu kompliziert und läßt die Erstellung einfacher Brückenhypothesen nicht zu. Die Handlungstheorie der neoklassischen Ökonomie seien für die Erstellung von Brückenhypothesen, aufgrund ihrer Annahme der statischen Präferenzen, zu inflexibel. Die Rollentheorie determiniere das Handeln der Menschen zu sehr auf Normen und ließe außer acht, daß der Mensch sehr wohl initiativ, kreativ und findig ist. Zu letzt seien die interaktionistischen Handlungstheorien „nicht präzise und systematisch genug“40, da sie im Mittelpunkt der Betrachtungen „gerade die Initiative und Kreativität der Menschen“41 haben.
8. Kritik Ilja Srubars an Essers Ansatz
„Eine universale Begründung sozialwissenschaftlicher Erklärung der Konstitution sozialer Ordnung kann [...] das RC- Modell kaum leisten, weil es einen großen Teil der Selektionsprozesse, die soziale Ordnung konstituieren und auf Dauer stellen, nicht abdeckt bzw. verhüllt.“42 Esser versucht zwar, laut Srubar, durch das Modell des RREEMM dem Vorwurf eine Soziologie ohne Sinn zu betreiben zu entgehen, scheitert aber daran, daß selbst dieses Modell die „intersubjektiv entstehenden Sinndimensionen sozialer Realität [...] unter die Selektivität subjektiver Nutzenmaximierung“43 zwingt. Auch bei der Aggregation sieht Srubar die Reduktion der Handlungen auf Nutzenmaximierung als problematisch an. Das „Mysterium der Aggregation“44 in Essers Ansatz läßt das Geheimnis der „unsichtbare[n] Hand“45, das eines der Hauptgegenstände der Soziologie ist, zwar erkennen wird „aber nicht gelüftet.“46 Diese Problematik läßt sich am ehesten auf der Ebene des sozialen Handelns erklären. Dazu ist es aber notwendig, daß der Ansatz der subjektiven Kalkulation verlassen wird und der Augenmerk auf die intersubjektiven Erwartungen und Handlungsorientierungen gerichtet wird, die auf den, durch „Interaktion entstehende[,] Verkettungen von Handlungsanschlüssen“47 basieren. Auf dieser Ebene wird der Akteur aber von „kommunikativen Prozessen und institutionalisierten Resultaten“48 abhängig. Er hat „die Sinnorientierung seines Handelns nie allein in der Hand.“49 Für Srubar geht die Klärung der Auswahl der Handlung durch das RREEMM- Modell nicht weit genug. Seiner Ansicht nach muß „die Konstitution dieser im sozialen Handeln entstehenden Selektivität geklärt“50 werden, damit die Sinndimension einer soziologischen Theorie mit erfaßt ist. Für eine angemessenene Transformation von individuellem Handeln in kollektive Effekte ist es aber notwendig, „Kenntnis der Geltung von Regeln und Konventionen, die den Sinnrahmen von Situationen angeben“51 zu haben. Dies ist durch den alleinigen Bezug auf eine Nutzenmaximierung nicht möglich. Srubar führt dazu aus: „[...] der Anspruch, eine rational beherschbare Handlungsmechanik zu entwickeln, [führt] notwendigerweise innerhalb ihres ökonomistischen Erklärungskerns zu Aporien“52.
9. Meine Einschätzung der RC- Theorie
1991 veröffentlichte Esser sein Buch „Alltagshandeln und Verstehen“. 1993 erschien „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“. In diesem Buch argumentiert er, in weiten Teilen, genau wie in der Veröffentlichung von 1991, ohne allerdings ein einziges Mal den Begriff Rational Choice zu benutzen. Er „verkauft“ somit seine RC- Theorie unter der Begrifflichkeit „Allgemeine Grundlagen“ der Soziologie. Das empfinde ich als eine Irreführung.
Desweiteren fiel mir auf, daß er, gerade in „Alltagshandeln und Verstehen“, sehr viel mit mathematischen Formeln arbeitet. Dies erscheint mir als der verzweifelte Versuch seiner Theorie den Anschein einer „echten“ Wissenschaft zu geben. Dies wird für mich auch in der Aussage belegt, daß es bestimmte „Kontrollen zur Einhaltung bestimmter methodologischer und theoretischer Standards, wie sie in anderen (Nachbar-) Disziplinen üblich seien“53 geben muß. Soweit zu den formalen Auffäligkeiten.
Inhaltlich sind mir auch verschiedene Unschlüssigkeiten aufgefallen. Esser läßt den Bereich des emotionalen Handelns vollkommen außen vor. Dies läßt sich m.E. nach nicht mit rationalen bzw. nutzenmaximierenden Ansätzen erklären. Außerdem fiel mir auf, daß er auf die Unzulänglichkeit reiner makrosoziologischen Erklärungen verweist, er selbst bleibt aber in der Erläuterung der Logik der Aggregation sehr vage. Dies ist m.E. nach das Hauptthema jeglicher soziologischen Erklärung. Es wird für mich nicht ersichtlich, wie sich durch die aggregierten Handlungen von Individuen gesellschaftliche Zusammenhänge erklären lassen und wie diese ihrerseits die neuen Rahmenbedingungen für die Logik der Situation bilden sollen. Da schliesse ich mich der Argumentation Srubars an wenn er sagt, daß die Theorie dazu dienen kann „unreflektierte Annahmen über Entscheidungsprozesse aufdecken [kann] und ihre theoretischen Konsequenzen[...] formal aufzuhellen vermag.“54 Ansonsten ist die RC- Theorie für mich nicht ausreichend gesellschaftliche Phänomene hinlänglich zu erklären.
Literaturliste:
Abraham, Martin, Rational Choice-Theorie und Organisationsanalyse. Vortrag auf der Tagung der Arbeitsgruppe „Organisationssoziologie“, 23/24. März 2001 an der Universität Bielefeld.
Esser, Hartmut, Alltagshandeln und Verstehen. Tübingen 1991.
Esser, Hartmut, Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/Main 1993.
Männel, Beate, Die Grenzen des Rational Choice- Paradigmas vor dem Hintergrund der
Pluralisierung der Lebenswelten. In: Wittener Diskussionspapiere 41, 1999.
Srubar, Ilja, Die (neo-) utilitaristische Konstruktion der Wirklichkeit. In: Soziologische Revue 17, 1994.
Treibel, Annette, Einführung in die soziologische Theorie. Opladen 2 1994.
[...]
1 Esser, Hartmut, Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/Main 1993, S. 238.
2 ebd. , S. 236.
3 siehe ebd. , S. 237.
4 ebd. , S. 239.
5 siehe ebd. , S.245.
6 ebd. , S. 98.
7 ebd. , S. 98.
8 ebd. , S.100.
9 ebd. , S.101.
10 ebd. , S. 101.
11 Esser, Hartmut, Alltagshandeln und Verstehen. Tübingen 1991, S. 40. 4
12 Esser, Hartmut, Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/Main 1993, S. 102.
13 Esser, Hartmut, Alltagshandeln und Verstehen. Tübingen 1991, S. 44.
14 Abraham, Martin, Rational Choice-Theorie und Organisationsanalyse. Vortrag auf der Tagung der Arbeitsgruppe „Organisationssoziologie“, 23/24. März 2001 an der Universität Bielefeld, S. 2.
15 siehe ebd. , S. 2
16 Esser, Hartmut, Alltagshandeln und Verstehen. Tübingen 1991, S.43.
17 ebd. , S. 46.
18 ebd. , S. 46.
19 ebd. , S. 47.
20 Esser, Hartmut, Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/Main 1993, S. 95
21 ebd.
22 ebd.
23 ebd.
24 ebd. , S. 54.
25 ebd.
26 ebd. , S. 55.
27 ebd. , S. 62.
28 ebd. , S. 63.
29 ebd. . S. 64.
30 ebd. , S. 66.
31 Esser, Hartmut, Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/Main 1993, S. 97
32 ebd.
33 Esser, Hartmut, Alltagshandeln und Verstehen. Tübingen 1991, S. 1.
34 ebd. , S. 2.
35 ebd. , S. 3.
36 ebd. , S. 6.
37 ebd. ; S. 97.
38 ebd. , S. 40.
39 Esser, Hartmut, Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt/Main 1993, S. 139.
40 Esser, Hartmut, Alltagshandeln und Verstehen. Tübingen 1991, S. 51
41 ebd.
42 Srubar, Ilja, Die (neo-) utilitaristische Konstruktion der Wirklichkeit. In: Soziologische Revue 17, 1994. S. 120.
43 ebd. , S. 117.
44 ebd.
45 ebd.
46 ebd.
47 ebd. , S. 118
48 ebd.
49 ebd.
50 ebd.
51 ebd.
52 ebd. , S. 119
53 Esser, Hartmut, Alltagshandeln und Verstehen. Tübingen 1991, S. 1
54 Srubar, Ilja, Die (neo-) utilitaristische Konstruktion der Wirklichkeit. In: Soziologische Revue 17, 1994. S. 120. 12
- Citation du texte
- Stefan Zeitz (Auteur), 2002, Rational Choice - Hartmut Essers Ansatz einer RC - Theorie und Kritik an derselben durch Ilja Srubar, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106839
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